Birke Bull

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Meine Damen und Herren! Herr Minister, ich kenne jemanden, der vor vier Jahren loslegen wollte und dann alle halbe Jahre von der CDU zurück auf „Los“ geschickt wurde; insofern würde ich aus Ihrer La-Ola-Welle doch ein Stück den „Gang“ herausnehmen.
Eine Büttenrede will ich Ihnen jetzt ersparen. Anlass dazu gäbe es genug, aber der Ernst der Sache gibt es nicht her. Deswegen konzentriere ich mich auf einige wenige Schwerpunkte.
Zum Ersten. Immer wieder war und ist die Zahl der Rettungsleitstellen strittig; nach unserer Auffassung muss sie reduziert werden. Sie kann dies auch, ohne dabei einen Qualitätsverlust in Kauf nehmen zu müssen.
Ich kann nachvollziehen, dass die kommunalen Spitzenverbände, insbesondere die Landräte, das anders sehen. Aber, meine Damen und Herren, es handelt sich hierbei um Versichertengelder; wir sind gehalten, dafür zu sorgen, dass sie effizient und sparsam verwendet werden.
Die Meinungen darüber, was am Ende dort herauskommen soll, gehen auseinander. Ich denke, mit fünf Rettungsleitstellen ist ein tragfähiger Kompromiss machbar. Die Schwierigkeit ist eben nur, dass es sich um eine Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung im eigenen Wirkungskreis handelt.
Der Änderungsantrag der SPD sieht vor, fünf Großleitstellen zu verorten. Ich gebe zu, das hat aus gesundheitspolitischer Sicht einen gewissen Charme. Immerhin wäre damit die Entwicklung hin zu einem Modell der „bunten“ Leitstelle gegeben, also Brand- und Katastrophenschutz, Rettungsdienst, notärztliche Versorgung und Gefahrenabwehr in einer integrativen Rettungsleitstelle zu verorten.
Dennoch ist es ein tiefer Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung, der nach unserer Auffassung zumindest nicht so ohne Weiteres zu machen ist, zumal die Gefahr für Leib und Leben von Menschen als Grund für diesen Eingriff unter Umständen doch arg weit hergeholt wäre.
Der Entwurf der Landesregierung bedient sich insofern eines goldenen Zügels, als durch die Finanzierung der
neuen Digitaltechnik die Möglichkeit eröffnet wird, indirekt in die Neuordnung der Leitstellen einzugreifen. Es ist eine listige Idee - das habe ich im Ausschuss schon gesagt -, die auch nach unserem Dafürhalten unterstützenswert ist. Nach unserer Auffassung sollte dies aber nur innerhalb der vorgesehenen geregelten Planungsregionen ermöglicht werden. Deshalb hierzu unser Änderungsantrag.
Zum Zweiten. Meine Damen und Herren! Mit dem Versuch der Neuordnung im Entwurf, die Zuständigkeit für die notärztliche Versorgung im Rettungsdienstbereich auf die KV zu übertragen, haben Sie sich nach unserer Auffassung einen riesengroßen „Storch gebraten“, meine Damen und Herren;
abgesehen davon, dass die Koalitionsfraktionen selbst im Ausschuss hoffnungslos überfordert waren, uns den Sinn des Ganzen zu erklären.
Meine Damen und Herren! Es bleibt doch ein Nullsummenspiel. Die Notärztinnen und Notärzte im ambulanten Bereich sind jetzt schon weitestgehend unterwegs. Das brächte keinen Gewinn. Den Zugriff auf die Krankenhäuser - meinethalben auf die privatisierten Krankenhäuser - hätte man unter Umständen dann auch für die Landkreise eröffnen können. Ein Splitting der Zuständigkeiten, wie es jetzt in dem Entwurf vorgesehen ist, ist verflucht dünnes Eis, noch dazu ohne erkennbaren substanziellen Gewinn. Wir werden den Gesetzentwurf deshalb ablehnen.
Auch an dem Einsatz von vollständig ausgebildeten Notärzten darf nach unserer Auffassung nicht gerüttelt werden. Deshalb werden wir auch beantragen, die Ausnahmeregelung, die der Entwurf jetzt vorsieht, zu streichen.
Zum Dritten. Die eingeführte Verhandlungslösung stärkt die Rolle der Kostenträger, also demnach der Krankenkassen. Das geht in Ordnung; denn das Prinzip, dass derjenige, der die Kosten trägt, auch ein gewichtiges Wörtchen dabei mitzureden haben muss, wie die Leistung gestaltet werden soll, ist ein sinnvolles.
Dennoch: Druck auf das Einkommensgefüge der Beschäftigten im Rettungsdienst aufzumachen, meine Damen und Herren, ist absurd. Es handelt sich um Einkommen in der Höhe der Vergütungsgruppen VII und VIII des BAT-Ost. Dort kann nicht mehr gespart werden. Deshalb halten wir es für dringlich, als einen der Qualitätsstandards einzuführen, dass die Beschäftigten im Rettungsdienst nach Tarif, mindestens aber in Anlehnung an den Tarif bezahlt werden müssen.
Zum vierten und letzten Problemkreis. Die Arbeit der Hilfsorganisationen, meine Damen und Herren, hat sich bewährt. Das allein ist freilich noch kein hinreichender Grund, sie den privaten Anbietern vorzuziehen. Bewähren können sich auch die privaten, keine Frage. Aber dort, wo hauptamtliche Strukturen angesiedelt sind - sei es Personal, Gerätschaft, Einsatzwagen usw. -, finden sich für ehrenamtliche Strukturen ideale Voraussetzungen. Das ist es uns wert genug. Deshalb unser Änderungsantrag, den Hilfsorganisationen Vorrang einzuräumen.
Alles in allem, meine Damen und Herren: Die Neuordnung der Rettungsleitstellen ist zweifelhaft auf dem richtigen Weg. Das - das will ich auch gern zugeben - war mit der vergeigten Gebietsreform ein Husarenstück. Aber den Systemwechsel bei der Zuständigkeit halten wir nicht nur für unsinnig, sondern auch für gefährlich.
Vor allem in Zeiten, in denen der reale Lohn in Deutschland permanent im Sinken begriffen ist, kann man sich nicht darüber streiten, ob Sparmöglichkeiten bei dem Einkommensgefüge der Beschäftigten noch nutzbar wären. Der Druck auf die Beschäftigten muss in Grenzen gehalten werden, und zwar in tariflichen.
Nicht zuletzt ist uns die Unterstützung zivilgesellschaftlicher Strukturen wichtig.
Alles in allem findet das in dem vorliegenden Gesetzentwurf keinen Niederschlag. Deshalb werden wir ihn in Gänze ablehnen.
Herr Kollege, ich würde gern auf Ihre Formulierung in Bezug auf die so genannten abstrusen Großkreise abheben.
In Ihrem Entwurf ist in § 5 vorgesehen, dass durch Verordnung der Landesregierung ab dem Jahr 2008 größere Rettungsdienstbereiche verordnet werden sollen. An welche Größen haben Sie denn dabei so gedacht?
Dann hätte ich gern gewusst: Wie wird sich das mit den elf Landkreisen plus drei Städten, die sozusagen Ihre Form von Gebietsreform hervorgebracht hat, vertragen?
Herr Ministerpräsident, Sie haben sich in der Sache geäußert, deshalb auch meine Frage in der Sache. Ich halte die Splittung der Zuständigkeit - das habe ich vorhin gesagt - für einen außerordentlich problembeladenen Vorgang. Das heißt, es muss gute Gründe dafür geben. Jetzt argumentieren Sie, dass das mit dem Verhältnis der Landräte zu den zukünftig privatisierten Krankenhäusern schwierig sei, regeln aber in einem eigenen Paragrafen des vorliegenden Gesetzes, dass die Institution KV Zugriff auf die Ärzte im Krankenhaus bekommen soll. Diese Extraregelung wäre unter Umständen auch für die Landkreise denkbar gewesen. Also dadurch erschließt sich keinesfalls die Notwendigkeit dieses Systemwechsels.
Eine zweite Frage, die ich habe: Stimmen Sie mir darin zu, dass das insofern ein Nullsummenspiel ist, als die Notärzteschaft im ambulant tätigen Bereich bereits jetzt weitgehend im Rettungsdienst fährt, dort also kein Zugewinn zu erwarten ist?
Herr Scharf, Sie haben die Debatte als sozialpopulistisch bezeichnet. Deswegen würde ich Sie gern fragen. Die Bundesregierung hat zwei Armuts- und Reichtumsberichte veröffentlicht. Im Zeitraum zwischen der Veröffentlichung des ersten und des zweiten Berichts war bei der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen ein Anstieg der Armut um 4,2 Prozentpunkte zu verzeichnen. Das Land Sachsen-Anhalt liegt dabei mit 19,3 % um 6 Prozentpunkte über dem Bundesdurchschnitt. In der Altersgruppe der bis 15-Jährigen liegt Sachsen-Anhalt mit 8,7 Prozentpunkten über den Daten der alten Länder. Deswegen meine Frage: Erschließt sich für Sie der Zusammenhang zwischen Armut, sozialer Desintegration und Gewalt tatsächlich nicht?
Meine Damen und Herren! Ich denke, keines der Reformgesetze der vergangenen Jahre hat so viele Wellen ausgelöst wie die Sozialgesetzgebung II, zunächst natürlich bei den Betroffenen, weil mit einem Einkommen in der Höhe der Regelsätze oder etwas darüber auszukommen tatsächlich kein Zuckerschlecken ist. Wir haben heute mehrfach darüber diskutiert.
Nunmehr haben die Wellen die Seiten gewechselt. Gestatten Sie mir die Bemerkung: Genau diejenigen, die sich damals über überzogene Forderungen und Entgleisungen - da zu Recht - echauffiert haben, bedienen sich nun annähernd der gleichen rhetorischen Qualität. Ich will es einmal etwas spitz sagen: Ich bin davon überzeugt, dass Herr Daehre, als er den Bericht von Wirtschaftsminister Clement gelesen hat, mit Sicherheit ebenso verärgert und geradezu reflexartig von seinem Stuhl aufgestanden ist, als er gesehen hat, dass Arbeitslosengeld-II-Empfänger zumindest in die Nähe parasitärer Verhaltensweisen geschoben wurden.
Meine Damen und Herren! Das neue System hat keine Kosteneinsparungen gebracht, im Gegenteil. Für Kosteneinsparungen - unter anderem zumindest - war es eigentlich gedacht. Es ist - das ist heute schon gesagt worden - annähernd 6 Milliarden € teurer.
Nun geht bei öffentlichen Debatten über die Ursachen offenbar jedes Augenmaß verloren. Man bekommt den Eindruck, schuld sei massenhafter Missbrauch, schuld seien Leute, die maßlos in ihren Ansprüchen seien, die unflexibel seien und manchmal eigentlich überhaupt bloß zu faul zum Arbeiten. Ich will es klar sagen: Ich habe wenig Sympathie für Menschen, die auf Kosten von anderen leben, habe aber den Eindruck, dass diese relativ gleichmäßig verteilt sind,
allerdings im Einzelnen, finanziell gesehen, in außerordentlich unterschiedlichen Dimensionen. Ich weiß nicht,
wo das kriminelle und kreative Potenzial anfängt, wenn es darum geht, Chancen zu nutzen, das eigene Salär aufzubessern, ob es nun bei 331 € beginnt oder bei 4 200 € oder bei noch mehr.
Meine Damen und Herren! Das Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik hat sich im Jahr 2000 - zugegeben noch unter dem alten Recht des Bundessozialhilfegesetzes - dieser Problematik gewidmet. Danach hatten im Jahr 1999 etwa 2,3 % - Klammer auf, Ausrufezeichen, Klammer zu - der Sozialhilfehaushalte nicht die Arbeitseinkommen angegeben, die anzugeben waren. Das betrifft von den 1,4 Millionen Sozialhilfeempfängern ungefähr 33 000 Personen, meine Damen und Herren. Das macht die Dimension oder auch die Nichtdimension, die man auch gern gesellschaftlich vergleichen kann, deutlich.
Menschen handeln in der Regel rational, wägen ihre Vor- und Nachteile ab. Ganze Berufsgruppen leben davon, gesetzliche Möglichkeiten randvoll auszuschöpfen. Ich würde Ihnen vorschlagen: Lassen Sie die Kirche an dieser Stelle im Dorf und lassen Sie uns wieder auf das Wesentliche kommen.
Lassen Sie uns ein solches Stammtischniveau der Debatte zurückweisen. Ich fände es auch gut, wenn die SPD-Fraktion ihrem Wirtschaftsminister gegenüber diese Größe aufbrächte.
Wesentlich ist, meine Damen und Herren: Das Institut für Arbeits- und Berufsforschung hat in einer Studie die Daten der ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfänger untersucht. Das sind ungefähr 83 % der jetzt Betroffenen. Von diesen 83 % sind es 65 %, die zu den Verlierern gehören, im Osten, wohlgemerkt. Es sind bundesweit 65 %, die im Durchschnitt mit 20 % Einkommenseinbußen rechnen müssen.
Die restlichen 35 % - so viel zum Thema Kostenaufwuchs; das hat das IAB festgestellt - gehören zu denjenigen, die höchstwahrscheinlich Einkommen bezogen haben, die unterhalb des Sozialhilfesatzes lagen, die also genau genommen ein Recht hatten und dieses nicht in Anspruch genommen haben, das aber jetzt tun. Das ist mit Sicherheit auch ein wesentlicher Faktor dafür, dass die Kosten angestiegen sind.
Das EU-definierte Existenzminimum liegt bei 942 € pro Mensch. Das macht eine Tendenz deutlich. Auch aus der besagten IAB-Studie geht hervor, dass es 942 € monatlich sind, die eine Bedarfsgemeinschaft zur Verfügung hat. Es mag sein, Herr Scharf, dass Sie nicht in das Mitzeichnungsverfahren der EU-Kommission eingebunden sind.
Ich finde es auch bedauerlich, dass Sie nicht gefragt haben, was die EU unter Armut versteht. Dass Sie darüber auch sauer sind, das kann ich alles gut verstehen.
Angesichts der heute von Ihnen abgegebenen, wie ich finde, wenig qualifizierten Bewertung dessen, was hoch dotierte Sozialforscher im Rahmen der Bundesberichterstattung geleistet haben, weiß ich gar nicht, ob ich darüber so doll traurig wäre.
Meine Damen und Herren! Es wird eine Tendenz deutlich. Man kann sich trefflich über die Armutsquote streiten, man kann sich trefflich über die Zahl streiten, die nun die Grenze sein soll, aber eines wird dennoch deutlich, auch wenn man die Zahlen nicht liebt: Die Zahl der Haushalte, die sich an der Schwelle befinden, hat in den letzten zwei Jahren drastisch zugenommen.
14,4 % der Wohnbevölkerung in Sachsen-Anhalt sind von Hartz IV betroffen, bei den Kindern und Jugendlichen sind es 26,7 %.
Der Armutsbericht der Bundesregierung - ich habe es vorhin in meiner Anfrage bereits erwähnt - setzt die bundesweite Armutsquote auf 13,5 % - also ein bundesweiter Zuwachs von reichlich einem Prozentpunkt - herauf. Bei den bis 15-Jährigen beträgt der Zuwachs ebenfalls etwa einen Prozentpunkt, bei den 16- bis 24-Jährigen 4 Prozentpunkte. Schaut man sich die neuen Länder an, dann liegen wir mit 19,3 % satte 5 Prozentpunkte über der Quote der alten Länder.
Betroffene bis 15 Jahre liegen mit 22,5 % Anteil an der Armutsquote um 8,7 Prozentpunkte höher als in den alten Bundesländern. Bei den 16- bis 24-Jährigen liegt der Anteil immer noch 4,3 Prozentpunkte höher, nämlich bei 22,4 %. Wenn man davon ausgeht - das will ich an dieser Stelle polemisch sagen -, dass die 20 % sehr hoch angesetzter Missbrauch im Sozialhilfebereich ein Massenphänomen sind, wer will dann noch in Abrede stellen, dass Armut in diesem Land bereits ein Massenphänomen ist?
Meine Damen und Herren! Die Diagnose ist eindeutig: Armut wird zu einem zentralen Problem, mit dem wir uns auseinander zu setzen haben. Dazu will ich klar sagen: Das Problem ist nicht eine Episode im Leben, in der man einmal mit relativ wenig Geld auskommen muss. Eine solche Episode wird man nie verhindern können. Das stärkt unter anderem - so weit würde ich auch gehen - soziale Kompetenzen. Das ist gar nicht die Frage.
Das Problem ist die chronifizierte Armut. Heute früh in der Aktuellen Debatte wurde es schon gesagt: Die vererbte, soziologisch von einer Generation zur anderen Generation vererbte Armut, das ist das Problem, meine Damen und Herren, weil damit hochproblematische Kreisläufe in Gang gesetzt werden. Damit ist die ganze Debatte um den Missbrauch so weit am Leben und so weit am wirklichen Problem vorbei, dass es den Hund samt Hütte jammert.
Ein parteiübergreifendes Trostpflaster im Wahlkampf war, die Regelsätze Ost an das Niveau West anzugleichen. Darin waren sich alle Volksparteien einig, wenn ich es recht in Erinnerung habe. Ich muss sagen, zwischenzeitlich habe ich gedacht, es ist in Ordnung. Die Meldungen waren so, dass man tatsächlich davon ausgehen konnte, dass diese Wahlversprechen eingehalten werden. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass der Punkt 1 und der Punkt 2 unseres Antrages obsolet geworden sind. Gestern, als die Änderungsanträge eingingen, habe ich gedacht: Aha, ertappt, meine Damen und Herren!
Jetzt gibt es eine ganz andere Wende. Es gibt ein paar ganz Schlaue, die halten die Kürzung der Regelsätze auf Ostniveau für eine hochinnovative Angelegenheit,
darunter, wenn mich nicht alles täuscht, der Staatssekretär Haseloff. Der will auch nicht in den Westen gewählt werden. Meine Damen und Herren! Das ist außerordentlich mutig, die Ossis gegen die Wessis, und zwar unterste Schublade.
Man muss sich fragen, hatten Sie den Eindruck - all diejenigen, die jetzt über die Höhe der Regelsätze diskutieren und die unterschiedlichsten und innovativen Vorschläge machen -, dass die Festsetzung der Regelsätze eine politische Größe war? Ich will zugeben, dass ich diesen Eindruck mitunter auch hatte. Man hatte schon mitunter das Gefühl, dass die Steuerersparnis der Bundesregierung irgendwie refinanziert werden musste - gar keine Frage.
Diese Systematik kann man kritisieren, und trotzdem ist es eine. Das ist nämlich auf der Basis der Einkommens- und Verbraucherstatistik erstellt worden. Die ist zugegebenermaßen alt. Die ist nämlich schon sieben Jahre alt. Aber jetzt zu sagen, wir machen mal diesen Vorschlag, wir machen mal jenen Vorschlag, dann treffen wir uns in der Mitte und dann sagen wir, die Wessis sollen sich an die Ossis anpassen - - Meine Damen und Herren! Das macht den Eindruck, als hätte sich Politik auch vorher keine Platte darüber gemacht, wie Arbeitslosengeld-IIEmpfänger mit ihrem monatlichen Einkommen auskommen sollen.
Ich habe der Presse entnommen, dass sogar das Fraunhofer-Institut diagnostiziert hat, dass die Sozialhilfeempfänger seit den 90er-Jahren - damals waren es noch Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen - mit 20 % Einkommenseinbußen leben mussten. Wenn man sich überlegt, dass selbst die Berechnung aus dem Jahr 1998 aus meiner Sicht eine hochproblematische war, das bereits sieben Jahre her ist und wir alle miteinander die Preissteigerungen kennen, dann ist das keine verwunderliche Diagnose. Um diese Entwicklung zu stoppen, fordern wir statt der Kopplung an die Rente die Kopplung an den Inflationsausgleich.
Ein zweiter Punkt, meine Damen und Herren. Nicht zu vergessen war die Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, das Herzstück der Gemeindefinanzreform. Sie sollte wieder Spielraum für die Kommunen bringen. Gesetzlich verbrieft waren 2,5 Milliarden € Einsparungen. Die Spielregeln für die nun anstehende Revision sind im Gesetz festgeschrieben.
Das Problem ist bloß, sie sind kaum praktikabel, weil ein seriöser Vergleichsfaktor fehlt. Der Vergleichsfaktor sollte sein: Was hätten die Kommunen ausgegeben, wenn das BSHG weiter die Grundlage gewesen wäre? Es ist also ein fiktiver Vergleich, wofür kaum Berechnungen zugrunde liegen, was kaum jemand ermessen kann, was also sehr nahe an den Bereich der Spekulation kommt.
2,5 Milliarden €, die Einsparungen für die Kommunen sein sollen, die sich nun auch in den Änderungsanträgen von CDU und FDP wiederfinden - - Meine Damen und Herren, das müssen wir hier nicht beschließen. Das steht im Gesetz. Das ist auch nicht der Dissens, sondern die Frage, welche Berechnungen nehme ich als Grundlage, damit diese 2,5 Milliarden € unter dem Strich für die Kommunen herausspringen. Da, denke ich, ist es ganz klar eine Milchbubenrechnung zu sagen, Bundesanteil auf null und Rückzahlungen fordern.
- Da sind Sie nicht auf dem neuesten Stand, Herr Gürth.
Wir erheben also, wie Sie gut lesen können, nicht die Forderung der kommunalen Spitzenverbände, jetzt gleich bei 34 % oder 34,4 % anzulangen. Ich denke bzw. wir denken, dass diese Verhandlungen im Moment tatsächlich nicht mehr aufgrund von Berechnungen geführt werden können. Das muss vielmehr politisch ausgehandelt werden.
Fakt ist, dass sich der Bund angesichts der derzeitigen finanziellen Belastung der Kommunen mit Sicherheit nicht unter 29 % zurückziehen kann, um wenigstens die 2,5 Milliarden € zu garantieren.
Unsere Forderung heißt demnach: Rückforderungen kann es nicht geben. Das können die Kommunen gar nicht leisten. Da können die Kommunen zumachen, die meisten jedenfalls. Auch der Bundesanteil kann nicht zurückgefahren werden. - In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung für unseren Antrag.
Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich zunächst dafür, dass die Frage des Missbrauchs von allen wirklich mit sehr viel Verantwortungsbewusstsein thematisiert wurde.
Das finde ich schon gut, ich will nicht sagen bemerkenswert.
Eine erste Bemerkung zu den 2,5 Milliarden €. Darin liegt nicht der Dissens. Das ist, wenn ich es richtig in Erinnerung habe, sogar im Gesetz festgeschrieben. Aber Einsparungen in Höhe von 2,5 Milliarden € kann ich nur ausrechnen, wenn ich vorher eine Bezugsgröße habe. Hinsichtlich der Bezugsgröße besteht ein Dissens.
Herr Clement hat eine Rechnung aufgestellt, bei der er auf enorme Einsparungen, vielleicht sogar auf eine zweistellige Milliardensumme, gekommen ist. Es sind aber auch andere Sachen möglich, bei denen man tatsächlich auf diese 2,5 Milliarden € kommt. Es gibt noch viele andere Rechnungen.
Die Frage ist: Was ist der Ausgangspunkt für die Berechnung dieser Verbesserungen oder Entlastungen? Das ist eine sehr strittige Frage. Wer von uns weiß, wie sich die Kosten entwickelt hätten, wenn wir weiterhin das BSHG gehabt hätten? Aus meiner Sicht ist das - ich weiß es nicht, aber ich muss auch nicht darüber verhandeln - eine nicht mehr errechenbare Größe. Das ist nur noch politisch verhandelbar. Deshalb haben wir unseren Antrag vorgelegt.
Wir unterscheiden uns nicht bezüglich der 2,5 Milliarden €. Wir sind der Meinung, es muss jetzt einmal ein Strich darunter gezogen werden. Wir müssen klarstellen: Es gibt keine Rückforderung gegenüber den Kommunen - das wäre, nebenbei gesagt, Irrsinn - und der Bundesanteil bleibt auf dem Niveau, auf dem er jetzt ist. Dann hätten wir die Kommunen finanziell in etwa so gestellt, wie sie jetzt sind. - Das also ist der Unterschied.
Zu der Frage der handwerklichen Fehler. So viele kann ich gar nicht finden. Ich billige der SPD zu, dass das immer wieder angesprochene Thema der Bedarfsgemeinschaften und des Anspruches von unter 25-Jährigen auf
eine eigene Wohnung gerade kein handwerklicher Fehler war, sondern dass es - das kann ich nicht begrüßen - der Versuch war, in diesem Gesetz Menschen unter 25 Jahren wenigstens ein kleines bisschen Selbstbestimmung und Autonomie zuzugestehen. Wir müssen uns nicht darüber wundern, dass das nun genutzt wird.
Ich stelle allerdings infrage, dass das Mehrbelastungen in Milliardenhöhe - jetzt ist sogar von 10 Milliarden € oder mehr die Rede gewesen - ausmacht. Um es noch einmal klar zu sagen: Dass das Mehrkosten in Höhe von 10 Milliarden € begründet, halte ich für eine Milchbubenrechnung.
Eine dritte Bemerkung. Ich weiß, dass Sie das nicht so gemeint haben, Frau Fischer. Trotzdem sage ich: Großzügigkeit ist relativ. Jetzt wiederhole ich mich. Die Abschaffung des Rückgriffs habe ich für einen wirklichen Fortschritt in diesem Gesetz gehalten. Jetzt zu sagen, wir schaffen das wieder ab und fallen in das alte Sozialhilferecht zurück, das fände ich - -
- Das habe ich Ihnen auch nicht unterstellt. Ich wollte nur sagen: Großzügigkeit ist relativ.
Wir haben es einmal an einem konkreten Beispiel durchgerechnet. In Schönebeck haben etwa 500 Jugendliche diese Regelung genutzt. Wenn man einmal unterstellt, dass durchschnittlich 270 € für die KdU gezahlt werden, dann komme ich bestenfalls auf die eine dreistellige Millionensumme, aber nicht auf eine Milliardengröße.
Um es kurz zu machen: Ich würde also sehr vorsichtig damit sein, diese Sache wieder abzuschaffen.
Zu den Vorschlägen zum Abstimmungsverfahren. Ich muss gestehen, dass mir dafür das entsprechende Gen fehlt. Deshalb würde ich das demjenigen überlassen, der den Ausführungen etwas aufmerksamer gefolgt ist, unserem Fraktionsvorsitzenden.
Meine Damen und Herren! Herr Jantos, das könnte Ihnen so passen - uns hier einfach Familienfeindlichkeit zu unterstellen und gut ist die Sache.
Ich will eines vorausschicken - eigentlich wollte ich es mir verkneifen -: Dass Familienpolitik auf der Tagesordnung steht, ist sehr wohl ein Verdienst der Landesregierung. Aber, meine Damen und Herren, was Sie vorgelegt haben, das wird diesen Maßstäben mit Sicherheit nicht gerecht.
Es musste irgendetwas her, das Schlagzeilen macht und das parlamentarische Beschäftigung erzeugt. Das ist Ihnen auch gelungen, keine Frage. Aber wie wirksam das Gesetz ist, das kriegen Sie heraus, wenn sich einmal jeder fragt, was eigentlich passiert, wenn dieses Gesetz den Landtag nicht passieren würde. - Nichts, meine Damen und Herren, niente.
Familienverbände würden weiter gefördert, die Stiftung „Familie in Not“ würde weiterarbeiten, die Förderprogramme würden weiterlaufen, die sozialen Beratungsstellen würden weiter gefördert. Mit Verlaub, meine Damen und Herren, sogar das KiFöG würde weiterhin gelten.
- Richtig. Deshalb brauchen wir das Gesetz nicht. Ganz genau so ist es.
Im Großen und Ganzen hat der liberale Familienminister ein strukturkonservatives Gesetz vorgelegt. Genau das ist der Grund, weshalb wir nicht zustimmen werden; denn auch nicht die Bedeutung der einzelnen Maßnahmen wird dadurch größer, weil überall der Haushaltsvorbehalt steht, meine Damen und Herren. Das heißt, wir werden über jeden einzelnen dieser Bestandteile bei Haushaltsverabschiedungen erneut beraten.
Nun könnte man sagen, dass das ein politisches Signal ist - in Ordnung. Meine Damen und Herren, es war immer vom kleinen Schritt die Rede.
Aber ich denke, auch das ist ein großer Irrtum, weil das vorgelegte Familienfördergesetz nämlich die Chance, eine tatsächliche Reform in Gang zu bringen, die es durch
aus hatte, vertan hat. Das wären dann - mit Verlaub - vielleicht nicht so viele Artikel gewesen, aber ich denke, dass die Wirkung ungleich höher gewesen wäre.
Sie haben die alte Schule der Förderpraxis fortgeschrieben: Man erfinde einen Fördergegenstand, man nehme Geld in die Hand und man bestimme einen Landesbeamten, der das Geld ausgibt. Was Sie damit erreichen, sind nichts weiter als diese traditionellen und eindimensionalen Finanztransfers vom Schreibtisch eines Landesbeamten hin zur geförderten Familie. Was Sie damit nicht erreichen, sind Struktureffekte, meine Damen und Herren, sind Synergien.
Die Ausbeute an Effizienz und Wirksamkeit verhält sich nun einmal umgekehrt proportional zum Abstand zwischen dem Schreibtisch eines Landesbeamten und demjenigen, der gefördert werden soll.
Denn je zentraler eine solche Förderpraxis ist, desto ineffizienter ist sie auch. Das ist ein ganz normaler Vorgang. Das Ergebnis ist, dass 500 000 €, die in den Haushalt für Familienbildungsmaßnahmen eingestellt worden sind, nicht abfließen. Das weiß hier jeder. Das Ergebnis ist genau so.
Das Stichwort Elternbriefe ist schon gefallen. Klar, es ist eine freundliche Geste, meine Damen und Herren. Aber diejenigen, die diese Hilfe bekommen und sie lesen könnten, brauchen sie nicht; sie gehen ohnehin in die Bibliothek und wissen das alles schon. An denjenigen, die wirklich Hilfe brauchen, gehen Sie mit diesen Briefen vorbei. Zu denen finden Sie gar keinen Zugang. Für solcherlei Briefe können Sie eine Internet-Seite aufmachen. Die gibt es noch und nöcher.
Wir haben ein halbes Dutzend Beratungsstellen, meine Damen und Herren. Wir haben gleichermaßen ein halbes Dutzend Zuständigkeiten. Wir haben ein halbes Dutzend unterschiedliche Förderungsprogramme und gleichzeitig noch ein halbes Dutzend unterschiedliche Finanzierungsformen. Wir fördern ein Vor-sich-hin-Wursteln nunmehr auch in diesem Bereich - Konkurrenz statt Kooperation.
Die Festschreibung dieser Praxis im Familienfördergesetz - das ist unsere Argumentation - ist eine vertane Chance, genau diese Praktiken endlich zu durchbrechen und zur Kenntnis zu nehmen, dass Familienpolitik vor Ort stattfindet, dass man dort die Wirksamkeit verbessern kann, dass man dort die soziale Infrastruktur vernetzen kann,
dass dort Beratungsangebote unter einem Dach möglich sind, dass man dort, wenn Gelder vorhanden sind, tatsächlich vorhandene Bedarfe fördern kann.
Ich will es zum Schluss an zwei Beispielen deutlich machen. Sinn macht nach unserer Auffassung die Einführung und Förderung von regionalen und kommunalen Familienpässen. Sie können kulturelle und soziale Angebote in der Region vernetzen - private Anbieter gibt es dafür genügend - und können dann mit dem Geld der Kommune und des Landes auch solche Angebote einkaufen, zum Beispiel für Familien aus den unteren Einkommensgruppen.
Nein, jetzt nicht. - Eine zweite Möglichkeit wäre - sie ist bei Herrn Jantos auch angeklungen -, die 8,3 Millionen € für die gesamte Palette der Beratungsstellen zu kommunalisieren, zusammenzufassen und zweckgebunden an die Kommunen zu geben. Dann bekommen Sie wirklich Synergien hin, dann bekommen Sie Struktureffekte hin. Das wären tatsächlich ehrgeizige und sinnvolle Projekte gewesen. Die könnte man dann wirklich ernst nehmen.
Was jetzt vorliegt, meine Damen und Herren, ist Lyrik, ist eine Willensbekundung, alles so weiter zu machen wie bisher. Das mutet so ein bisschen an wie bei dem Märchen von des Kaisers neuen Kleidern: Alle stehen herum und murmeln, keiner traut sich zu sagen, der hat nichts an oder, in diesem Falle, da ist nichts drin.
Wir werden dem Familienfördergesetz aus diesem Grunde nicht zustimmen. Wir werden uns dort der Stimme enthalten, wo es sich um alte Hüte handelt. Wir werden dagegen sein, wo es Zentralismus in neuer Form gibt, und wir werden an einer Stelle dafür stimmen.
Das sind die Neuregelungen zum Unterhaltsvorschussgesetz; denn das ist tatsächlich ein vernünftiger Ansatz, um Familien- und Sozialpolitik zu kommunalisieren.
Bezug nehmend auf die Bemerkungen zur Finanzierung möchte ich gern darauf hinweisen, dass wir 500 000 € für Familienerholungsmaßnahmen in den Haushalt eingestellt haben, die nicht abfließen. Ich habe auch etwas zu den 150 000 € für Elternbriefe gesagt. Ich möchte zudem darauf hinweisen, dass 1,5 Millionen € bereits in diesem Gesetz veranschlagt sind, die den Kommunen künftig zur Verfügung stehen sollen, die, wie ich vorhin ausgeführt habe, auch unsere Unterstützung finden.
Frau Dr. Hein, ich würde gerne ein Missverständnis aufklären. Nach der Regelsatzverordnung beträgt der absolute Anteil des Regelsatzes für Verkehrsdienstleistungen - das hatten Sie erwähnt - 17,91 €. Dieser Regelsatz gilt in allen neuen Bundesländern, in ähnlicher Weise auch in Hamburg und in Sachsen-Anhalt. Ich könnte auch alle Bundesländer aufzählen. Somit kann es sich um keinen Einzelfall handeln. Stimmen Sie dieser Auffassung zu?
Meine Damen und Herren! Den Medien war zu entnehmen, dass sich die Arge der Stadt Halle entschlossen hat, die Gewährung von Zuschüssen zu Unterkunftskosten für volljährige junge Erwachsene von ihrer Zustimmung zum Beziehen eigenen Wohnraums und somit zur Gründung einer eigenen Bedarfsgemeinschaft mit eigenem Wohnraum abhängig zu machen.
In der „Mitteldeutschen Zeitung“ wurde - an dieser Stelle muss ich mich korrigieren und gleichzeitig entschuldigen; denn in der Kleinen Anfrage wurde fälschlich der Wirtschaftsminister genannt - Staatssekretär Herr Haseloff dahin gehend zitiert, dass er dieses Vorgehen ausdrücklich begrüße.
Ich frage die Landesregierung:
1. Welche Beweggründe sind es, die den Staatssekretär bewogen haben, das Vorgehen ausdrücklich zu unterstützen?
2. Auf welcher Rechtsgrundlage wird nach Kenntnis der Landesregierung ein solches Vorgehen in Halle legitimiert?
Herr Minister, die Frage 1 haben Sie übergangen. Allerdings erübrigt sie sich auch in gewisser Weise.
Ich werde dennoch eine zusätzliche Frage stellen. Sie sprachen von „überhöht“. Es muss doch eine rechtliche Grundlage dafür geben, einem jungen Erwachsenen, der nach SGB II rein juristisch - das ist eigentlich auch unangefochten - das Recht hat, sich eine eigene Wohnung zu suchen, dieses Recht zu verwehren. Ich verstehe das Anliegen, die Kosten zu dämpfen. Dennoch: Das SGB II schreibt einem jungen Erwachsenen eindeutig ein Recht darauf zu.
Deshalb meine Frage: Wie ist die Einschränkung dieses Rechtes durch die Stadt Halle zu legitimieren?
Meine Damen und Herren! Die Sozialreformen in den vergangenen Jahren gingen in aller Regel mit Belastungen einher, die nicht zu knapp bemessen waren, vor allen Dingen für Kranke, für Menschen mit Behinderungen und für Familien mit ohnehin geringem Einkommen. Sie wurden von den Betroffenen wohl kaum als Wohltat empfunden.
Die Gesundheitsreform hat die Zuzahlungsregelungen verschärft und erfand die Praxisgebühr. Einst als Steuerungselement gedacht, um gegen Arzthopping und private Medikamentensammlungen vorzugehen, hat sie sich im Wesentlichen - das ist auch die Einschätzung vieler kassenärztlicher Vereinigungen - darauf reduziert, dass die Stufe des Zugangs zu Leistungen des Gesundheitssystems für diejenigen, die über wenig finanzielle Mittel verfügen, höher gelegt wurde.
Die Praxisgebühr führte nach Aussagen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der kassenärztlichen Vereinigungen Thüringen und Berlin zu einem Rückgang der Vorsorgeuntersuchungen - das sollte uns sehr bedenklich stimmen - und auch zu Defiziten bei der Versorgung von Familien in unteren Einkommensschichten. Vor allem für Langzeitarbeitslose, sprich Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II, ist damit der Zugang zu Leistungen des Gesundheitssystems deutlich verschlechtert worden.
Der Eckregelsatz beruht auf Berechnungen, die in das Jahr 1998 zurückgehen, auf die damalige Einkommens- und Verbraucherstatistik. Die nun eingetretenen Zuzahlungen sind damals überhaupt noch nicht abgebildet worden. Das ist korrigiert worden, indem man den Bereich Gesundheitsleistungen höher kalkuliert hat. Bei anderen Bereichen hat man den Anteil aber gekürzt. 1 % des Einkommens muss auch von diesen Betroffenen für Zuzahlungen aufgebracht werden.
Andere Gesundheitsleistungen wiederum werden bei der Befreiung von der Zuzahlung gar nicht berücksichtigt. Ich nenne nur als Beispiel die Frage des Zahnersatzes. Dafür müssen Empfängerinnen und Empfänger von Arbeitslosengeld II bei der gleitenden Härtefallregelung bis zu dem dreifachen Satz ihres Regelsatzes selbst zahlen.
Zwei Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellen: Welche Folgen haben diese prekären Lebenslagen für das Gesundheitsverhalten und - das ist das, was hier und heute konkret zur Debatte steht - welche Schlussfolgerungen müssen bei der Umsetzung unserer Gesundheitsziele in Sachsen-Anhalt Berücksichtigung finden? Oder anders formuliert: In welcher Weise sollten sozialpolitische Aspekte Eingang in die Umsetzung der Gesundheitsziele finden, sodass Gesundheit in allen Lebenslagen möglich bleibt?
Meine Damen und Herren! Dass es einen Zusammenhang zwischen prekären Einkommensverhältnissen oder Lebenslagen und Gesundheit gibt, gehört im Grunde genommen zu den Binsenweisheiten von Gesundheits-, Innen- und Sozialpolitikerinnen und -politikern - dachte ich.
Das Robert-Koch-Institut konstatiert in seiner Gesundheitsberichterstattung im Jahr 2001, Heft 3, Seite 9 - ich zitiere -:
„In Armut aufgewachsene Kinder und Jugendliche weisen eine signifikant höhere psychosoziale Morbidität auf: Ängstlichkeit, Hilflosigkeit und ein geringeres Selbstvertrauen. Die Wahrscheinlichkeit, gesundheitliche Belastungen aufgrund der Armut zu erfahren, ist immer erhöht. Damit wird deutlich, dass durchgängig ein Einfluss der Armutslage auf das gesundheitliche Befinden und die Lebensfreude von Kindern und Jugendlichen vorliegt.“
Ich sagte es: Ich dachte, dass das unter Sozial- und Gesundheitspolitikerinnen Konsens sei - bis zu der Sitzung des Gesundheitsausschusses vor der Sommerpause. Meine Frage nach der Berücksichtigung sozialer Lebenslagen bei der Umsetzung der Gesundheitsziele löste dort einigermaßen Eruptionen aus, die in dem Satz des Ministers gipfelten, eine Zahnbürste könne sich schließlich jeder leisten. - Ja, klar, als wenn das Vorhandensein einer Zahnbürste in einem Haushalt über das Gesundheitsverhalten im Bereich Zahn entscheidet.
Meine Damen und Herren! Das ist Zynismus und es ist schlichtweg eine Unverschämtheit und es beschreibt seine Qualifikation als Gesundheits- und Sozialminister.
Das mag ich Ihnen nicht schenken.
Ich bleibe bei dem Beispiel Zahngesundheit; denn das ist eines der Gesundheitsziele, die wir in Sachsen-Anhalt definiert haben.
Das Ernährungsverhalten hat bekanntermaßen erheblichen Einfluss beispielsweise auf die Zahngesundheit. Genau das ist bei Kindern und Jugendlichen aus so genannten Armutsfamilien problematisch. Der Gesundheitsbericht 2001 zeigt deutlich, dass gerade Gewohnheiten wie das tägliche Zähneputzen in diesen Familien deutlich schwächer ausgeprägt sind. Cola, Süßgetränke oder Fastfood sind sehr viel häufiger auf dem dortigen Speiseplan als in anderen Familien. Vollkornbrot findet sich bei vielen Familien fast nie bzw. selten.
Meinethalben, wenn Sie den Bundesgesundheitsbericht für grün-rot ideologisiertes Teufelszeug halten, dann verweise ich auf die Studie von Klocke, die Mitte der 90erJahre in Nordrhein-Westfalen gemacht wurde und dieselben Ergebnisse aufweist.
Ein weiteres Kriterium ist der Sanierungsstand der Zähne. Der wird gemeinhin gemessen am so genannten DMFT-Wert. Auch dieser variiert eindeutig mit dem beruflichen Status der Eltern und damit mit der Schichtzugehörigkeit. Die Anzahl der kariösen Zähne, der wegen Karies entfernten oder gefüllten Zähne - das ist dieser DMFT-Wert - ist bei Kindern aus den unteren sozialen Schichten deutlich höher als bei Gleichaltrigen aus den anderen Familien.
Diese Schere ist im Übrigen in den alten Bundesländern interessanterweise größer als in den neuen Bundesländern. Dieses Ergebnisse sind Anfang der 90er-Jahre bei einer Studie in den alten und neuen Ländern herausgefunden worden.
Sieht man sich beispielsweise die Problematik des Rauchens an: Ende der 80er-Jahre - die Zahlen sind also schon relativ alt - ist eine Studie in Südbaden gemacht worden. Dabei ist herausgekommen, dass der Anteil der rauchenden Schülerinnen und Schüler in den Hauptschulen erheblich höher ist als in den Gymnasien.
Das gleiche Bild ergibt sich beim Impfstatus oder bei der Teilnahme an den U 1- bis U 9-Untersuchungen. Dieses Bild, meine Damen und Herren, ließe sich beliebig weiter ergänzen, wenngleich man auch sagen muss, dass die Anzahl sozioepidemiologischer Studien in Deutschland einen nicht gerade vom Hocker reißt.
Gesundheitsförderung ist also eine komplexe sozialpolitische und gesundheitspolitische Angelegenheit.
Sowohl durch die langjährige Geschichte der Gesundheitsförderung als auch durch die etwas kürzere Geschichte der Praxis der Gesundheitsziele zieht sich das Stichwort Chancengleichheit, also zwischen den Geschlechtern, zwischen den Generationen, zwischen armen und reichen Ländern, aber ebenso auch zwischen den verschiedenen sozialen Schichten innerhalb eines Landes.
Sachsen-Anhalt war im Jahr 1998 das erste der fünf neuen Länder, das sich Gesundheitsziele stellte. Hierbei konnte uns die Landesregierung gern erfolgreich beerben; das hat sie auch getan.
Auf der zweiten Landesgesundheitskonferenz sind diese Ziele neu justiert und mit Zielgruppen versehen worden, darunter Kinder und Jugendliche, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber, Seniorinnen und Senioren. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden, auch nicht gegen den Setting-orientierten Ansatz, also Menschen dort anzusprechen, wo sie große Teile ihres Tages oder ihres Lebens verbringen.
Aber, meine Damen und Herren, Gesundheitsziele bzw. deren Umsetzungsstrategien kommen nicht ohne sozialpolitische Differenzierungen aus, wenn sie erfolgreich sein wollen.
Es gibt nicht das durchschnittliche Kind. Das ist lediglich für eine Statistikerin oder einen Statistiker eine erhebliche Größe. Es gibt auch nicht den Durchschnittsarbeitgeber, die Durchschnittsarbeitgeberin oder den durchschnittlichen älteren Menschen.
Sozialpolitische Kategorien müssen mit bedacht werden, sonst geht es daneben. Es geht beispielsweise um die Frage des Einkommens in der Familie, um kulturelle und ethnische Fragen, um Fragen des Bildungsniveaus, Fragen des Lebensstils usw. usf. Um einem gern gepflegten Missverständnis vorzubeugen: Es geht uns nicht um Sonderprogramme für Sozialschwache oder meinethalben so genannte Sozialschwache.
Es geht darum zu berücksichtigen und in die Planungen einzubeziehen, dass Menschen in sehr unterschiedlichen Lebenslagen zu Hause sind und dass diese jeweils unterschiedlichen Lebenslagen auch einen erheblichen Einfluss auf das Gesundheitsverhalten haben.
Das ist ein Thema für alle Gesundheitsziele, die wir in Sachsen-Anhalt haben, sowohl bei der Zahngesundheit als auch bei der Frage des Rauchens, der alkohol
bedingten Gesundheitsschäden und des Impfstatus. Da hilft auch nicht die von Frau Pieper geforderte Wiedereinführung der Impfpflicht. Das ist ein Thema bei der Frage des gesunden Bewegungsverhaltens und letztlich auch bei der Frage der gesunden Ernährung.
Genau darauf, meine Damen und Herren, zielt unser Antrag. Ich bin mir sicher, dass der Herr Minister jetzt Erfolgsmeldungen noch und nöcher abgeben wird. Das muss er ja auch. Das hat er heute auch schon oft genug geübt.
- Aber abgesehen davon und abgesehen von Ihrer Nummer mit der Zahnbürste, Herr Minister, die weder für Kompetenz noch für Sensibilität spricht - -
- Das dürfte auch Ihnen, Herr Gürth, bekannt sein.
Auch auf der Internetseite des Sozialministeriums findet man bis auf eine einzige, winzige Ausnahme keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Art des Herangehens bis in die Strategien vorgedrungen ist. Die strategische Seite ist nun einmal die Aufgabe des Ministeriums. Auch die Schulanfängerstudie bleibt - zumindest nach dem, was ich wahrgenommen habe - in dieser Hinsicht eine Leerstelle.
In diesem Sinne halten wir es nicht nur für redlich, sondern auch für verdammt notwendig, darüber zu reden. Ich werbe deshalb für Ihre Bereitschaft, diese Scharte im Ausschuss wieder auszuwetzen.
Meine Damen und Herren! Ich danke erst einmal für die sachliche Debatte. Ich finde, dass das dem Thema sehr angemessen ist.
Ich möchte noch etwas zu dem Thema Setting-Ansatz sagen. Ich habe gesagt, dass wir das uneingeschränkt teilen - keine Frage. Das Problem bei einem solchen lebensweltorientierten Ansatz ist natürlich, dass man alle sozialen Schichten und Gruppen beieinander hat; sie alle sind quasi anwesend. Aber in allen Bereichen - es spiegelt sich in der Familienpolitik und auch in der Sozialpolitik wider - bedarf es einer unterschiedlichen Ansprache, bedarf es unterschiedlicher Methoden.
Deswegen sage ich: Der Setting-Ansatz allein reicht noch nicht aus. Ich möchte nicht sagen, dass da nichts passiert; es ist für mich aber nicht sichtbar. Ich finde den Vorschlag von Frau Dr. Kuppe hilfreich, darüber im Ausschuss einmal zu diskutieren.
Ich bin jetzt allerdings mit dem Abstimmungsverhalten hoffnungslos überfordert; das muss ich ehrlich zugeben. Ich weiß nicht, ob es vielleicht sinnvoll ist zu sagen, wir überweisen den gesamten Antrag in den Ausschuss, und die Landesregierung sichert ihrerseits zu, dass sie dazu im vierten Quartal berichtet.
Wir können ja nicht einen Teil des Antrages in den Ausschuss überweisen und über den anderen direkt abstimmen. Unser Vorschlag ist, beide Punkte des Antrages in den Ausschuss zu überweisen, und Sie sichern zu, dass Sie in jedem Fall dazu berichten. Ja? - Also habe ich Ihr Wort.
Meine Damen und Herren! Spät kommt er, aber er kommt, der Entwurf.
Ich denke, das ist die Hauptsache. Ich will aber trotzdem sagen: Die ganz große Nummer ist es nun auch wieder nicht. Ich würde schon ein Stückchen tiefer fliegen.
Dennoch will ich auch für meine Fraktion sagen: Herr Minister, wir haben immer an Sie geglaubt und waren der festen Überzeugung,
dass Sie es noch in dieser Legislaturperiode hinkriegen.
Meine Damen und Herren! Auch für den Bereich des Rettungsdienstes müssen zwei Grundsätze gelten, die Grundsätze des SGB V, nämlich zum einen: Alles das, was medizinisch notwendig ist, muss denen, die Hilfe brauchen, zur Verfügung stehen; aber alles das, was medizinisch notwendig ist, ist nicht gleich dem, was medizinisch möglich ist. Zum anderen teilen wir auch den Grundsatz, dass dies effizient und wirtschaftlich geschehen muss; denn immerhin sind die finanziellen Mittel in erster Linie Versichertengelder.
Mit diesen Prämissen werden wir auch das Vorankommen des Entwurfes eines Rettungsdienstgesetzes begleiten. Immerhin handelt es sich um einen Betrag in Höhe von fast 80 Millionen € pro Jahr für die Kostenträger, und das mit steigender Tendenz.
Ich will auf wenige Schwerpunkte eingehen, die von allgemeinem Interesse sind. Ich denke, die anderen können wir dann eh miteinander im Ausschuss diskutieren.
Die Frage der Rettungsleitstellen: Das ist in allen Kreisen und Wahlkreisen heiß und kontrovers diskutiert worden. Bisher war es in Sachsen-Anhalt in den meisten Fällen so, dass Landkreis gleich Rettungsdienstbereich war. Nur einige Landkreise hatten den Mut und die Konzepte für Zusammenlegungen, also für eine kreisübergreifende Zusammenarbeit. Dennoch muss gesagt wer
den, dass diese Kleinteiligkeit außerordentlich problematisch ist, und zwar weil sie ineffizient und auch nicht notwendig ist.
In Sachsen-Anhalt kommen auf eine Leitstelle ungefähr 109 000 Menschen. Im Bundesdurchschnitt sind es weit mehr, mehr als doppelt so viele, nämlich 294 000 Menschen pro Leitstelle. Das ist überaus kostenintensiv, ohne dass es auf die Qualität der Notfallversorgung in ernst zu nehmendem Maße Einfluss hätte.
Ich will auch noch einmal Irrtümern vorbeugen: Es handelt sich dabei nicht um Rettungswachen und deren Vorhaltekosten, die immer mal wieder problematisiert werden. Die sind notwendig. Notfälle sind nicht kalkulierbar und jeder von uns will im Ernstfall auf schnelle Hilfe rechnen können. Das Einzige, wonach sich die Vorhaltekosten richten müssen, sind die gesetzlichen Hilfsfristen, und die werden in dem vorliegenden Gesetzentwurf Gott sei Dank auch nicht angetastet.
Es geht also verbleibend um die Möglichkeiten und Grenzen der Konzentration von Rettungsleitstellen und um die Optimierung einer landkreisübergreifenden Zusammenarbeit. An dieser Stelle will ich die Frage an den Minister stellen, was eigentlich einen Landkreis oder einen Landrat bisher davon abgehalten hat, mit dem Nachbarkreis entweder einen gemeinsamen Rettungsdienstbereich oder eine gemeinsame Leitstelle zu bilden. Ich kann von daher in dem Gesetzentwurf nicht so einen großen Fortschritt sehen.
Ich denke, mittlerweile sind sich alle darüber einig, dass konzentriert werden muss. Der Träger des Rettungsdienstes ist der Landkreis. Nach meinem Dafürhalten und nach meinem Eindruck ist das auch Konsens bei allen Beteiligten; zumindest ist das eine Prämisse, die wir als PDS-Fraktion nicht verlassen wollen. Das Problem ist nur, dass sich damit natürlich auch die Möglichkeiten des Landes beschränken, steuernd einzugreifen.
Die Möglichkeit der landkreisübergreifenden Zusammenarbeit ist nach dem jetzigen Gesetz bereits gegeben, aber nur sehr bedingt genutzt worden. Es gab kaum Interesse, weil Kostenträger nicht die Landkreise, sondern die Krankenkassen sind. Es liegt hierbei eine weitere Schnittstellenproblematik im Gesundheitswesen vor - den Sozialpolitikern wahrscheinlich bestens bekannt.
Die Frage ist nun, was das Ziel ist und wie ein Konzentrationsprozess steuerbar ist. Nach unserer Auffassung - wobei ich sagen will, dass dies nicht von allen meinen Fraktionskollegen geteilt wird - ist eine moderne und konstruktive Lösung eine Leitstelle mit einem gemeinsamen Zweckverband.
Ich will an dieser Stelle nur kurz darauf hinweisen, dass wir, wenn wir die Sozialhilfe kommunalisiert hätten, unter Umständen einen größeren Kommunalverband hätten. Dann hätte rein organisatorisch sehr wohl die Möglichkeit bestanden zu sagen, die Kommunen machen einen Rettungsdienstbereich und einen kommunalen Zweckverband und da siedeln wir die Leitstelle an.
Ich denke, da die Landesregierung nun zunächst aus den Puschen gekommen ist, was die Gebietsreform anbelangt, sind fünf bis sieben Leitstellen, die in der Presseerklärung anvisiert wurden, durchaus realistisch.
Ich will aber auch sagen, dass der Gesetzentwurf selbst an dieser Stelle ein Stück weit windelweich bleibt. Ich sehe nicht so einen marginalen Unterschied zu dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion. Der nimmt die Zügel schon ein kleines Stückchen fester in der Hand. In dem Gesetzentwurf der SPD-Fraktion wird der Landesregierung die Möglichkeit eingeräumt, per Rechtsverordnung, wenn es im öffentlichen Interesse ist, eine Konzentration voranzutreiben. Bei Ihnen darf man es jetzt.
Weitere Punkte, die wir dann miteinander diskutieren wollen, will ich nur stichwortartig anreißen, etwa die Frage des ärztlichen Leiters des Rettungsdienstes. Auch die Neuregelung der Ausschreibung ist angemessen und entspricht in etwa der Abschreibungsfrist. Auch die Verhandlungslösung ist in Ordnung und angemessen. Sie stärkt das Gewicht der Krankenkassen; das ist gar keine Frage.
Meine Fraktion wird der Überweisung des Gesetzentwurfes in den Ausschuss zustimmen, natürlich mit der Maßgabe, dass wir darüber im Ausschuss noch sehr intensiv diskutieren wollen. Vielleicht findet man ja noch eine Lösung, wie man den Konzentrationsprozess wirklich in ernsthafter Weise ein Stück voranbringt.
Meine Damen und Herren! Ich war jetzt von der Kürze etwas überrascht. - Die Regierungserklärung vom 1. April, denke ich, wird dem einen oder anderen von Ihnen noch in Erinnerung sein: 1. April 2003. Das war quasi der familienpolitische Aufschlag der Landesregierung. Ich habe damals vehement dagegen gesprochen, dass das ein Aprilscherz sei. Ich habe das auch wirklich ernst genommen. Danach fingen die Akteure im Land an zu scharren. Und was kam, war zunächst nichts.
Also musste ein schweres Geschütz herbei. Das Familienleistungsgesetz wurde damals ausgerufen. Was Ihnen jetzt vorliegt, meine Damen und Herren - dabei werden wir ohne Streit nicht auskommen; das ist nun mal so -, ist ein Familienfördergesetz, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass gähnende Leere herrscht.
Diesen Eindruck mag man vielleicht gar nicht gewinnen, wenn man sich die Papierfülle anschaut; das ist mir schon klar. Aber es ist so. Nun weiß ich, Herr Minister, dass man die Zahnpasta, wenn man sie herausdrückt, nicht ohne weiteres wieder in die Tube hineinbekommt. Das ist auch klar. Aber was Sie gemacht haben, ist nichts weiter, als sich sämtliche irgendwo vorhandene Förderprogramme, mindestens zehn Jahre alt, zusammenzuholen, aufzuschreiben und Paragrafen davor zu setzen.
Das Schülerferienticket haben wir seit 1997. Die Förderung des Schülerverkehrs ist in § 71 FAG bereits festgeschrieben. Die Stiftung „Familie in Not“ ist auch mindestens zehn Jahre alt. Den Inhalt des gesamten Artikels 2, Familienbildung und Familienerholung, haben wir seit
mindestens zehn Jahren. Das ist obendrein Gesetzesverpflichtung nach SGB VIII und SGB II.
Zugegeben, meine Damen und Herren, man kann nicht immer etwas gegen alte Hüte haben. Das ist gar keine Frage. Das Problem ist nur: Wenn ich sie in Gesetzesform gieße, habe ich natürlich auch keine Handhabe mehr, flexibel und zeitgemäß zu reagieren. Ich will das an einem Beispiel darstellen.
Das Programm Familienerholung leistet seit vielen Jahren gute Dienste, keine Frage. Dann wurde die Bildung formal zur Bedingung gemacht und neuerdings werden Familienerholungsmaßnahmen so gut wie nicht mehr abgerufen. Der Landkreis Wernigerode hatte in den letzten Jahren 20 000 € zur Verfügung. Im Moment sind es mit Stand April genau noch drei, vier Familien, die davon Gebrauch machen wollen. Nun könnte man sagen, okay, dann sind wenigstens unsere Einrichtungen in SachsenAnhalt ausgelastet. Das ist aber auch nicht der Fall.
Wie gesagt, nichts gegen alte Hüte, aber flexibel handhabbar müssen sie sein und das sind sie mit einem Gesetz nicht.
Dann haben Sie schnell noch das Kinderförderungsgesetz gedoubelt, das SGB VIII umformuliert, es aber dabei keineswegs konkreter gemacht. Ich frage mich, wie man Juristen motivieren kann, ein solches Gesetz zu fabrizieren und es auch noch als Artikelgesetz auszugeben.
Nun zu den beiden, wie ich zugebe, tatsächlich substanziellen Punkten, die das Gesetz unter Umständen zu bieten hat und über die man streiten muss.
Ich dachte, dass man zu der Gestaltung des Landesfamilienpasses nun ein paar konkrete Mitteilungen bekommt, damit man eine Vorstellung bekommt, wie das funktionieren soll. Das ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Bisher habe ich gedacht, dass Sie sich an dem Modell des Freistaates Thüringen orientieren. Nun muss ich zur Kenntnis nehmen: Mein Personalausweis sagt in Zukunft, dass ich ich bin, und mein Landesfamilienpass sagt, dass ich auch noch Mitglied meiner Familie bin. - Danke schön!
Ich war bereit, meine schnippische Bemerkung bezüglich des Landesweingutes von vor einem Jahr zurückzunehmen. Aber das Modell in Thüringen ist ein attraktives Angebot, ein Bildungsangebot, ein touristisches Angebot für Familien. Wir haben uns das vor Ort angeschaut. Der Freistaat Thüringen stellt 500 000 € im Jahr zur Verfügung. Vor dem Hintergrund des Thüringen-Passes werden für ungefähr 25 000 Familien Familienpässe möglich gemacht, die ansonsten ungefähr 30 € pro Familien kosten würden.
Zugegeben, es ist ein attraktives Angebot für wenige, es ist anspruchsvolle Familienbildung. Nur, gemessen an der Zahl der Familien, die überhaupt infrage kämen, macht es ganze 20 % aus. Mit 300 000 € würden wir im Land Sachsen-Anhalt weitaus darunter liegen.
Die PDS - das ist bekannt - hat anstelle dessen die Förderung kommunaler oder regionalpolitischer Familienpässe gefordert. Sie könnten die Familienerholungsmaßnahmen freigeben, Sie könnten die Elternbriefe stoppen - diese halte ich für freundlich, aber dennoch überflüssig -, Sie könnten Ihre pompöse Öffentlichkeitsarbeit einschränken. Zusammen mit den Mitteln für den Landesfamilienpass hätten wir 1 Million € für Familienpolitik in der Region. Dazu kämen - das fände ich zumindest
aus inhaltlicher Sicht auch sinnvoll - die Mittel aus dem Unterhaltsvorschussgesetz. Damit hätten wir rund 2,5 Millionen € für Familienpolitik vor Ort zur Verfügung, meine Damen und Herren.
Familienpolitik und Sozialpolitik sind in den Kommunen in den besten Händen. Dort sind sie flexibel, komplex und zugleich auch bürgernah, meine Damen und Herren.
Absichtserklärungen und kommunalpolitische Empfehlungen sind nicht justiziabel. Wo kämen wir hin, wenn jedes Ministerium jetzt seine Förderprogramme in Paragrafen fassen würde? Dann könnten wir gleich schreiben: § 1 - Die Landesregierung macht schon immer Familienpolitik. § 2 - Bei gelegentlich aufkommenden Zweifeln tritt § 1 in Kraft. - Das ist mir zu wenig, das will ich Ihnen ganz klar sagen.
Lassen Sie uns im Ausschuss darüber streiten. Lassen Sie den überflüssigen gesetzlichen, mit Verlaub gesagt, Firlefanz. Lassen Sie uns das Gesetz auf den Teil reduzieren, der wirklich in ein Gesetz gehört. Darüber hinaus können wir über Konzepte streiten. Mittlerweile haben alle Parteien ihre Konzepte vorgestellt. Insofern nehme ich Ihr Angebot an: Lassen Sie uns konstruktiv streiten!
Herr Jantos, Ich habe zwei Fragen. Erstens. Haben Sie eine Vorstellung davon, was noch in dem Gesetz stünde, wenn alles das herausfiele, was schon seit zehn Jahren läuft?
Drei Paragrafen von 24!
Ich glaube Ihnen gern, dass das schwierig ist. Ich habe auch nur darauf abgehoben, dass Sie gesagt haben, in den vergangenen Legislaturperioden sei nichts passiert. Vielleicht war es ein Irrtum vom Amt.
Zweitens. Kennen Sie das Konzept des Thüringen-Passes?
Und kennen Sie das seit zwei Jahren existierende und gut florierende Konzept des Landesfamilienpasses in Thüringen?
Wie kommen Sie dann zu der Auffassung, dass Sie weiter sind als Thüringen? Das würde mich einmal interessieren.
Herr Kollege, ich wollte eigentlich nicht noch einmal ins Schlimme stechen. Nun haben mich aber Ihre Auslassungen zu unserem Staatsverständnis angestachelt. Ich möchte Sie deshalb fragen: Wie schätzen Sie das Staatsverständnis des liberal geführten Sozialministeriums ein, das nicht nur nicht kommunalisiert hat, sondern sich aus der kommunalen Ebene zusätzliche Aufgaben nach oben geholt hat?
Herr Minister, ich fände es gut, wenn es ein paar Leserbriefe zu dem Unterfangen oder zu den familienpolitischen Maßnahmen der Landesregierung gäbe. Aber dass es dazu keine Leserbriefe gibt, liegt schlichtweg daran, dass nichts vorliegt, wozu es etwas zu schreiben gäbe.
Ich habe eine konkrete Frage. Sie sagten, die Abschaffung des Ehegattensplittings würde dazu führen, dass Familien künftig ihre eigenen familienpolitischen Leis
tungen finanzieren. Stimmen Sie mir darin zu, dass die Abschaffung des Ehegattensplittings dagegen bedeutet, dass Ehepaare künftig familienpolitische Leistungen mitfinanzieren, dass damit also eine Umsteuerung der Förderung von Ehepaaren auf Familien mit Kindern vorgenommen würde?
Herr Minister, gegen Polemik in diesem Haus ist generell nichts einzuwenden. In dieser Hinsicht würde ich, wenn ich mit Steinen würfe, im Glashaus sitzen.
Ich will Ihnen aber auch eines sagen: Ein gewisses Maß an Arroganz und Hochmut macht eine sachliche Auseinandersetzung außerordentlich schwer.
Ich will mich trotzdem um Sachlichkeit bemühen.
Dass die Umsetzung des Gender-Mainstreamings tatsächlich ein lang andauernder Prozess ist, ist eine Binsenweisheit, die Sie zumindest den Mitgliedern des
Landtages, die schon länger als ein oder zwei Legislaturperioden in diesem Haus tätig sind, nicht erzählen müssen - und schon gar nicht uns.
Sie sagten, dass die Große Anfrage zur Geschlechtergerechtigkeit in ihrem Umfang Eulen nach Athen trüge. Deshalb meine Frage in der Sache. Es gibt Themen, bei denen die Geschlechterproblematik stark etabliert ist, und es gibt Themen, bei denen die Geschlechterfrage noch nicht so stark etabliert ist. Das hängt mit vielen Dingen zusammen. Dazu will ich mich jetzt nicht lang und breit äußern.
Ein Bereich, in dem sie sehr stark etabliert ist, ist die Sozialpolitik, also die Frage der Armutsforschung. Wir haben die Landesregierung in Frage 3 nach der Armuts- und Reichtumsberichterstattung in Sachsen-Anhalt unter geschlechtsspezifischer Sicht gefragt. Ihre Antwort lautete: Die Datenbasis ist nicht vorhanden. Dazu kann ich nur sagen: selbst schuld. Wir haben darüber im Ausschuss sehr oft diskutiert. Die zweite Antwort lautete: Eine Handlungsempfehlung haben wir deshalb nicht. - Das ist meine sozialpolitische Kritik.
Als ehemalige Geschlechter-Politikerin sage ich Ihnen: Ich brauche keinen Armuts- und Reichtumsbericht, sondern ich musste in der vergangenen Woche nur nachsehen, was der Bundesbericht zu Armut und Reichtum ausweist, um zu wissen, dass die Frage nach Armut und Reichtum eine der am stärksten geschlechterspezifisch geprägten Fragen ist.
Wenn Sie davon sprechen, dass wir mit unserer Anfrage Eulen nach Athen trügen, dann würde ich schon gern wissen, was Ihre Handlungsstrategien auf diesem Gebiet sind.