Klaus Bartl
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Last Statements
Vielen Dank. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich den Antrag gelesen habe, dachte ich zunächst, ich wäre im falschen Film. Es ist gerade reichlich zwei Monate her, Kollege Wippel, als unsere Fraktion am 13. März 2019 eine Aktuelle Debatte auf die Tagesordnung gesetzt hat, die eine besonders prägnante Aktion politisch hoch motivierter Weisungsrechtshandhabung zum Gegenstand hatte, nämlich die durch den Generalstaatsanwalt gegenüber den Staatsanwältinnen und Staatsanwälten in Sachsen erlassene Rundverfügung. Diese bewusste Rundverfügung, die nach wie vor inhaltlich nicht bekannt, sondern geheim ist, war mit „Verschärfter Strafverfolgungskurs“ überschrieben. Das war die Anordnung.
Dass es etwas Politisches war, ist schon deshalb eindeutig, weil der Fakt der Rundverfügung am 14. Februar 2019 in einer gemeinsamen Pressekonferenz des Justizministers und des Generalstaatsanwalts vorgestellt wurde, wiederum mit der Überschrift „Schärfere Strafverfolgung für mehr Sicherheit in Sachsen“. Dass dies hochpolitisch
angebunden war, ist weiter dadurch bewiesen, dass der Herr Ministerpräsident in der Aktuellen Debatte selbst in die Bütt ging und kurzerhand bekannte, dass das Vorgehen des Generalstaatsanwalts der Linie der eigenen Regierung entspreche. Wörtlich der Ministerpräsident – ich zitiere –: „Wir stehen in der Pflicht vor den Menschen in diesem Land, den Rechtsstaat zu gewährleisten. Dafür braucht die Justiz, braucht die Polizei, brauchen die Gerichte die Instrumente von uns, die sie dafür haben müssen“, nachzulesen im Protokoll der 88. Sitzung vom 13. März, Seite 8626.
Dass es eine Weisung war, die auf konkrete Rechtsanwendung abzielte, dürfte ebenso außer Streit stehen: eine Weisung qua Rundverfügung, die bis zur Anordnung von Rechtsanwendungsparametern durch die Staatsanwaltschaft im materiellen und im formellen, im prozessualen Recht ging.
Der Redner Ihrer Fraktion, Herr Kollege Wendt, startete in dieser Debatte mit den Worten – Zitat –: „Glückwunsch an das Justizministerium und den Generalstaatsanwalt, dass rechtzeitig im Wahljahr harte Kante gegen Kriminelle gezeigt werden soll!“
Im März befeiern Sie die komplexe politische Weisung des Generalstaatsanwalts mit ministeriellem Segen an die Staatsanwälte im Land. Nun kommen Sie im Mai mit einem Antrag um die Ecke, mit dem Sie das politische Weisungsrecht abschaffen wollen.
(Beifall bei den LINKEN –
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Vor zweieinhalb Monaten, am 29. Januar dieses Jahres, entschied das Bundesverfassungsgericht mit seinem Bericht zu Aktenzeichen 2BVC 62/14, dass der Ausschluss von Personen von Wahlen zum Deutschen Bundestag, die in allen ihren Angelegenheiten einen Berufsbetreuer zur Seite gestellt bekommen haben, genauso wie der von Straftätern, die sich wegen festgestellter Schuldunfähigkeit in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt bzw. im Krankenhaus befinden, dem sogenannten Maßregelvollzug, nicht im Einklang mit dem Grundgesetz steht.
Auf eine entsprechende, nach dem geltenden Bundesrecht zulässige, auf die Verletzung subjektiver Rechte bei der letzten Bundestagswahl gerichtete Wahlprüfungsbe
schwerde von acht Beschwerdeführenden gegen den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 9. Oktober 2014 erklärte das Bundesverfassungsgericht die Normen des § 13 Nr. 2 sowie § 13 Nr. 3 Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig. Erstere genüge „den Anforderungen an gesetzliche Typisierungen nicht, weil der Kreis der von der Regelung Betroffenen ohne hinreichenden sachlichen Grund in gleichheitswidriger Weise bestimmt wird“. § 13 Nr. 3 Bundeswahlgesetz sei, wieder das Verfassungsgericht, „nicht geeignet, Personen zu erfassen, die regelmäßig nicht über die Fähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess verfügen.“
Damit bleibt gemäß der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzig § 13 Nr. 1 als verfassungskonformer Wahlrechtsausschlussgrund bestehen, nämlich der Wahlrechtsverlust infolge eines Richterspruchs. Nach § 45 Abs. 5 des Strafgesetzbuches kann das Gericht einem Verurteilten für die Dauer von zwei bis zu fünf Jahren das Recht, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder zu stimmen, aberkennen, soweit es das Gesetz besonders vorsieht. Ein solcher Verlust des Stimmrechts erfolgt zumeist aufgrund schwerer politischer Straftaten, wie der Vorbereitung eines Angriffskrieges, Hochverrat oder der Fortführung einer für verfassungswidrig erklärten Partei.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war unserer Meinung nach überfällig. Sowohl das Grundgesetz als auch die sächsische Landesverfassung gewähren jedem volljährigen deutschen Staatsbürger bzw. EU-Bürger bei – jeweils nach der Ebene – Bundes-, Landtags-, Kommunal- und Europawahlen das Recht zu wählen. Artikel 29 der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 unmittelbar rechtsverbindlich für die Bundesrepublik Deutschland gilt, garantiert Menschen mit Behinderung die gleichberechtigte Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben. In diesem Kontext ist es unverständlich, warum Menschen mit Berufsbetreuung in allen Angelegenheiten von Wahlen ausgeschlossen sind, während Demenzkranke zum Beispiel, bei denen eine Vorsorgevollmacht der Angehörigen besteht, jedoch ihr Wahlrecht trotz zumeist auch hier stark eingeschränkter intellektueller kognitiver Fähigkeiten wahrnehmen dürfen.
Solche Einschränkungen dürfen kein Grund für einen Wahlrechtsentzug sein und sie sind es in vielen Ländern Europas mit Ausnahme der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht. Auch bezüglich der bislang durch § 13 Nr. 3 Bundeswahlgesetz Ausgeschlossenen gibt es diese Ungerechtigkeit. Wenn Schuldunfähige gemäß § 20 Strafgesetzbuch statt nach § 63 in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 64 in einer Entziehungsanstalt untergebracht werden, verlieren sie das Wahlrecht nicht, obwohl die Einschränkungen der Betroffenen hinsichtlich der Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess oft ähnlich gelagert sein dürften.
Dasselbe gilt für vermindert Schuldfähige nach § 21 StGB, die ihr Wahlrecht ebenfalls weiter ausüben dürfen, wobei die Abgrenzung zur vollen Schuldfähigkeit im Einzelfall fließend sein kann. Das Bundesverfassungsgericht erkannte auch in diesem Punkt eine nicht verfassungskonforme Ungleichbehandlung.
Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts hat weitgehende Folgen und Auswirkungen für die verfassungsrechtliche Beurteilung der entsprechenden, zumeist wortgleichen Regelungen der dem Bundeswahlgesetz nachgebildeten landesgesetzlichen Wahlrechtsbestim
mungen der Bundesländer, so auch des Freistaates Sachsen. Mit seinem Beschluss und den Beschlussgründen hat
das Bundesverfassungsgericht zunächst klare Vorgaben für die Gewährleistung eines inklusiven Wahlrechts aufgestellt, der auch die Landesgesetzgebung – hier die für Sachsen – verfassungsrechtlich bindet.
Wir stehen unmittelbar vor Wahlen, am 26. Mai zu den Gemeinde- und Landkreistagen sowie zum Europaparlament und am 1. September zu den Wahlen zum 7. Sächsischen Landtag. Nach der jetzt noch geltenden Fassung des § 12 des Sächsischen Landeswahlgesetzes, dem § 16 Abs. 2 der Sächsischen Gemeindeordnung und dem § 14 Abs. 2 der Sächsischen Landkreisordnung würde bzw. wird in den bevorstehenden Wahlen exakt der Personenkreis, dem nach Feststellung des Bundesverfassungsgerichtes vom Januar dieses Jahres verfassungs- und behindertenrechtskonventionswidrig das Wahlrecht vorenthalten wird, wieder von der Teilnahme an der Wahl ausgeschlossen. Jede und jeder dieser betroffenen Bürgerinnen und Bürger, die wieder nicht wählen dürfen, weil sie für die Besorgung aller ihrer Angelegenheiten einen Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt bekommen haben oder weil sie sich aufgrund einer Anordnung nach § 63 in Verbindung mit dem § 20 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus befinden, können dann Wahlbeschwerde einlegen. Wie viele das unter dem Aspekt tun, dass es jetzt durch dieses Urteil dafür einen Impuls gibt, ist schwer abzusehen.
Wir wollen deshalb mit diesem Gesetz mehr oder weniger dafür sorgen, dass der Freistaat Sachsen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Handlungsaufforderung sieht und umsetzt sowie eine Novellierung der Regelungen zum Sächsischen Wahlgesetz, zur Sächsischen Gemeindeordnung, zur Sächsischen Landkreisordnung und konsequenterweise natürlich auch zum Sächsischen Gesetz über Volksantrag, Volksbegehren und Volksentscheid entsprechend vornimmt. Für die Plebiszite gilt also auch, dass bis dato der Personenkreis, der analog § 13 Nr. 2 und § 13 Nr. 3 des Bundeswahlgesetzes ausgeschlossen ist, hier auch nicht teilnehmen darf.
Um den bis dato benachteiligten Personenkreis nicht weiter auszuschließen und die im Artikel 29 der UN
Behindertenrechtskonvention, die seit 26. März 2009 für Deutschland unmittelbar und verbindlich gilt, garantierten Rechte für Menschen mit Behinderung auf Teilhabe am politischen Leben und anderem durchzusetzen, müssen wir jetzt, eigentlich im Eilverfahren für die Kommunalwahlen, spätestens aber nach unserer Überzeugung für die Landtagswahlen entsprechende Rechtsveränderungen an unseren eigenen Gesetzen im Freistaat Sachsen vornehmen. Dass es schwierig und nicht mehrheitsfähig sein wird, das noch für die Kommunalwahlen zu bewerkstelligen, ist logisch einzusehen, aber wir meinen, dass mindestens der Anspruch des Hohen Hauses bestehen sollte, dass wir bezüglich der Wahlen zum 7. Sächsischen Landtag eine Rechtslage herbeiführen, die jetzt noch laufende willkürliche Ungleichbehandlung beseitigt.
Details, wie sie in den Regeln vorgesehen sein sollen, würden wir im weiteren Beratungsgang darlegen bzw. sie ergeben sich aus der Gesetzesbegründung. Ich bitte jetzt zunächst um Ihre Zustimmung für die Überweisung unseres Gesetzentwurfs an den Verfassungs- und Rechtsausschuss – federführend – und – mitberatend – an den Innenausschuss sowie an den Ausschuss für Soziales, Verbraucherschutz, Gleichstellung und Integration.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Natürlich haben wir noch etwas zu sagen.
Kollege Anton, zunächst einmal bin ich immer wieder überrascht, wie Funktionen Menschen verändern, auch im Wesen verändern: ein ganz neuer Kollege Anton aus dem Erzgebirge. Damit gehe ich um.
Herr Kollege Schreiber, da müssen Sie noch ein paar Jahre auf die Weide, bevor ich mit Ihnen streite.
Die zweite Lesung eines Gesetzentwurfs zu diesem Gegenstand und von dieser Tragweite ist für eine Exegese, zu der Juristen oder Rechtspolitiker gelegentlich neigen, schlicht nicht geeignet. Allein der Versuch, die zentralen Aussagen, Inhalte und Strukturmerkmale des im neuen Sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes beinhalteten Textes den geneigten Zuhörern und Lesern innerhalb und außerhalb des Parlaments zu verdeutlichen und zugänglich zu machen, muss von vornherein scheitern.
Schon dieser Gesetzentwurf, der den Gegenstand von Artikel 1 bildet und der zusammen mit dem Sächsischen Polizeibehördengesetz nach Artikel 2 künftig das bis dato noch geltende Sächsische Polizeigesetz aus dem
Jahr 1999 ablöst, umfasst 100 Paragrafen zum allgemeinen Polizeirecht und nochmals etwa 50 Paragrafen zum
Datenschutzproblem. Die im Zuge der mehr als sechsmonatigen Behandlung des am 18.09.2018 von der Staatsregierung in den Geschäftsgang eingebrachten Entwurfs in die Ausschüsse einschließlich der zwei mehr oder weniger fragmentarischen, allein auf das Polizeivollzugsdienstgesetz gerichteten Anhörungen sowie das, was durch unzählige eingereichte Stellungsnahmen von Institutionen, Verbänden, Vereinen, Initiativen und Einzelsachverständigen hinzugekommen ist, füllt Bände. Ich bin davon überzeugt, dass das die gerichtlichen Instanzen im Freistaat Sachsen und auch die Bundesebene, also nicht nur das Verfassungsgericht, beschäftigen wird. Das wird beispielsweise auch bei der Öffnung des Bereichs der vorgezogenen Gefahrenverfolgung zu für die Gerichte ganz neuen Rechtsstreitigkeiten führen. Sie werden sich noch umschauen! Und Herr Staatsminister Gemkow, Sie werden personell neu planen müssen.
Ich konzentriere mich deshalb in meinem Redebeitrag auf die an sich für jeden verständigen Gesetzgeber zentrale Frage, ob das, was uns heute in Gestalt einer 187 Seiten ausmachenden Beschlussempfehlung nebst Bericht des federführenden Innenausschusses vorliegt, bedenkenfrei oder wenigstens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in überschaubarer Zukunft – das ist ungefähr die Konnotation, die Sie zu dieser Begrifflichkeit haben – verfassungsrechtlich hält. Ich antworte Ihnen in Ergänzung meines Kollegen Stange oder auch als Erwiderung auf Herrn Lippmann: Niemals!
Das beginnt schon bei der Tatsache, dass die in § 10 des Polizeivollzugsdienstgesetzes aufgeführten Einschränkungen von Grundrechten – sieben an der Zahl: Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Grundrecht auf die Freiheit der Person, Wahrung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses, Freizügigkeit, Versammlungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung sowie das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das Artikel 33 der Verfassung des Freistaates Sachsen eigens erwähnt, währenddessen nach der Grundrechtsordnung des Bundes ein durch Rechtsprechung abgeleitetes Grundrecht vorgesehen ist – schon erfolgen, ohne dass die durch Artikel 19 Abs. 1 und 2 Grundgesetz vorgegebenen Schranken eingehalten werden, die da unter anderem lauten, dass der Bestimmtheitsgrundsatz, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Wesensgehaltsgarantie tatsächlich gewahrt sind. Und das ist die entscheidende Frage!
Sie drücken sich um diese Frage. Bei jeder Norm, die Sie haben – ich weiß nicht, inwieweit Sie alle erfasst haben – drücken Sie sich darum, diese Schranken und Voraussetzungen überhaupt mit Ihrem Gesetzentwurf zu vergleichen. Die Debatte darüber, genau das zu tun, war in den Ausschusssitzungen nicht möglich.
Weil man sich dafür überhaupt keine Zeit genommen hat.
In meinem Ausschuss – –
Mein Kollege Stange hat doch völlig recht: In unserer demokratischen Verfassung und Rechtsordnung sind Eingriffe in die grundlegenden Freiheits- und Gleichheitsrechte, die den Individuen gegenüber dem Staat mit Verfassungsrang zugestanden werden, nur zulässig, wenn sie gesetzlich bestimmt, erforderlich und verhältnismäßig sind.
Das von Ihnen, Herr Staatsminister Prof. Dr. Wöller, vor einigen Tagen verkündete und so gefeierte softe Kriminalitätslagebild und die ansonsten von der Staatsregierung vortragbaren validen Erkenntnisse zu tatsächlichen Gefährdungslagen geben es nicht her, in dieser Art und Weise in diese Grundrechte einzugreifen. Das ist das Problem. Sie programmieren mit Ihrem Gesetz – damit ist nicht nur Artikel 1 gemeint – auf vager Eingriffsgrundlage nicht nur reine Gefahrenerforschungsmaßnahmen, sondern auch handfeste Einschränkungen der persönlichen Freiheit.
Sie nehmen einen generellen Paradigmenwechsel vor, indem die für das Gefahrenvorfeld vorgesehenen Maßnahmen nicht nur – wie es das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil von 2016 zur Voraussetzung gemacht hat – der weiteren Aufklärung des gesamten Gefahrensachverhaltes durch Überwachung einzelner Personen dienen sollen, nein, Sie greifen direkt in den Kausalverlauf ein und beschneiden durch Fußfesseln, Aufenthaltsanordnungen, Kontaktverbote, Meldeauflagen, Ingewahrsamnahme, anlassunabhängige Kontrollen und vieles mehr die Fortbewegungsfreiheit, die Privatsphäre und die Freiheit der Person, bevor überhaupt eine konkrete Gefahr vorliegt. Das ist das ganz Neue! Bis zum 31.12., falls das alte Polizeigesetz dann noch gilt und Sie nicht schnell noch das neue durchbringen wollen, muss eine konkrete Gefahr vorliegen. Das alles ist für Sie jetzt „out“.
Tatsächlich liegt die Verfassungswidrigkeit dieses Gesetzentwurfs schon im Grundansatz, indem Sie die Konturen des rechtsstaatlichen eingehegten Polizeirechts, für das bislang immer konkretisierte Gefahrenprognosen und personale Zuordnung von Verantwortlichkeiten unverzichtbar waren, durch diffuse neue Gefahrenbegriffe die „drohende“ Gefahr und die Ausweitung des zulässigen Eingriffs in die Freiheit Unbeteiligter auflösen.
Solange sie keine Diffamierungen meiner Rede enthält, bin ich einverstanden.
Ja. Diese ist auch verfassungsrechtlich genau definiert. Hier geht es um die Problematik, dass Sie von einer „drohenden Gefahr“ in einer „überschaubaren Zukunft“ reden.
Können Sie genau erklären, was der Unterschied zwischen einer drohenden Gefahr und einer Gefährdungslage ist? Genau das ist doch das Problem: Entweder hat man eine Gefahr und darf dann polizeilich handeln, oder es gibt noch keine Gefahr, man denkt aber als Polizist, dass eine Gefahr drohen könnte, und handelt trotzdem schon. Genau das macht doch den Unterschied aus!
Na sicher macht das den Unterschied aus!
In dem Rechtsstaat, den Sie mit diesem Gesetz auf den Weg bringen wollen, weiß eben nicht mehr jeder Mensch, durch welches Verhalten sie oder er sich strafbar machen bzw. polizeiliche Maßnahmen zur Gefahrenabwehr auslösen kann. Durch die mit diesem Gesetzentwurf in vielerlei Hinsicht geschaffenen unbestimmten Eingriffsschwellen ist ein wichtiger Teil des Rechtsstaatsgebotes aus Artikel 6 EMRK, aus Artikel 20 Abs. 3, aus Artikel 103 Grundgesetz sowie aus Artikel 3 unserer eigenen Verfassung nicht mehr gewährleistet. Das ist meine feste Überzeugung. Dabei bin ich auch frohen Mutes, dass wir nicht umsonst zum Sächsischen Verfassungsgericht nach Leipzig fahren.
Im Zuge der Expertenanhörungen zum Gesetzentwurf, in den Fachausschüssen sowie in zig außerparlamentarischen Gremien ist so viel dazu gesagt und beklagt worden. Es ist doch nicht so, Herr Kollege Pallas, dass wir nicht hingehört hätten. Ich glaube schon, dass Sie versucht haben, in irgendeiner Form für Hinweise empfänglich zu sein. Ist denn aber darunter nicht auch irgendein Hinweis, der nicht von Sachverständigen kam, die Ihre Koalition benannt hat, in hinreichender Weise beachtet worden?
(Albrecht Pallas, SPD: Jeder Hinweis! Jedes einzelne Statement haben wir untersucht und beleuchtet! Was Sie uns hier unterstellen, ist eine absolute Frechheit!)
Wo Sie leuchten, weiß ich nicht, aber ich merke hier nichts davon.
Ich muss es doch hier in der Beschlussempfehlung sehen, zum Beispiel in Form eines Änderungsantrags. Wenn Sie es nur untereinander geklärt haben und dabei nicht unter einen Hut kamen, sodass die Beschlussempfehlung deswegen im Original belassen wurde, nützt es mir nichts.
Weil Sie jeden Änderungsantrag, den DIE LINKE bringt, sofort annehmen – und das seit 1990!
Aufmerksame Verfassungsexperten haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Verfolgungsvorsorge, die sich durch den gesamten Gesetzentwurf zieht, nicht nur bei den Aufgaben, sondern auch bei den Befugnissen im konträren Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2005 zum Niedersächsischen Polizei- bzw. Sicherheits- und Ordnungsgesetz steht. Das Bundesverfassungsgericht hat dabei wiederholt klar herausgearbeitet, dass die Verfolgungsvorsorge „eine vorgezogene Repression, sprich: Strafverfolgungstätigkeit darstellt“. Verfolgungsvorsorge ist vorgezogene Repression, also Strafverfolgungstätigkeit!
Wenn Sie Bestandteile des Handlungskompendiums aus der StPO in das Gefahrenabwehrrecht übernehmen, dann machen Sie dort genau das: vorgezogene Repression und Strafverfolgungstätigkeit! Genau dort liegt unser Streitpunkt, dass Sie sich weigern, Argumente anzunehmen. Trotz der gravierenden Hinweise durch den Sachverständigen Prof. Dr. Clemens Arzt vom Fachbereich Polizei- und Sicherheitsmanagement von der HWR Berlin, zugleich Direktor des Forschungsinstituts für öffentliche und private Sicherheit Berlin, in der Expertenanhörung am 12. November 2018, doch wenigstens zu prüfen, inwieweit Sie mit dem Regelungsansatz des Gesetzentwurfes in den Kompetenzbereich des Bundes geraten respektive in den Bereich, wo der Bund schon von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht hat, hatten Sie dafür überhaupt keine Empfänglichkeit.
In einer atemberaubenden Borniertheit überhören Sie auch alle aus den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen und Kompetenzfeldern bis hinein in die jüngste Zeit kommenden Proteste, Kritiken und auch wohlgemeinten Hinweise, so etwa die des Sächsischen Anwaltsverbandes e. V., der in seiner aus eigenem Anlass gesehenen Notwendigkeit, sich zu Wort zu melden, in seiner Stellungnahme vom 15. Februar 2019 an den Innenausschuss sowie den Verfassungs- und Rechtsausschuss mit großer Sachlichkeit speziell den Polizeivollzugsdienstentwurf auseinandergepflückt hat unter der Betonung, dass dem Freiheitsbedürfnis und dem Grundrechtsschutz der Bürger natürlich stets auch das Erfordernis einer
effektiven Gefahrenabwehr gegenübersteht. Jawohl, das ist so.
Das ändert sich auch in Zeiten, das gebe ich zu. Das hat sich seit Mitte der 90er-Jahre geändert. Aber dann mahnt der Anwaltsverband genauso an, dass gerade im Bereich des Polizeirechts der Ausgleich dieser im Rechtsstaatsprinzip verankerten, in der praktischen Anwendung dieser regelmäßig im Widerstreit und im Spannungsverhältnis stehenden Schutzgüter der Abwehr und der Grundrechte mit Augenmaß und einer Auslegung, orientiert an den verfassungsrechtlichen Grundsätzen und der Bestimmtheit sowie der Verhältnismäßigkeit der Rechtsgrundlagen erfolgen muss.
Herr Modschiedler, das ist aber nicht mein Problem. Dann haben wir unterschiedliche Universitäten besucht oder sind jetzt auf unterschiedlichen Fachgebieten unterwegs.
Wir haben in dem Ausschuss dringend darum gebeten – ich beantworte jetzt Ihre Frage –, doch einmal ganz kurz einzuhalten und zu sagen: Passt auf, wir haben beim Bundesverfassungsgericht die Normenkontrollklage von drei Fraktionen – FDP, LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – gegen das Bayerische Polizeigesetz anhängig. Wir haben gegen andere Ländergesetze Anhängigkeiten von Normenkontrollklagen bei anderen Verfassungsgerichten. Warten Sie doch einmal einen Moment ab, was diese dann zu den analogen Streitpunkten entscheiden. Es steht immer der gleiche Wortlaut darin. Bei jeder Frage, die ich als Vorsitzender stelle, bietet mir mein Kollege Modschiedler schon einmal die Stirn und fragt immer: „Herr Bartl, sind Sie nun der Vorsitzende?“
Dann geben Sie mir die Chance: Wir verweisen das zurück in den Ausschuss.
Dann nehmen wir uns die Tage, und dann gibt es ein Privatissimo, dann machen wir die Exegese. Dann bin ich dabei, ich mache es auch gerne mit Ihnen über Ostern, überhaupt kein Problem. Sie haben wir schon beigebogen, nicht einmal den Änderungsantrag, den Sie gestellt haben, Paragraf für Paragraf abzustimmen, sondern nur im Ganzen, damit wir fertig werden.
Jetzt einmal in aller Ruhe, damit wir die Kirche halbwegs im Dorf lassen.
Selbstverständlich, mit großer Leidenschaft, Herr Kollege Pallas.
Ich bin noch beim Anwaltsverband; ich bin noch bei der Beantwortung der Frage.
Ganz zu Recht nimmt der Anwaltsverband dabei unter Generalkritik, dass die den Gesetzentwurf beherrschende Tendenz, gefahrenabwehrrechtliche Befugnisse der Polizei massiv auszubauen, hinter dem Ehrgeiz und der Bereitschaft des Gesetzgebers zurückbleibt, dann die Bürgerinnen und Bürger auch mit effektivem Rechtsschutz auszustatten.
Noch einmal: Der Anwaltsverband sagt: Jawohl, Gefahrenabwehr ist notwendig, und Grundrechte sind da, und bringt das irgendwie in Ausgleich. Er sagt dann: Wenn ihr mehr Eingriffe macht, dann müsst ihr auch mehr Möglichkeiten zum effektiven Rechtsschutz schaffen.
Moment! Der Anwaltsverband hat völlig recht. Ich bin einmal gespannt, Herr Kollege Pallas, was Sie jetzt erinnern. Der Anwaltsverband hat doch völlig recht, dass es ein Anachronismus ist, dass jeder einer Straftat dringend Verdächtige, der auf der Grundlage des § 112 StGB in Untersuchungshaft genommen wird, von Stund an einen Verteidiger zur Seite haben muss, sei es einer, den er selbst gewählt hat oder einer, den ihm das Gericht als Pflichtverteidiger beiordnet. Fachlich nennt sich das notwendige Verteidigung § 140 Abs. 1 Ziff. 4 StPO.
Das Gleiche gilt auch für die Entscheidungen über die Anordnung der Fortdauer einer Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus, dass heißt in Fällen, bei denen es wie bei polizeilichen Präventivmaßnahmen nicht auf eigenes Verschulden ankommt. Werden aber künftig Personen nach § 14 Abs. 2 oder § 15 Abs. 2 Satz 2 dieses Entwurfs festgehalten oder gar nach § 22 des neuen Polizeivollzugsdienstgesetzes in Gewahrsam genommen, etwa weil dies zur Durchsetzung von Aufenthaltsanordnungen, Kontaktverboten, Wohnungswegweisungen usw. oder in Ermessenausübung von Polizeibeamten als erforderlich erscheint, erfolgt eine solche Beiordnung eines anwaltlichen Beistandes aus Gründen der von vornherein eingriffsintensiven Maßnahmen des Freiheitsentzuges eben nicht. Der Gewahrsam kann bis zu 14 Tage dauern. Er kann dazu führen, dass der Betreffende den Beruf verliert, dass es eine familiäre Krise gibt, dass Einkommensverluste usw. entstehen, dass er Ansehensverluste in seinem Umfeld erleidet. Er hat aber in dem Fall nicht einmal den Anspruch, dass er einen Anwalt beigeordnet bekommt. Der Straftäter mit dringendem Tatverdacht aber kriegt‘s.
Was das Gesetz jetzt regelt, ist, dass er zu belehren ist, dass er einen Bevollmächtigten wählen darf; das ist schon einmal mehr als nichts. Allerdings steht darin auch, dass das nur gemacht werden darf, wenn dadurch der Zweck des Gewahrsams nicht gefährdet wird.
Überlegen Sie doch einmal einen Moment, wir hätten in der Strafprozessordnung eine Regelung, dass der Beschuldigte, der Inhaftierte den Anwalt kontaktieren und bestellen darf, wenn der Zweck des Verfahrens nicht gefährdet ist. Wir würden bundesweit, europaweit oder weltweit als Unrechtsstaat gelten, und hier machen Sie es!
Die Ausdehnung auf 14 Tage ist neu. Die Anlassgründe sind gänzlich geändert; das wissen Sie doch selbst. Wir hatten doch bis zu diesem Zeitpunkt keine Aufenthaltsanordnungen als Anlassgrund. Wir hatten die Kontaktverbote nicht als Anlassgrund, ebenso die Wohnungswegverweisungen nicht. Ich gebe doch gern zu, wir können – –
Na, selbstverständlich. Die Anlassgründe, die Sie jetzt für den Gewahrsam nehmen, und die Ausdehnung auf bis zu 14 Tage sind im Kontext mit dem Ansatz im Vorfeld konkreter Gefahr natürlich neu.
Das geht so nicht. Freiheitsentziehung ist Freiheitsentziehung, und ein Gewahrsam bis zu 14 Tage kann zu gravierenden Nachteilen führen. Das ist ganz eindeutig zu sagen und abzukürzen.
Weiter hat der Anwaltsverband völlig recht, wenn er kritisiert, dass es bei den Meldeauflagen bei § 20 dieses PDVG-Entwurfs an rechtsstaatlich gebotenem Augenmaß fehlt, weil deren Anordnung weder das Vorliegen einer konkreten oder abstrakten Gefahr voraussetzt, während das Bundesverwaltungsgericht als Maßstab für die Beschränkung der Freizügigkeit vorgegeben hat – Zitat –: „Das Recht der Gemeinschaft auf Schutz lebenswichtiger
Belange muss empfindlich berührt sein.“ Das ist das Kriterium des Bundesverwaltungsgerichts. Dass man wegen abstrakter oder konkreter Maßnahmen die Beschränkung der Freizügigkeit vornehmen kann, dieses Merkmal ist bei Ihnen völlig außen vor. Die Rechtsprechung eines bundesdeutschen Obergerichts ist völlig außen vor. Ich möchte wissen, warum Sie dann die Backen so aufblasen.
Ebenso betrifft das die Berechtigung der Kritik an der unverhältnismäßigen Ausweitung der polizeilichen
Befugnisse durch die Aufenthaltsanordnungen, das Kontaktverbot bis zu drei Monaten nach § 21, was ebenso eine völlig unverhältnismäßige Beschränkung der Freizügigkeit und der allgemeinen Handlungsfreiheit darstellt, wie die Anwendung der elektronischen Fußfessel als rein präventive Gefahrenverhütungsmaßnahme ohne Gefährdungseingriffsgrund. Hierin liegt es doch wieder: Sie haben keine konkrete Gefahr, Sie haben nicht einmal die abstrakte Gefahr. Sie denken nur, es könnte eine wahrscheinliche Gefahr geben, dann kriegt der Betreffende die Fußfessel. Das ist es doch, wozu ich sage: Wie soll denn das im Maßstab der bisherigen Rechtsprechung halten? Ich bin schon so lange im Geschäft und wundere mich immer wieder, mit welcher Erhabenheit – ich könnte auch sagen: Borniertheit – Sie derartige Vorschriften völlig übergehen.
Meine Damen und Herren von der Koalition, die für diesen Gesetzentwurf fechten, erfassen Sie wenigstens in Näherung, von welcher Tragweite der Vorwurf zum Beispiel der Sächsischen Landesärztekammer oder der Ostdeutschen Psychotherapeutenkammer, vorgetragen in einem irrigerweise an den Herrn Innenminister gerichteten Schreiben vom 20. Februar, ist, wenn in diesem Schreiben eben bezüglich der in § 77 Abs. 3 des Polizeivollzugsdienstgesetzes enthaltenen Regelungen zum
Schutz zeugnisverweigerungsberechtigter Personen festgestellt wird, dass dies das Arzt-Patienten-Vertrauensverhältnis im Kern aushebelt.
Das schreibt Ihnen die Ärztekammer – und deren Präsident wiederholt dies vor wenigen Tagen – am 5. April 2019, in Kenntnis Ihres Änderungsantrags. Nebenbei bemerkt:
Das steht dem ärztlichen Gelöbnis des Weltärztebundes und der Genfer Deklaration in der Fassung der 68. Generalversammlung des Weltärztebundes vom
Oktober 2017 entgegen. Ärzte müssen geloben, ihr medizinisches Wissen stets im Einklang mit den Menschenrechten und den bürgerlichen Freiheiten der Patienten einzusetzen.
Deshalb muss gewahrt sein, dass für den geschützten Raum der Arztpraxis das Berufsgeheimnis gilt. Das haben sie Ihnen doch – aber wirklich zu Herzen gehend – aufgeschrieben. Dass Sie das nicht in irgendeiner Form dazu bringt, zu fragen: Muss ich denn tatsächlich – nicht bei der Kriminalitätsbekämpfung, sondern in deren
Vorfeld – bei der vermeintlichen Gefahrenabwehr ins ärztliche Berufsgeheimnis und in die ärztliche Schweigepflicht hineinharken? Das begreife ich nicht.
Es interessiert Sie überhaupt nicht, dass Sie damit die gesamten genannten Berufsgruppen auf den Plan rufen. Ihre halbseidene Neuregelung haben Sie vorhin erwähnt. Über den Änderungsantrag in den Ausschüssen behandeln Sie hinsichtlich der Reichweite des Zeugnisverweigerungsrechts der Berufsgeheimnisträger – § 53 und 53 a der Strafprozessordnung – die Geheimnisträger gleich.
Aber im Gefahrenabwehrrecht, also allenfalls im kriminellen Vorfeld, differenzieren Sie, nämlich zwischen Geistlichen, Verteidigern und Abgeordneten zum einen – diese haben den Vollschutz – und zum anderen Ärzten, Zahnärzten, Psychologischen Psychotherapeuten, Rechtsanwälten, Patentanwälten, Notaren, Apothekern, Hebammen, Beauftragten von anerkannten Beratungsstellen nach dem Schwangerschaftskonfliktgesetz, Suchtberatungsstellen und anderen Sozialarbeitern. Sie differenzieren zwischen diesen beiden Gruppen, zwischen denen der bundesdeutsche Gesetzgeber in der Strafprozessordnung nicht differenziert. Das allein ist schon ein – –
Aber die Terrorismusbekämpfung – – Schlafen Sie denn mit dem Ding unter dem Kopfkissen, oder haben Sie es einmal gelesen?
Noch einmal: Bei allem Respekt, Herr Kollege, es kann doch nicht sein, dass Sie auf diesen Vorhalt mit dem BKA-Gesetz reagieren. Das war ein – –
Dieses Urteil haben viele, viele Verfassungsrechtler in dieser Republik schon längst als einen fatalen Fehltritt interpretiert; das wissen Sie. Damit ist die Büchse der Pandora geöffnet worden.
Daran haben die Damen und Herren in der roten Robe mit Sicherheit nicht gedacht, dass wir in Sachsen das irgendwann einmal im Gefahrenabwehrrecht haben oder – was wir gestern behandelt haben – im Strafvollzugsrecht. Dort haben Sie jetzt auch schon eine „drohende Gefahr“ enthalten – und im Datenschutz. Das ist gestern auch installiert worden. Das Ding marschiert doch durch.
Es interessiert Sie überhaupt nicht, dass Sie damit die gesamten genannten Berufsgruppen auf den Pelz bekommen. Die Wirtschaftsberaterkammer, der Journalistenverband, der Landesarbeitskreis Mobile Jugendarbeit – alle protestieren energisch und schildern aus ihrer Sicht ihre Betroffenheit ganz konkret – ohne dass Sie in der Zeit zwischen den Zuschriften und der heutigen Vorlage der Beschlussempfehlung irgendetwas getan hätten.
Wahrlich, welche Kategorien von Polizeibeamten, welche Art von Superpolizisten des Alltags Ihnen vorschweben müssen, wenn Sie diesen zutrauen – – Jetzt lese ich Ihnen einmal vor, wie Sie das freihändig in der Dynamik des Alltags nach § 77 Abs. 2 geändert haben. Sie haben diesen Paragrafen jetzt geändert und folgende Abwägung hineingeschrieben, nach der sie die betreffenden Berufsgruppen jetzt vermeintlich als zweite Kategorie der Berufsgeheimnisträger einstufen, um dem entgegenzukommen.
Sie haben jetzt folgende Regelung: „Soweit durch eine Maßnahme ein Berufsgeheimnisträger gemäß § 53 Abs. 1 Nrn. 3, 3 a, 3 b und 5 StPO“ – Zwischenbemerkung: das sind eben Buchprüfer, Steuerberater, Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Suchtberater, Journalisten etc. – „voraussichtlich Erkenntnisse erlangen würden, über die diese Personen das Zeugnis verweigern dürften, ist dies im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit und der Würdigung des öffentlichen Interesses an den von dieser Person wahrgenommenen Aufgaben und des Interesses an der Geheimhaltung der dieser Person anvertrauten oder bekannt gewordenen Daten zu berücksichtigen.“
Ich möchte gern fortfahren, denn ich habe den Satz noch nicht ganz zu Ende gebracht.
Um Gottes willen, welche Polizeikrimiserien sehen Sie denn? „Police Academy“ 1 bis 4, oder was?
Das ist doch völlig unvorstellbar. Wie soll denn ein normaler Polizeivollzugsbeamter, der die Polizeifachschule in Leipzig oder in Chemnitz besucht hat, diese Subsummierung, diese Abwägungsprüfung vornehmen? Das muss ich als Strafverteidiger dreimal lesen, damit ich es einmal begreife.
Aus gutem Grund hat Ihnen deshalb auch der Herr Datenschutzbeauftragte ausgesprochen prononciert mit Schreiben vom 26. März mitgeteilt, dass die hier allein und vollständig dem handelnden Beamten auferlegte Würdigung des jeweiligen Vertrauensverhältnisses den Beamten überfordern und der Gesetzgeber schon aus Fürsorgepflicht in diesem Bereich mit hohem Konfliktpotenzial genaue Vorgaben treffen muss.
Da haben Sie nichts getan. Sie übergehen das völlig und tun hier so, also hätten Sie auf jeden Zuruf des Datenschutzbeauftragten reagiert. Das haben Sie nicht getan.
Sie greifen in das Berufsgeheimnisrecht ein, im sensibelsten Bereich, und haben nicht einmal in Näherung eine Sicherheit, dass man dies so halten kann.
Selbstverständlich.
Nein.
Ja, wir werden ins Protokoll schauen.
Für die Fassung, die Sie jetzt mit dem Änderungsantrag vorgelegt haben, gelten nach meiner Auffassung nach wie vor die Einwendungen.
Ich habe es Ihnen doch gerade vorgetragen, Herr Kollege Pallas.
Ich habe noch das Wort, Frau Präsidentin?
Herr Kollege Pallas, Sie sind Polizeibeamter, ein engagierter, mit Expertise.
Nein, ich will Sie nicht veralbern. Sie wissen ganz genau, unter welchem Drängen, welchen Zwängen und welcher Hektik, mit Überstunden, Mehrarbeitsstunden
etc. ein Polizeibeamter im Freistaat Sachsen seinen Dienst tun muss. Stellen Sie sich doch jetzt einmal vor, da trifft er in einem Moment eine Entscheidung, in dem er meint, es liege im Interesse der Gefahrenvorsorge – nicht der konkreten Gefahr – jetzt notwendige Daten bei dem betreffenden Arzt bezüglich eines Patienten zu erheben. Dann soll er nach der von Ihnen aufgeschriebenen Bestimmung – die er dann wahrscheinlich immer mitführen muss – Ermessen ausüben? Das ist doch absurd.
Wenn er das Geheimnis verraten hat, dann hat er es verraten, Herr Kollege. Mein Gott, da kann der Richter hinterher feststellen, was er will.
Dann ist die Diagnose bei der Polizeiakte.
Nein. Noch einmal. Wenn das wirklich jetzt vom Datenschutzbeauftragten, so wie es jetzt drinsteht, gebilligt wäre, verstehe ich die Welt nicht mehr.
Nein.
Nein. Ich habe noch eine Weile zu trainieren, bis ich den Text auswendig kann. Ich will es gern versuchen. Aber jetzt von meiner Ebene her gesehen: Die Formulierung kann ein Polizeibeamter nie sachgerecht anwenden. Wie soll das gehen? Aber Sie greifen in das Berufsgeheimnis, in das Arztgeheimnis, in das Anwaltsgeheimnis etc. ein,
ins Journalistengeheimnis, ins Sozialarbeitergeheimnis – alles.
Gern, ja.
Nein, Herr Dr. Meyer, passen Sie mal auf.
Seitdem wir im Landtag sind, seit 1990, fordern wir die Öffentlichkeit der Ausschüsse – nebenbei auch BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Es gibt ja auch Länder, die das machen, Bayern zum Beispiel. Diese haben die Öffentlichkeit der Ausschusssitzungen,
weil sie nämlich sagen, Parlamentsarbeit ist res publica.
Die Bürgerin, der Bürger soll die Möglichkeit haben, am Prozess der Erkenntnisgewinnung seiner Volksvertreter teilzuhaben.
Wir haben dazu Anträge gestellt, nicht nur zur Geschäftsordnung, sondern sogar formelle Anträge. Sie haben die Anträge, das in öffentlicher Sitzung zu machen, alle abgelehnt.
Jetzt müssen Sie sich schon gefallen lassen, dass ich res publica dann im Plenarsaal versuche. Exegese geht nicht. Ich kann es im Detail nicht vermitteln, aber ein paar Schlaglichter zum extremsten Teil bringen. Das steht auch den Wählerinnen und Wählern, den Bürgerinnen und Bürgern, denen, auf die Ihr mit dem Gesetz abzielt, sehr wohl zu.
Das ist meine feste Überzeugung.
Die Zeit müssen Sie sich nehmen, Herr Dr. Meyer.
Ich berufe mich nochmals auf meine Berufskollegen vom Anwaltsverband Sachsen, die summa summarum das neue Polizeigesetz mit den Worten bewerteten – Zitat –: „Im Allgemeinen greift auch der Freistaat Sachsen die
Tendenz zur polizeilich-rechtlichen Low-and-Order
Politik auf Kosten der Freiheitsrechte auf.“
Dieses Prinzip und die Kategorie der „Sicherheitsgefühle“, die auch heute wieder eine Rolle spielte, wie sie auch in den letzten Tagen der Ministerpräsident in Hülle und Fülle gebracht hat, diese Kategorie der Null-ToleranzKonstellation, war einmal Gegenstand einer Doktorarbeit einer Doktorandin an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität im Jahr 2007. In dieser Doktorarbeit heißt es: „Was konkret unter diesem Begriff Sicherheitsgefühl zu verstehen und inwieweit hierin ein rechtlich fassbarer Terminus zu sehen ist, bleibt in der Diskussion um die innere Sicherheit offen. Demzufolge ist zweifelhaft, inwieweit dem Sicherheitsgefühl die Eigenschaft eines durch den Staat zu schützenden Rechtsgutes zukommen kann.“
Weiter heißt es: „Das Polizeirecht verlangt das Vorliegen einer konkreten Gefahr zur Rechtfertigung eines Eingriffs, auch wenn dieser der Prävention von Unsicherheiten und Furcht dient. Über das Bestehen einer konkreten Gefahr hinausgehende Bedrohtheitsgefühle in der Bevölkerung sind durch Informationen auszuräumen. Eingriffsmaßnahmen, die nur der Abwehr solcher irrationalen Ängste dienen, sind grundsätzlich unverhältnismäßig.“ Das genau ist die Ansage.
Deshalb – lange Rede, kurzer Sinn, meine Damen und Herren – –
Sie haben mich mit allen möglichen Anfragen über zwei Gläser Wasser gebracht.
Jetzt noch ein ernstes Wort zum Ende. Das sage ich wirklich mit großem Ernst: Ich komme aus einer Vita, einer Biografie, die mir Herr Schreiber, mit allem, was er davon weiß, immer wieder zuruft und in der ich Anteil an einer falschen Sicherheitspolitik hatte. Ich habe einen lang andauernden und quälenden Prozess durchlebt, in dem ich das alles aufzuarbeiten hatte. Ich sage Ihnen, ich habe nie gedacht, dass ich 28 Jahre später wieder in einem Parlament stehe, das klipp und klar beschließen will, dass die Sicherheitsinteressen, die Sicherheitspolitik, die Sicherheitsgefühle, die Sicherheitslage vor den Grundrechten stehen.
Genau diese Umkehrung, das weiß mein Kollege Schiemann, das weiß Kollege Colditz, das, was Sie hier machen,
was Sie hier veranstalten, hätten Sie 1993, 1994 und 1997 unter dem Eindruck der Wende und der Versprechen vor der Wende nie machen können.
Den Rest mache ich über Leipzig.
Ich komme aus einer Entwicklung, Herr Kollege, die damals als Mitarbeiter der ersten frei gewählten Volkskammer begonnen hat, als es darum ging, dass man sich coram publico im Parlament bekennt, die Wahrheit sagt und Ähnliches mehr. Deshalb habe ich immer noch die Auffassung, dass das ins Parlament gehört. Hier habe ich aufzuarbeiten. – Das ist Punkt 1.
Punkt 2. Ich sage Ihnen einmal, was mir unter die Haut ging. Ich habe vorhin Frau Dr. Leiterer, die diese Promotionsarbeit geschrieben hat, nur kurz zitieren können. Sie hat in dieser Arbeit ihre große Sorge geäußert, dass es in
der Tendenz klare Absagen an das deutsche Rechtssystem gibt, wenn man zum Beispiel nach dem Law-and-OrderSystem der USA schaut. Dabei nimmt sie einen Bezug auf den Vorsitzenden des Landesverbandes der DPolG und zitiert eine Äußerung aus dem Jahr 2007: „Deutsche Polizeigesetze behindern die vorbeugende Verbrechensbekämpfung. Immer muss erst die berühmte unmittelbare Gefahr bevorstehen oder eingetreten sein, bevor die Polizei tätig werden kann. Die sogenannten Freiheitsrechte der Bürger werden höher bewertet als der Schutz vor Kriminalität. Individualrechte Einzelner und soziale Bedürfnisse kleiner Gruppen finden mehr Beachtung als die Sorgen und Nöte der Bevölkerung.“ Dazu hat die Doktorandin gesagt: Wenn das in der Republik mehrheitsfähig wird, dann haben wir eine andere Republik.
Indem Sie das tun, machen wir einen Paradigmenwechsel, den die Frau Dr. Leiterer 2007 überhaupt nicht vorgesehen hat; denn sie redet immer noch von konkreten Gefahren, die die Polizei abwehren müssen. Sie hätte mit Sicherheit damals darauf geschworen, dass im Jahr 2019 nirgendwo in der Bundesrepublik, auch nicht in Sachsen, ein Gesetz, das genau der Denkweise folgt, mehrheitsfähig wird. Das ist das Drama.
Herr Kollege Pallas, ist es richtig, dass ich gesagt habe, dass ich nie gedacht hätte, dass ich noch einmal Mitglied in einem Parlament bin, wo die Frage der Sicherheit vor den Grundrechten gilt?
Das habe ich gesagt. Ich habe überhaupt nichts verglichen –
– mit dem Rechtsstaat Bundesrepublik oder mit der ehemaligen DDR, nichts. Ich habe die Frage gestellt, ob Ihnen das bekannt ist.
Das war meine Frage. Ob Sie es so verstanden haben, wie ich es gerade gesagt habe. Ich habe gefragt, ob Sie verstanden haben, dass ich nie gedacht habe, ich arbeite noch einmal in einem Parlament, wo die Frage der Sicherheit vor der Frage der Grundrechte gilt.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Sehr geehrter Herr Kollege Pallas, Sie haben vorhin in Ihrer Rede gesagt, dass wir nicht gesagt hätten, wie wir uns – ich sage es einmal mit meinen Worten – die Anpassung der Entwicklungen an die Rechtsvorschriften des Polizeirechts vorstellen.
Wir hätten uns gut vorstellen können, dass man das Polizeigesetz, so wie es jetzt vorliegt, in der Fassung der Bekanntmachung von 1999 als Grundlage. Nebenbei bemerkt: Gegen das 93er Polizeigesetz gab es eine Normenkontrollklage, die damals die Fraktionen SPD und GRÜNE erfolgreich geführt haben. Gegen das 99er Gesetz gab es eine Normenkontrollklage, die die Fraktion PDS mit ihren 27 Abgeordneten erfolgreich geführt hat. Dort wurden zum Beispiel diese Kontrollstellen als verfassungswidrig betrachtet.
Wir haben immer versucht, an den Fragen zum Polizeigesetz mitzuarbeiten – und das unter Wahrung der Grundrechte, unter Wahrung des Prinzips, dass der Bürger, der nichts macht, den Anspruch hat, dass ihn der Staat in Ruhe lässt. Es ist die Frage zu beantworten: Was ist davon ausgehend an den Gesetzen zu ändern, weil sich Kriminalitätslagebilder, Kriminalitätsphänomene oder ähnliche Dinge mehr verändert haben?
Wir hätten mit Ihnen gern darüber gesprochen. Aber was machen Sie? Sie bringen etwas anderes. Sie bringen ganz neue Paradigmen. Sie kehren auf dem Absatz um, weg von der Tatsache, dass zunächst grundsätzlich gilt, dass der Bürger als solcher unverdächtig ist. Sie aber machen ein Konzept, mit dem der Bürger fortwährend in den Zwang gerät zu versuchen, sich von irgendwelchen Verdachtsmomenten oder drohenden Gefahren oder in künftiger Wahrscheinlichkeit zu entlasten. Das ist aber der Grundansatz.
Der Grundansatz liegt nicht nur in dem, sondern auch in anderen Polizeigesetzen.
Zweitens. Ich bin der festen Überzeugung, Herr Pallas – das sage ich nicht irgendwie, um zu „bauchmiezeln“ –, dass Sie in den Diskussionsrunden mit den Koalitionspartnern gekämpft haben, dass die Kollegen von der CDU auch abgewogen haben und dass niemand leichtfertig darüber hinweggeht. Das mag alles sein.
Ich weiß auch, dass es die Zeit ist, die so ist. Aber es trifft im Grunde genommen alle, die demokratisch und verfassungsmäßig mit diesem Land verbunden sind, es trifft uns letzten Endes im Kern. Das ist der Fehler.
Es gibt die Demokratiefeinde, die davon einen Vorteil haben.
Vielen Dank, Frau Präsidentin; vielen Dank, Herr Wippel. Können Sie sich vorstel
len, dass ich als Strafverteidiger, Opferanwalt oder in anderer Weise oft an solchen Lebenssachverhalten direkt teilnehme, wo ich merke, dass Eingriffsbefugnisse auch unverhältnismäßig angewandt worden sind, und dass genau das Problem der unverhältnismäßigen Anwendung von Eingriffsbefugnissen die Not sein kann?
Herr Präsident! Ich möchte auch von meinem Recht auf eine persönliche Erklärung zum Abstimmungsverhalten Gebrauch machen.
Ich habe in meinem Beitrag gesagt, dass ich der festen Überzeugung bin, dass dieser Gesetzentwurf in einer
ganzen Reihe von Bestimmungen nicht verfassungskonform ist. Es ist die vornehme Aufgabe, die vornehme Pflicht eines Parlaments, immer und allzumal bei Gesetzen, die wegen ihres Charakters – das sind Sicherheits- und Polizeigesetze immer – besonders sensibel sind, ganz besonders darauf zu achten, dass das, was das Parlament beschließt, auch für die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehbar ist, dass das, was das Parlament beschließt, alle Rechte und Interessen, die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land haben, ohne Ansehen von Mehrheiten oder Minderheiten im Auge hat und dass letzten Endes Eingriffsinstrumentarien, die in einem solchen Gesetz geschaffen werden, immer an den Grundprinzipien Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit, Zweckmäßigkeit und dergleichen mehr orientiert sind.
Kein Gesetz, das letzten Endes darauf abstellt, einen Zweck zu bedienen, hat nach meiner Auffassung vertrauensschaffende Funktionen in der Bevölkerung.
Unter diesem Aspekt konnte ich diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen und meine, dass er auch dem Parlament keinen Ansehenszuwachs bringt, weil er einem Überprüfungsverfahren durch ein Verfassungsgericht nicht standhalten wird.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich versuche es kurz und schmerzlos. Zunächst einmal habe ich überhaupt kein Problem – das haben wir alle im Ausschuss durch Zustimmung zu dem Änderungsantrag signalisiert –, was die Frage der Befreiung gemeinnütziger und mildtätiger Vereine angeht. Auch zu dem zweiten vom Kollegen Modschiedler dargelegten Problem ist überhaupt kein Dissens vorhanden.
Worum es uns bei dem vorgelegten Gesetzentwurf geht, ist die Problematik der mehr oder weniger jetzt tatsächlich bestehenden Lücke hinsichtlich einer einheitlichen Verfahrensweise bei der Weitergabe der Terminslisten der Gerichte im Freistaat Sachsen an die Medien zum Zwecke der öffentlichen Berichterstattung, wie sie jetzt im Gesetzentwurf steht.
Als Gesetzgebungsanlass wird in der Gesetzesbegründung von unserem Staatsminister der Justiz Sebastian Gemkow – in der Behandlung im Ausschuss, auch so noch einmal wiederholt – angeführt, dass es in der Vergangenheit Unsicherheit im Umgang mit der Terminveröffentlichung vor Gerichten gab. In der Praxis seien die Terminslisten von einigen Gerichten herausgegeben worden und von anderen nicht – darauf hat Kollege Modschiedler reflektiert. Das ist schwierig, das wirft Fragen auf, das hat auch Risiken, das ist völlig okay – so weit, so gut, so verständlich.
Verständlich ist für uns auch, dass im Ausschuss in der Anhörung speziell des Ausschusses am 13. Februar 2019 alle dort mitwirkenden Sachverständigen, die direkt oder mittelbar aus der Profession der Journalistinnen und Journalisten von den Medien kamen – Medienrechtler und Ähnliches mehr –, heftig dafür gestritten haben, dass diese Terminslisten aller Gerichte den anfragenden Medien zur Verfügung gestellt werden, und zwar jede Woche für die Folgewoche, vollumfänglich, mit allem, was sich an den Gerichten tut – so habe ich es jedenfalls verstanden.
Ich komme ab und zu über Flure von Gerichten und weiß, dass die Berichterstatter der Medien meistens über Strafverhandlungen berichten und vielleicht noch über verwaltungsgerichtliche Verfahren und Ähnliches mehr. Zu familiengerichtlichen Verfahren besteht ohnehin kaum Zugang. Ob Journalisten aber die Terminslisten insgesamt, gewissermaßen in aller Breite und in allen Bereichen, benötigen, um der Freiheit der Berichterstattung genügen zu können, das hat sich mir auch im Ergebnis der Beratung verschlossen.
Seitens der Medienvertreter ist selbst die wegen des Datenschutzes eingebaute Vorschrift, dass die Terminslisten, die bei den Medien vorliegen, wenigstens nach Ablauf der Woche gelöscht werden, angegriffen worden. Es wurde gemeint, man brauche längere Fristen. Teilweise ging es bis zu der Frage, wer überhaupt überprüfen wolle, ob die Terminslisten gelöscht worden seien. Das waren Fragestellungen aus dem Bereich der Medienvertreter, die mich schon in Sorge versetzen, dass die Terminslisten
nicht nur für die Vorbereitung und für die Berichterstattung über die einzelnen Verhandlungen genutzt werden.
Ich habe damit natürlich eine valide Sammlung von Fakten, die irgendwann, wenn sie über Jahre verdichtet werden, ein kleines Profiling für einen bestimmten Menschen, Bürger, früheren Rechtsuchenden oder Angeklagten ermöglichen können. Diese Gefahr besteht. Diese Gefahr haben Sachverständige dem Ausschuss beschrieben, die aus dem Bereich des Datenschutzes kommen. Kritisch bis konträr hat dies Herr Prof. Dr. Thomas Petri, der Landesbeauftragte für den Datenschutz des Freistaates Bayern, dargelegt. Er hat auch die Bedenken vorgeschaltet, die er hege, ob es überhaupt in der Regelungskompetenz des Freistaates Sachsen liege, weil die Öffentlichkeit gewissermaßen Bestandteil des Gerichtsverfahrens sei und das Gerichtsverfahren im Gerichtsverfassungsgesetz, unter Titel 14, in §§ 169 ff., geregelt sei. Damit habe der Bundesgesetzgeber von seiner Regelungskompetenz
Gebrauch gemacht, und zwar abschließend, sodass wir es nicht mehr ohne Weiteres selbstständig für das Land regeln könnten. Diese Frage steht im Raum. Die einen sagen so, die anderen sagen so. Wir sind da selbst noch unentschlossen.
Worin wir dem bayerischen Datenschutzbeauftragten aber wirklich vollumfänglich folgen, ist die Sorge, dass keine Übereinstimmung mit der europäischen DatenschutzGrundverordnung bestehe, weil das Prinzip der Datenminimierung nicht eingehalten wird. Das Prinzip der Datenminimierung gilt als grundsätzliches Prinzip.
Die Frage, ob ich die Ansprüche der Presse auf Anknüpfungspunkte für die Gerichtsberichterstattung auch auf anderem, weniger riskantem Wege befriedigen kann, wurde nicht abschließend geklärt. Es gab dazu Vorschläge zum Beispiel vom Vizepräsidenten der Anwaltskammer des Freistaates Sachsen, Herrn Rechtsanwalt Franz-Josef Schillo, der dafür plädierte, bestimmte Schwärzungen vorzunehmen, und zwar in dem Umfang, dass die Daten mehr oder weniger geschützt sind, ohne dass es als Material für die Presse wertlos wird.
Ich denke an die Stellungnahme unseres Datenschutzbeauftragten Andreas Schurig, der seinerseits auch das Problem gesehen hat, dass die Datenminimierung etc. nicht gewährleistet sei. Die Terminslisten könnten leichter zugänglich sein, wenn sie an zentraler Stelle ausgelegt würden.
Lange Rede, kurzer Sinn: Es gab Modelle, für die aus meiner Sicht gesprochen hätte, wie ich aus Gründen der praktischen Konkordanz die beiden Grundrechte, zum einen das Grundrecht auf Datenschutz, auf informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen und zum anderen das Grundrecht auf Freiheit der Presseberichterstattung, unter einen Hut bringen kann. Letzten Endes ist der Weg des geringsten Widerstandes und ein einseitiger Weg gewählt worden. Deshalb können wir nicht zustimmen.
Danke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Staatsminister Gemkow, zunächst meine Reverenz: eine clever angelegte Rede, vom Entree her schon. Wer kann schon etwas gegen Opferschutz sagen? Und wer hätte kein Verständnis und würde keine Anteilnahme an Verletzungen zeigen oder für die Sichtweisen und Erwartungen von Straftatopfern?
Gewählt wurde das Bild von Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern eines Supermarkts oder eines anderen Ladengeschäfts, die verzweifelt auf Sie zukommen, vom vermeintlich oder tatsächlich straflos gebliebenen Ladendieb berichten und dabei ihre Enttäuschung, Machtlosigkeit und Hilflosigkeit reflektieren. Das beeindruckt den Zuhörer, aber ob solche Begegnungen, ob die hier geschilderten Empfindungen und Gefühle für einen Minister, für einen Ministerpräsidenten der rationale Ausgangspunkt sein können, um für eine Verschärfung der Strafpolitik einzutreten, steht auf einem anderen Blatt.
Keinen aus dieser Runde – mit Gewissheit auch nicht uns oder mich – lässt die Sicht der Opfer kalt, erst recht nicht, wenn es um Opfer von Gewalttaten geht – sei es im öffentlichen Raum, in Verkehrsmitteln, in Fußballstadien oder in der häuslichen Umgebung; das macht für mich keinen Unterschied. Uns etwas anderes zu unterstellen wäre infam.
Ich glaube auch nicht, dass in dieser Hinsicht Staatsanwältinnen und Staatsanwälte, Richterinnen und Richter in Sachsen anders ticken bei der Ausübung des Ermessens nach Maßgabe des Opportunitätsgrundsatzes, ob der Betreffende – nach dem hauptsächlichen Gegenstand der Rundverfügung – im Bereich der Klein- und Bagatellkriminalität angesiedelt ist. Darum geht es heute vor allem respektive darum, ob sie das Verfahren einstellen und die Sicht der Opfer einfach wegklemmen. Das glaube ich
nicht und erlebe das als Strafverteidiger auch nicht. Das erlebe ich mitnichten.
Ich frage deshalb an dieser Stelle: Wenn Sie eingangs Ihrer Rede mit Zahlen operieren – dass nämlich 2017 in Sachsen bei erledigten 35 743 Ermittlungsverfahren wegen Diebstahls oder Unterschlagung nur 5 779 Verurteilungen herauskamen –, fragt sich, ob dieses Zahlenspiel seriös ist. Bei Ihnen kam es so rüber, als seien die restlichen Fälle tatsächlich Einstellungen nach §§ 153, 153 a und 154, als sogenannte Rabattentscheidungen, wie der Herr Ministerpräsident – er ist nicht anwesend – gestern zu formulieren geruhte: Rabattentscheidungen der Justiz.
Oder waren das vielleicht Einstellungen des Verfahrens nach § 170, weil der Täter nicht ermittelt werden konnte oder weil sich im Ergebnis des Ermittlungsverfahrens herausgestellt hat, dass der Beschuldigte unschuldig war?
Deshalb frage ich jetzt ja: Steckt das hinter den Zahlen? Sind das Einstellungen nach § 153 oder nach § 170? Das ist doch genau das Ergebnis, das ein Ermittlungsverfahren letztendlich haben muss: Es stellt eine Schuld fest – zur Anklage geeignet oder eben nicht. Da ist zu vieles durcheinander,
oder Sie vermengen zu viel miteinander. Nein, Sie kommen von der Parfümflasche
für 23,15 Euro zum Gewaltopfer. – Ich bitte, mir die paar Pfennige nachzusehen.
Ganz so geht es nicht. Es ist doch nicht so und man kann doch weiß Gott nicht unterstellen, dass die Staatsanwaltschaft im Vorverfahren serienweise Verfahren einstellen würde, wenn eine Körperverletzung im Raum steht oder es Gewaltopfer gibt. Da passiert normalerweise eine Beschränkung nach § 154, wenn der Betreffende wegen anderer Anklagen bereits bei sieben oder acht Jahren liegt und man nachher sagt: Diese konkrete Straftat, die – bei aller Tragik für das Opfer – vielleicht drei Monate oder eine Geldstrafe erbringen würde, verhandeln wir jetzt nicht noch extra in einem gesonderten Verfahren. Dann wird man nach § 154 beschränken. Das muss man doch einmal darstellen. Dann wird auch eingestellt, wenn man Entscheidungen vorgibt.
Ich will aber gar nicht pfennigfuchsen. Das Problem ist zunächst, dass Sie heute die Erläuterung dessen, was Sie oder meinethalben auch der sächsische Generalstaatsanwalt mit dieser auch von uns unter Kritik genommenen Rundverfügung bezweckt haben und was Sie dazu veran
lasste, in einer gänzlich anderen Tonlage herüberbringen, als dies im Wortlaut der Rundverfügung und dem von Ihnen und Generalstaatsanwalt Strobl in der Medieninformation vom 14. Februar 2019 und anschließend in Interviews vorgetragenen Begründungsmuster liegt.
Heute sind Sie ganz anders herangegangen. Das akzeptiere ich.
Einer der Eingangssätze in der Medieninformation Ihres Ministeriums vom 14. Februar 2019 lautete: Die sächsische Strafverfolgungspraxis wird insgesamt verschärft. Straftaten sollen konsequent verfolgt und geahndet werden, selbst wenn es sich um sogenannte Bagatelldelikte handelt. Da verkündet der Minister, dass die Strafpolitik verschärft wird. Das entscheiden aber nun einmal Richterinnen und Richter und nicht der Minister, nicht die Politik.
Ja, man kann Ziele indoktrinieren. Wir haben hier gefragt und fragen weiter: Was heißt denn „sächsische Strafverfolgungspraxis“? Das frage ich, wie auch gestern schon. Was heißt das? Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland im Grundsätzlichen ein einheitliches materielles und prozessuales Recht, Strafrecht und Prozessrecht. Wenn Sie Auslegungsvorgaben für die Anwendung der im Bundesrecht beinhalteten Tatbestände oder im Strafprozessrecht beinhaltete Ermessensregelungen vorgeben wollen, dann soll man dies nach unserer Überzeugung rechtsstaatsförmlich, meinethalben über die Justizministerkonferenz, dergestalt tun, dass man eine Änderung der Richtlinien für die Straf- und Bußgeldverfahren, der RiStBV, die eine Rechtsvorschrift ist, um meinen Streit mit meinem Kollegen Mackenroth noch einmal klarzustellen – da hat er ja Recht gehabt – –
Dort gehört es hinein. Das gehört in die RiStBV, die zuallererst die Staatsanwälte betrifft und die ihnen vorgibt, was sie bei prozessualen Ermessensausübungen zu beachten haben. Dort kommen Entscheidungsgrenzen hinein. Dort stehen sie auch, aber wie kann ich das denn für Sachsen, wenn Sie bei der RiStBV bleiben, ändern und sagen, bei uns gilt das anders? In einer Republik, auch wenn sie föderal ist? Das Föderalismusprinzip und die Zuständigkeit der Länder für die Justiz bedeutet nicht, dass es eine individuelle Zuständigkeit der Länder für den Inhalt der Rechtsprechung gäbe. Das ist meine feste Überzeugung.
Eben. Dann kann ich ihm auch nicht sagen – – Wir kommen gleich darauf zurück. Wenn Sie etwas wollen, Herr Kollege Modschiedler, dann fragen Sie.
Selbst wenn es dann in die RiStBV hineingebastelt sein sollte, können derartige Richtlinien wegen der Mannigfaltigkeit des Lebens der Verfahrenspraxis nur Anleitung für den Regelfall geben. Der Staatsanwalt hat in jeder Strafsache selbstständig und verantwortungsbewusst zu prüfen, welche Maßnahme geboten ist. Er kann wegen der Besonderheit des Einzelfalls von den Richtlinien abweichen. Das habe ich jetzt aus der Einführung zur RiStBV zitiert. Deswegen kann ich nicht in diesem Duktus „bei uns wird auch unter 10 Euro nicht mehr eingestellt“ eine Rundverfügung machen. Da passt der Direktivcharakter der Rundverfügung generell nicht zum Ansatz in der RiStBV und in den Auslegungen.
Heute haben Sie betont, dass es auch weiterhin Einstellungen geben werde, wenn sowohl Gericht als auch Staatsanwaltschaft in einem Verfahren zu der Überzeugung kommen, dass für den Einzelfall schuld- und tatangemessen ist. Das sind dann ganz andere Töne, als ich sie aus der Rundverfügung selbst oder aus Verlautbarungen aus der Pressekonferenz kenne. Da sind Sie heute anders herangegangen, dabei bleibe ich.
Das alles aus der Pressekonferenz klang nach der Nulltoleranzstrategie, die seinerzeit der republikanische Bürgermeister von New York, Rudolph Giuliani, der von 1994 bis 2001 im Amt war, entwickelt hat. Diese Nulltoleranzstrategie im Thema der von Ihnen angemeldeten Regierungserklärung, keine Toleranz für Straftäter nahezu gleich formuliert, hat in den USA zu unzähligen ausufernden Strafverfahren, zu unzähligen Eingriffen in Grundrechte, zu unzähligen unverhältnismäßigen Verletzungen von Grundrechten geführt und letzten Endes auch dazu, dass die USA die höchste Pro-Kopf-Inhaftierungsrate der Welt ausweisen und immer noch überhaupt keine großen Erfolge in der Rückbildung der Kriminalität haben, weil es ein Irrglaube ist, dass Strafe, Strafmaße und Strafschärfe, Kriminalität aufhalten.
Uns ist auch in die Nase gefahren, dass Sie nach dem Wortlaut und der Form der Verkündung der beabsichtigten neuen Gangart den Eindruck erweckt haben, als könnte der Justizminister Strafmaß beeinflussen.
Diese Intention ergibt sich doch, wenn Sie als Minister in der Presseerklärung formulieren: „Die sächsische Strafverfolgungspraxis wird insgesamt verschärft.“ Na, wenn Sie das verkünden oder der Ministerpräsident das in seiner Presseerklärung im Anschluss an die gestrige Aktuelle Debatte verkündet, da denkt doch jeder Zuhörer draußen: Das kann dieses Haus vorgeben und entscheiden oder das Haus mit der Krone da drüben.
Und das geht nicht! Das geht nicht im Rechtsstaat! Im Rechtsstaat sind Grundlage die Gesetze und die Rechtsstaatsprinzipien. Da gehört ganz zuerst als vornehmer
Grundsatz – das ist jetzt die Erfahrung aus meinem Leben – die Gewaltenteilung dazu.
Sehr wohl! Für die Strafverfolgungspraxis sind im Rechtsstaat Staatsanwälte, Gerichte, nebenbei bemerkt auch Verteidiger, als Organe der Rechtspflege zuständig respektive an dieser beteiligt. Richterinnen und Richter entscheiden, wie sie innerhalb des vom Bundesgesetzgeber vorgesehenen Strafrahmens die Verfahrenstatbestände sanktionieren. Und dafür gibt es einen Paragrafen. Das ist der § 46 StGB, der generell sagt: Bei Strafzumessungen wägt das Gericht einzelfallbezogen die Bewertung der Schuld des Täters, über Sach- und Beweggründe und Ziele des Täters, sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen und einen Ausgleich gegenüber den Opfern zu suchen, ab. Diese und weitere Kriterien sind im § 46 enthalten.
Bei allem Respekt vor den Opfern, es steht dort nicht: Der Opferschutz muss dabei das Primat haben. Es gibt eine Vielzahl von Zumessungskriterien. In diese Zumessungskriterien können sie nicht mit Direktiven hineinregieren. Es ist der § 46, der vom Staatsanwalt beim Strafmaßbeantragen und vom Richter beim entsprechenden Verurteilen angewendet werden muss. Unter Beachtung dieser Strafzumessungskriterien einen Strafmaßantrag zu stellen ist Sache des konkret im Verfahren und dann als Bestandteil der Rechtspflege handelnden Staatsanwalts. Da kann man nicht par ordre du mufti der Staatsanwaltschaft vorschreiben, dass beim Verdacht auf Besitz und des Handelns mit Betäubungsmitteln, etwa mit Crystal, auch nur von 3 bis 5 Gramm, generell nicht weniger als ein Jahr Freiheitsstrafe zu verurteilen ist. Das bringt doch die ganze Strafpyramide durcheinander. Was wollen Sie denn mit einem echten Dealer machen? Was wollen Sie mit jemand tun, der kiloweise Drogen aus dem Ausland bringt? Wenn Sie bei 3 bis 5 Gramm mit einem Jahr beginnen, ist ein neuer Verbrechenstatbestand kreiert. Es liegt doch auf der Hand, dass das schiefgeht, dass das ganze Strafgefüge durcheinandergebracht wird.
Genauso grenzwertig ist es, dem verfahrensbearbeitenden Staatsanwalt vorzuschreiben, dass er bei jeder Schwarzfahrt und bei jedem Ladendiebstahl bis 50 Euro einen Strafbefehl beantragen oder Anklage erheben muss. Das bringt die ganze Justiz in eine fatale Bearbeitungslage.
Absolut dilettantisch – Herr Kollege Modschiedler, Sie kennen es vielleicht gar nicht – wird es, wenn die Rundverfügung vorschreibt, dass bei einem unerlaubten Entfernen vom Unfallort eine Einstellung nach § 153 StPO nur noch erfolgen darf, wenn der Schaden nicht mehr als 25 Euro beträgt. Wie übersieht der Generalstaatsanwalt nur, dass alle Kommentierungen und Rechtsprechungen zu § 142 – Fahrerflucht – das Vorliegen eines Unfalls davon abhängig machen, dass ein Schaden von wenigs
tens 25 Euro vorliegt? Bis zu diesen 25 Euro ist es noch kein Unfall. Wenn es keinen Unfall gibt, kann man keine Unfallflucht begehen. Ich kann nicht erst bei 25 Euro Schaden sagen, bis dahin dürft ihr nur einstellen; das ist ohnehin keine Straftat. Das ist nach § 170 einzustellen.
Das ist also eine Sache, die überhaupt nicht passt. Genauso missverständlich, als Aufreger wirkte der in der Presseerklärung vom 17.02. mit den Worten zitierte Generalstaatsanwalt, der sagte: „Rechtsfreie Räume gibt es in Sachsen nicht. Auch Straftaten mit geringen Schäden bleiben Straftaten. Die können in ganz Sachsen gleichermaßen konsequent geahndet werden. Meine Rundverfügung wird das jedem deutlich machen.“
Was oder wen meint er denn mit „jedem“? Auch jede Richterin und jeden Richter?