Bevor wir mit unserer heutigen Debatte beginnen, möchte ich mit Ihnen gemeinsam innehalten und an Ereignisse erinnern, die uns in den letzten Wochen und Tagen erschüttert haben.
Am 24. März ist ein Flugzeug der Germanwings auf dem Flug von Barcelona nach Düsseldorf in den Französischen Alpen zerschellt. Alle 150 Insassen kamen dabei ums Leben. Nach dem jetzigen Ermittlungsstand hat der Kopilot die Maschine gezielt zum Absturz gebracht.
In der Nacht vom 18. auf den 19. April kenterte ein Boot mit Flüchtlingen auf dem Weg von Libyen nach Italien im Mittelmeer. Vermutlich deutlich mehr als 800 Menschen, die sich auf diesen gefährlichen Weg auf der Suche nach einem besseren Leben begeben hatten, fanden dabei den Tod.
Erinnern möchte ich auch an 16 christliche Flüchtlinge, die von andersgläubigen Mitflüchtlingen wegen ihrer Glaubensüberzeugung aus dem gemeinsamen Flüchtlingsboot gestoßen wurden.
Wir stehen fassungslos vor diesem Geschehen und auch dem unermesslichen Leid, das durch diese Unglücke über
die Familien und Freunde der Opfer hereingebrochen ist. Ihnen gilt unser tief empfundenes Mitgefühl. Wir trauern um die vielen Verstorbenen.
Ich bitte Sie und auch unsere Gäste auf der Besuchertribüne, sich von den Plätzen zu erheben, für einen Moment innezuhalten und schweigend der Opfer zu gedenken.
Meine Damen und Herren! Sicherlich relativiert unser Gedenken ein Stück weit die Dinge, mit denen wir uns in den nächsten vier Tagen hier im Sächsischen Landtag beschäftigen werden. Lassen Sie uns unsere Gedanken und Empfindungen, unser gemeinsames Gedenken auch in unsere tägliche Arbeit mitnehmen. Ich danke Ihnen nochmals.
Für die heutige Sitzung liegen keine Entschuldigungen vor. Die Tagesordnung liegt Ihnen vor. Das Präsidium hat für die Tagesordnungspunkte 1 und 4 bis 8 folgende Redezeiten festgelegt: CDU 90 Minuten, DIE LINKE 60 Minuten, SPD 48 Minuten, AfD 42 Minuten, GRÜNE 30 Minuten, Staatsregierung 60 Minuten. Die Redezeiten der Fraktionen und der Staatsregierung können auf die Tagesordnungspunkte je nach Bedarf verteilt werden.
Ich sehe keine weiteren Änderungsvorschläge zur oder Widerspruch gegen die Tagesordnung. Die Tagesordnung der 11. Sitzung ist damit bestätigt.
Ich gehe davon aus, dass die Antragsteller ihr Begehren begründen wollen. Das Wort haben die Fraktion DIE LINKE und die Fraktion GRÜNE.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema „Nationalsozialistischer Untergrund“ beschäftigt weiter die Öffentlichkeit. Sie sehen das an der tagtäglichen Berichterstattung über den fortschreitenden Prozess am Oberlandesgericht in München gegen Beate Zschäpe und mutmaßliche Unterstützer des NSU. Sie sehen es aber auch daran, dass zwischenzeitlich Untersuchungsausschüsse in BadenWürttemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen ihre Arbeit aufgenommen haben. Im Thüringer Landtag gibt es zum zweiten Mal einen solchen Ausschuss. Auch im Bundestag wird die erneute Einsetzung gefordert.
Der springende Punkt ist: Wann immer vom „Nationalsozialistischen Untergrund“ die Rede ist, geht es auch um Sachsen; denn hier in Sachsen sind Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt Anfang 1998 untergetaucht. Hier – in Chemnitz und Zwickau – fanden sie Unterstützer und konspirative Wohnungen. Hier horteten sie Waffen und planten schwerste Straftaten. Hier in Sachsen überfielen sie einen Supermarkt, Post- und Bankfilialen. Hier in Sachsen blieben sie schließlich bis November 2011 unentdeckt. Kurz gesagt: Sachsen war das Kernland des NSU.
Rückblickend gesehen war es daher folgerichtig, in der vergangenen Legislaturperiode im Sächsischen Landtag
den Untersuchungsausschuss „Neonazistische Terrornetzwerke in Sachsen“ einzurichten. Es ging vor allem darum, das Behördenhandeln in Sachsen zu rekonstruieren. Ein Aspekt dabei war die Suche nach dem Kerntrio in den Jahren 1998 bis 2001. Wir haben im letzten Untersuchungsausschuss erfahren, dass sich das Landesamt für Verfassungsschutz Sachsen sowie Polizei und Landeskriminalamt auf durchaus zutreffende Hinweise über einen möglichen Aufenthalt der Flüchtigen in Chemnitz stützen konnten. Wir wissen aber bis heute nicht, woher diese Hinweise im Einzelnen stammten und warum sie letztendlich nicht zur Ergreifung der Flüchtigen führten. Die furchtbaren Taten des NSU hätten so verhindert werden können und müssen.
Ein zweiter Aspekt waren die insgesamt elf Raubüberfälle, die in den Jahren 1998 bis 2006 in Chemnitz und Zwickau begangen wurden. Es war schnell erkannt worden, dass es sich um eine ausgeprägte Raubserie handelt, die sich schließlich auch auf MecklenburgVorpommern und zuletzt Thüringen ausweitete. Naheliegend wäre die Einrichtung einer Sonderkommission gewesen. In Sachsen hat man das unterlassen. Die Täterschaft des Trios hätte so erkannt werden können und müssen. Wir haben darüber hinaus erfahren, dass parallel militante Neonazistrukturen, wie etwa das in Sachsen besonders ausgeprägte Blood & Honour-Netzwerk,
richtigerweise ins Visier der Sicherheitsbehörden geraten waren. Aber ein konsequentes Durchgreifen blieb aus. So entgingen die sächsischen Protagonisten dem bundesweiten B- & H-Verbot im Jahr 2000. Unter diesen Protagonisten waren mehrere Personen, die heute als mutmaßliche
NSU-Unterstützer gelten. Auf deren Rolle im Unterstützernetzwerk des Trios hätte man stoßen können und müssen.
Doch Ermittler berichteten im Untersuchungsausschuss, dass ihre Ansätze zur Strukturermittlung torpediert wurden. Stattdessen schaltete sich beispielsweise das Landeskriminalamt Berlin ein und warb Führungspersonen genau dieser Szene als Spitzel an. Wir wissen bis heute nicht, warum; wir wissen bisher nur einigermaßen sicher, dass Zeugen des LKA Berlin es uns nicht erklären möchten. Das ist inakzeptabel.
Der vergangene Untersuchungsausschuss hat dennoch dazu beigetragen, das Geschehene zu rekonstruieren. Mithin hat der Ausschuss aufzeigen können, was offenzulegen einigen Behörden und vor allem dem Staatsministerium des Innern nicht möglich war. Darüber gibt der abweichende Bericht, den die demokratische Opposition vorgelegt hat, Auskunft. Er hält die wesentlichen Erkenntnisse fest und markiert jene Fragen, die einer weiteren Klärung bedürfen, genauso wie jene Themenkomplexe, die bislang nur angeschnitten werden konnten. Vor diesem Hintergrund enthält der abweichende Bericht als allererste und allerwichtigste Forderung die nach einer Fortsetzung der parlamentarischen Aufklärung in Sachsen: „Angesichts der gesellschaftlichen Tragweite der Taten des NSU und der nicht hinreichend geklärten Umstände des Nichtergreifens des Trios genügt der bisher erreichte Stand der Aufklärung nicht. Dem Sächsischen Landtag der nächsten Wahlperiode wird daher ausdrücklich empfohlen, erneut einen Untersuchungsausschuss zu neonazistischen Terrornetzwerken in Sachsen und dem darauf gerichteten Behördenhandeln einzusetzen.“
Meine Damen und Herren! Daran fühlen wir uns gebunden. Deswegen wollen wir einen neuen Untersuchungsausschuss einsetzen. Es kommen noch mehr Aspekte hinzu, die genau dafür sprechen. Zunächst: Die Öffentlichkeit richtet ihr Augenmerk gegenwärtig vor allem auf den Prozess am Oberlandesgericht München. Dort wird vermutlich in absehbarer Zeit ein Urteil fallen. Aber fest steht, dass dieses Urteil keineswegs alle wichtigen Fragen wird beantworten können. Sie sehen bereits am bloßen Umfang der Berichte der bisherigen Untersuchungsausschüsse, dass der politische Stoff im Themenkomplex weit über dessen juristische Substanz hinausgeht. Nicht zuletzt sorgt die zeitliche Ausdehnung des Geschehens dafür, dass Unterstützerinnen und Unterstützer durch Verjährungsfristen vermutlich straffrei ausgehen werden.
Das ist ein völlig unbefriedigender Zustand, der mich persönlich betroffen macht. Dieser Zustand berechtigt gerade nicht zu einem Schlussstrich. Wir sind es den Opfern des NSU und den Hinterbliebenen schuldig, so präzise wie möglich herauszuarbeiten, unter welchen – auch politischen – Bedingungen der NSU in Sachsen entstehen und im ganzen Bundesgebiet morden konnte. Diese Bedingungen müssen geändert werden, wenn wir nicht wollen, dass so etwas wieder geschieht.