Ich lade Sie alle ganz herzlich ein, diese Überlegungen auch weiterhin gedeihlich zu begleiten, einmal im finanziellen Rahmen, das ist sicherlich unabdingbar, aber natürlich auch in der gesamtgesellschaftlichen Diskussion dieses Themas, dass eben niemand wegsieht, wenn ein Kind misshandelt wird. Ich denke, es ist das Allerwichtigste, dass diese Dinge auch offen benannt werden.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren Abgeordneten! Die Bundesfamilienministerin hat zwei Modellprojekte ins Leben gerufen, um Kindeswohlgefährdungen, -misshandlungen und -vernachlässigungen einzudämmen. Das ist wichtig, um Risiken früher zu erkennen und die Kompetenzen der Eltern zu stärken.
Dazu sind finanzielle Unterstützungen dringend notwendig. In einem Zeitungsbericht der „LVZ“ vom 04.11. war Folgendes zu lesen: „Es darf nicht der Eindruck entstehen, als würde das Bundesfamilienministerium ein flächendeckendes Frühwarnsystem errichten. Das könnte dazu führen, dass der eine oder andere vor Ort seine Hände in den Schoß legt.“ Weiter heißt es: „Die Betreuung von Eltern und Kindern sei Aufgabe der kommunalen Jugendämter.“
Dieser Satz hat mich schon etwas aus der Fassung gebracht. Glauben Sie hier, in diesem Hause, dass unsere sächsischen Jugendämter bisher die Hände in den Schoß gelegt haben? Glauben Sie, dass freie Träger vor Ort, die tagtäglich mit Familien und ihren Kindern umgehen, bisher die Hände in den Schoß gelegt haben oder in Zukunft in den Schoß legen würden?
Der Kinderschutzbund bietet ein Projekt „Starke Eltern – starke Kinder“ an. Die MitarbeiterInnen vor Ort wollen mit diesen Lehrgangsangeboten Eltern befähigen, ihre Kinder gut und richtig mit der notwendigen Ruhe, Gelassenheit und Konsequenz zu erziehen. Es sind Lehrgänge für Eltern, die den Bedarf bei sich selbst sehen, und es sind Lehrgänge für Eltern, die über Ämter oder freie Träger in diese Kurse vermittelt werden.
Hier wird den Eltern auch die Notwendigkeit eines regelmäßigen Arztbesuches vermittelt. Dass die U-1- bis U-9-Untersuchungen und die Impfungen wichtig sind für ihre Kinder, ist vielen Eltern nicht bewusst. Ihnen wird vermittelt, dass auch die Vernachlässigung der Gesundheit der Kinder eine Vernachlässigung ist. Hierbei ist sicher von Amts wegen noch sehr viel zu leisten. Finanzielle Kürzungen sind das falsche Signal.
Frau von der Leyen ist weiterhin der Meinung, dass Jugendhilfe und Gesundheitswesen verschiedene Sprachen sprechen. Ist das tatsächlich so? Ich fordere Sie, jeden Einzelnen von Ihnen, auf, dies vor Ort in Ihren Wahlkreisen zu prüfen. Es gibt in Sachsen durchaus Landkreise, die seit vielen Jahren verlässliche und berechenbare Kooperationen geschaffen haben und auch in diesen Strukturen arbeiten. Es gibt Landkreise, die seit Jahren diese vorhandenen Kompetenzen zusammengeführt haben. Dort gibt es Checklisten und Notfallpläne bei Kindeswohlgefährdungen. Sicher gibt es auch Landkreise, in denen das noch nicht so klappt.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Im Landkreis Riesa-Großenhain, meinem Wahlkreis, gibt es seit vielen Jahren die Arbeitsgruppe „Hilfen zur Erziehung“. Hier arbeiten nicht nur alle freien Träger des Landkreises mit, die Hilfen zur Erziehung anbieten, nein, hier reden auch Gesundheitsamt, Sozialamt, Jugendamt, Arbeitsamt und ARGE miteinander und mit den freien Trägern. Diese Arbeitsgruppe in meinem Landkreis spricht seit Jahren eine gemeinsame Sprache im Interesse der Kinder.
Eine Bereicherung dieses Gremiums sind die Streetworker vor Ort, die an der Basis des Landkreises neben Lehrern und Erziehern den ersten Kontakt zu Kindern haben. In dieser Arbeitsgruppe wurden Notfallpläne und Checklisten für Kindeswohlgefährdung mit Ansprechpartnern, Notrufnummern, Handlungsschritten, Maßstäben der Bewertung, notwendigen Dokumentationen bis hin zu Inobhutnahme-Stellen erarbeitet.
Sie sehen, werte Abgeordnete, das Potenzial in Sachsen, für Kinder und Eltern da zu sein, ist durchaus vorhanden, wenn auch noch nicht überall. Wir sollten das prüfen und ganz gezielt die dringend notwendigen finanziellen Mittel in die bereits vorhandene Basisarbeit eingeben und diese eventuell auch aufbauen. Die vorhandenen Ressourcen sollten wir nutzen und auf die gesammelten Erfahrungen aufbauen. Auf den Schwerpunkt des Kita-Bereiches hat mein Kollege Falk Neubert bereits hingewiesen. Wir müssen nicht bei null anfangen, ein soziales Frühwarnsystem aufzubauen. Die vorhandenen Kapazitäten müssen wir nutzen, analysieren, aktualisieren, verallgemeinern und vor allem finanziell stärken. Unser Landesjugendamt ist dabei sicherlich ein kompetenter Partner.
Hat die NPDFraktion noch einmal Redebedarf? – Das ist nicht der Fall. Die FDP? – Frau Schütz, bitte.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei den Einblicken in die Vorstellungen der Koalitionsparteien zum Frühwarnsystem hat sich eines herausgestellt: Die Kindertageseinrichtungen sollen Dreh- und Angelpunkt werden.
Dabei gilt es zwei Aspekte zu betrachten: Die Erzieherin in der Kindertageseinrichtung soll einerseits die Feststellung oder den Verdacht einer Misshandlung oder Vernach
lässigung eines Kindes rechtzeitig äußern und die weitere Vorgehensweise bestimmen, gegebenenfalls schon zweitägiges unentschuldigtes Fehlen dem Jugendamt weitermelden; und andererseits wird ihr die Verantwortung für eine präventive Betreuung der Elternhäuser – die Vorbeugung in Form von Begleitung und Beratung der Eltern, damit es gar nicht erst zu einer Vernachlässigung oder Misshandlung kommen kann – übertragen.
Entschuldigen Sie bitte, hierbei dürften die betroffenen Erzieherinnen in der aktuellen Situation vor Ort zurzeit überfordert sein. Sie dürfen und werden natürlich nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, aber der Schwerpunkt ihrer Arbeit ist und muss der Aufbau und Erhalt einer Erziehungs- und Bildungspartnerschaft zum Wohle des Kindes bleiben. Den Stand, den sich die Kindertageseinrichtungen erarbeitet haben, nämlich als Kooperationspartner der Eltern angesehen zu werden, in der Hinweise gegeben und Beratungsangebote gemacht werden und Erzieherinnen ebenso Lernende sind, dürfen wir nicht mit polizeiähnlichen Drohungen verspielen. Wir brauchen erreichbare Orte für Familien, die die Begegnung und die Identifikation mit dem Gemeinwesen und die Zugänglichkeit zu Kursen und Gruppenangeboten sowie das Entstehen von Initiativen der Selbst- und Nachbarschaftshilfe der Eltern befördern.
Die Eltern, die Familien sind die Institution, die wir bei keiner politischen Überlegung außen vor lassen dürfen. Sie bringen, jede für sich, ihre Kompetenzen, die wir ihnen keineswegs absprechen dürfen, gegenüber dem Kind ein. Keine Frau und kein Mann wird als Mutter oder Vater geboren. Deshalb gilt es ihre Kompetenzen zu ergründen, zu stärken und damit Defizite abzubauen.
Ich denke an einen weiteren, den gesundheitlichen Bereich. Die Storchenpatenschaften aus Brandenburg, in der Südlausitz, haben sich bewährt, in denen Ehrenamtliche Familien aus rein gesundheitlichem Aspekt – meist Mütter – ohne ein pädagogisches Hineinreden begleiten, um klarzumachen und sicherzustellen, dass die Gemeinschaft insgesamt für Familien da ist. Ich denke, in diesem Zusammenspiel aller Beteiligten sollte unser Schwerpunkt liegen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Ich frage Sie, Frau Orosz, was nützt das Warnen, wenn es keinen Sturmkeller gibt, in den man flüchten kann? Wenn wir hier die Debatte anzetteln, um zu fragen, ob es eine ausreichende Struktur in der Kinder- und Jugendhilfe gibt, dann ist es nicht so, dass wir hier Äpfel mit Birnen vergleichen, wie Sie es in der öffentlichen Debatte unterstellt haben, sondern wir wollen genau diese komplexe Diskussion führen, die Ihre Koalitionskollegin Schwarz angemahnt hat.
Es geht darum, dass man sich nicht nur auf ein Frühwarnsystem, das sich vielleicht medial sehr gut verkaufen lässt, kapriziert, sondern dass man natürlich schaut, wie die einzelnen Möglichkeiten ineinandergreifen. Es krankt doch seit Jahren in diesem Land daran, dass die Strukturen nicht wirklich ordentlich zusammenarbeiten. Das ist der Kern der Debatte, die wir führen.
Wir werden es ja sicher noch einmal im Detail – vielleicht sprechen Sie noch einmal – hören. Spätestens zur Anhörung im Januar kommt vielleicht mehr Licht ins Dunkel.
Der Schwerpunkt in der frühkindlichen Phase, den Sie jetzt allein in der öffentlichen Debatte nach oben gehoben haben, ist unseres Erachtens vor dem konkreten Hintergrund – konkrete Einsparung bei der Kinder- und Jugendhilfe im Haushalt, der uns zur Beratung vorliegt – einfach nicht konsistent.
Sehen Sie, der Staat greift zum Beispiel auch ein, wenn es darum geht, dass jemand aus verschiedenen Gründen nicht zur Führung und Haltung eines Fahrzeuges in der Lage ist. Beispielsweise wird dann der Führerschein eingezogen. Der Mensch hat die Möglichkeit, sich zu besinnen, es gibt vielleicht eine Beratung in Form eines Kurses, und dann hat er die Möglichkeit, den Führerschein wieder zu erwerben. Man hat diesem Menschen vielleicht über eine Lage hinweggeholfen, in der er im Moment seiner Lebenssituation nicht Herr geworden ist. Das Beispiel mag wohl ein wenig hinken; natürlich sind Kinder keine Autos. Aber im Kern greift der Staat durchaus ein. Er macht das.
Die Frage, die Sie sich auch als Union stellen müssen – das ist meine Beobachtung in dieser Debatte –, ist, diesen ideologischen Zwiespalt zu überwinden, und zwar produktiv: auf der einen Seite eine imaginäre, strukturierte, gesamtgesellschaftliche Verantwortung irgendwie zu befürchten im Sinne einer Verwahrung, Wegnahme oder Entmündigung von Eltern und auf der anderen Seite immer wieder stecken zu bleiben, wenn Sie betonen, dass prioritär natürlich die Eltern zuständig sind. Es gibt Lebensphasen, in denen Eltern diese prioritäre Zuständigkeit nicht ausüben können. Das wissen wir alle. Da ist die Frage der Beratung nicht im Hebammenprojekt erschöpft.
Das ist der Punkt, den wir gern vertiefend diskutieren wollen und der uns am Herzen liegt. Die Frage nach einer langfristigen und kompakten strategischen Ausrichtung Ihrer Arbeit ist dabei natürlich erlaubt. Wenn es jetzt schon so ist, dass Mitarbeiter in der Kinder- und Jugendhilfe, vor allen Dingen in Heimen, oder bei der Frage, ob ein Kind in eine Pflegefamilie kommt, es mit ihrem Gewissen kaum noch vereinbaren und Frieden finden können, wenn sie gezwungen sind, Kinder in familiäre Umstände zurückzuschicken, auch aus Kostengründen heraus, aus denen sie sie früher herausgeholt hätten, dann kann man sich nicht hinter demografische Erklärungen für
rückgängige Zahlen flüchten, sondern dann hat es damit zu tun, dass wir keine ausreichende Struktur vorhalten, um diese Beratung und Begleitung zu ermöglichen, die auch nach erfolgter Frühwarnung nötig ist.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war alles gut und richtig, was bisher zum Thema gesagt wurde, aber ich meine, wir dürfen uns mit den Frühwarnsystemen die Dinge auch nicht zu leicht machen.
Ich habe zu Hause einen Rauchmelder. Das ist ein Frühwarnsystem. Es teilt mir, weil es Rauch auch in kleinen Konzentrationen wahrnimmt, frühzeitig und deshalb hoffentlich auch rechtzeitig mit, dass ein Brand ausgebrochen ist, der sich zu einer Katastrophe entwickeln könnte. Weil ich früh gewarnt bin, kann ich durch geeignete Maßnahmen die Katastrophe noch verhindern. Damit liegt der Vorteil des Frühwarnsystems auf der Hand, der Nachteil aber ebenso. Der Brand muss schon ausgebrochen sein, wenn das Frühwarnsystem anschlagen soll. Das ist ein genereller Nachteil von Frühwarnsystemen, auch von Frühwarnsystemen bezüglich Kindesmisshandlung. Deshalb kann das beste Frühwarnsystem die Prävention nicht ersetzen.
Frühwarnsysteme sind immer die zweitbeste Lösung. Wir sollten sie eigentlich im Sinne der besten Lösung loswerden wollen. Es gibt – machen wir uns nichts vor – eine breite Grauzone zwischen Kindererziehung frei von jeglicher, wenigstens körperlicher Gewalt und Kindesmisshandlung. Auch wenn wir in der Bundesrepublik seit dem Jahr 2000 den absoluten gesetzlichen Schutz für Kinder vor körperlicher Gewalt in der Erziehung haben, so ist die Gesellschaft noch lange nicht wirklich frei davon.
1989 gaben laut einer Untersuchung 90 % der Erziehenden zu, hin und wieder Ohrfeigen als Erziehungsmittel einzusetzen, ein Drittel verabreichte Prügel und Schläge mit Gegenständen, 50 % fanden in Stresssituationen mit ihren Kindern prinzipiell keinen anderen Ausweg als Anwendung von körperlicher Gewalt. Mag sein, Gewaltlosigkeit setzt sich eines Tages durch, aber so viel hat sich seit 1989 noch nicht geändert, dass wir uns zufrieden zurücklehnen könnten und nur mehr die schlimmsten Fälle der Misshandlung als Problem betrachten dürften.
Machen wir uns nichts vor, die sogenannte schwarze Pädagogik, die körperliche Gewalt in der Erziehung einsetzt, ist nach wie vor Alltag. Kindesmisshandlungen haben eine zumindest stark stützende Basis in einer immer noch geltenden stillen und durchaus breiten gesell
schaftlichen Übereinkunft, dass ein Klaps, eine Ohrfeige nicht schaden könnte, und als Kind hörte ich, dass wir hin und wieder „gesalzen“ werden müssen. Schon früher galt und bei vielen gilt heute noch das alttestamentarische „Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn, wer ihn aber lieb hat, der züchtigt ihn bald.“ aus den Sprüchen Salomos.
Es zieht sich in Varianten durch die Geschichte der Erziehung. Und „Wer nicht hören will, muss fühlen“ ist beileibe nicht besser und wahrlich nicht ausgestorben. Des Griechen Menander „Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen“ stellt immerhin Goethe dem ersten Teil seiner „Dichtung und Wahrheit“ voran. „Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will“ meint doch nicht wirklich, dass sich ein junges Menschenwesen beizeiten aus Einsicht und mit Freude selber krümmt, sondern ist die verklausulierte Legitimation, Kinder beizeiten krümmen zu dürfen. Und krümmen braucht Gewalt.
Sage niemand, diese Volksweisheiten seien nur mehr vergangenes und schlechtes Kulturgut. Beobachten Sie Ihre Umgebung und Sie werden merken, mit den Volksweisheiten begegnet uns durchaus heutige alltägliche Praxis. Ich sage Ihnen, meine Damen und Herren, solange wir die Glutnester alltäglicher akzeptierter Gewalt gegen Kinder nicht löschen, werden uns Frühwarnsysteme immer nur den noch nicht ganz so beißenden Qualm drohender schlimmerer Misshandlungen melden; die Ursachen dafür werden wir nicht beseitigen.
Es besteht höchste Not und die Politik ist in der Pflicht, denn es gibt massive Anzeichen dafür, dass das Gegenteil sich wieder entwickelt. Die Nannys und Supernannys feiern fröhliche Urständ im Fernsehen – für Kinder und Hunde. Wirklich bemerkenswert. Erzwungenes Strafsitzen und Eckenstehen ist dort an der Tagesordnung. Während man absolut zu Recht gewalttätigen Umgang mit Jugendlichen in den Jugendwerkhöfen der DDR anprangert, dient man uns zugleich militärischen Drill und unmittelbare Gewalt in USA-Erziehungslagern als Ultima Ratio im Umgang mit problematischen Kindern und Jugendlichen an.
Misshandelte und verwahrloste Kinder haben meist Eltern, die selbst Kinder und Jugendliche mit Problemen waren, Problemen, die ihnen die Gesellschaft und ihr Umfeld mit Gewalt machten und sie deshalb gewalttätig werden ließen. Deren Gewalt richtet sich zuerst wieder gegen Kinder, die ihnen anvertraut sind. Wenn wird daran nichts ändern, werden wir die Not zu Frühwarnsystemen niemals loswerden.
Mir wurde kein weiterer Redebedarf aus den Fraktionen gemeldet. Deswegen bitte ich Frau Staatsministerin Orosz. Sie haben das Wort.