Mir wurde kein weiterer Redebedarf aus den Fraktionen gemeldet. Deswegen bitte ich Frau Staatsministerin Orosz. Sie haben das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Abgeordneten! Kinder brauchen unseren Schutz – ich glaube, da sind wir in voller Übereinstimmung –, das ist ihr Grundrecht. Wir wissen, dass leider nicht alle Eltern ihre ebenfalls im Grundgesetz festgelegte Verantwortung im Interesse einer gelingenden Entwicklung der Kinder wahrnehmen. Deshalb hat der Gesetzgeber dem Staat eine Wächterfunktion erteilt. Diese Wächterfunktion wird tagtäglich und äußerst verantwortungsvoll, beispielsweise durch unsere Jugendämter in Sachsen, wahrgenommen. Das ist eine Aufgabe, die in der Tat viel Engagement braucht und die immer mit einer komplizierten Abwägung der manchmal gegenläufigen Interessen von Kindern und deren Sorgeberechtigten verbunden ist.
Aber wir kennen auch Einzelfälle, in denen die vorhandenen Hilfestrukturen nicht ausreichen. Heute schon angesprochen worden ist der Fall Mehmet aus Zwickau, der eben nicht ausreichend geschützt werden konnte. Hier kam, wie wir inzwischen wissen, jede Hilfe, aber auch jede Intervention zu spät. Nicht erst dieser Fall Mehmet hat uns gezeigt, dass wir weiter handeln müssen, wie heute schon mehrfach angesprochen. Die Sächsische Staatsregierung arbeitet bereits seit einiger Zeit am Konzept eines sogenannten sozialen Frühwarnsystems, auf das ich gern auch noch inhaltlich näher eingehen möchte.
Die wesentlichen Prinzipien dieses Frühwarnsystems, meine Damen und Herren, heißen Prävention und sehr frühe Hilfestellung.
Allen ist bekannt, dass das beste Mittel ist, um solche Vorfälle und Konstellationen zu vermeiden, über die wir hier diskutieren und die wir beklagen, präventiv zu arbeiten.
Deswegen, Frau Hermenau, bedeutet das Frühwarnsystem nicht, ein neues in Sachsen und in Deutschland zu schaffen, sondern auf vorhandenen Strukturen aufzubauen und diese zu ergänzen. Wir sind doch alle gefordert, wenn wir feststellen, dass diese Fälle der letzten Wochen und Monate vor allem um das erste Lebensjahr stattfinden. Dazu gibt es statistische Erhebungen der letzten Jahre von Medizinern, auch der Uni Dresden. Über 80 % dieser Fälle ergeben sich im ersten Lebensjahr. Es ist nicht so, Frau Schütz – und ich glaube nicht, dass ich oder jemand im Plenum das behauptet hat –, dass wir die Kindergärten für eine solche Prävention verantwortlich machen können. Die Kindergärten sind mitverantwortlich während des Aufenthaltes in der Einrichtung, wo sie mit den Kindern und den Eltern Kontakt haben und mit ihnen arbeiten. Das ist auch selbstverständlich.
Mir ist natürlich klar, dass ein Frühwarnsystem – das ist nun mal das Label des Systems – kein Jugendamt und
keine anderen Angebotsstrukturen ersetzt. Aber wir müssen doch auch selbstkritisch feststellen: Der Fall Mehmet in Zwickau und damit in Sachsen hat gezeigt, dass diese Strukturen eben nicht ausreichend vernetzt sind, sonst hätte eine bessere Information diesen Fall sicherlich ändern können. Also heißt es auch für uns als Staatsregierung und als zuständiges Fachministerium, andere Wege zu gehen, ohne die bekannten und zum größten Teil erfolgreichen Veranlassungen außer Acht zu lassen. Sie qualitativ zu ändern ist ein richtiger Ansatz, und dazu stehen wir.
Der präventive Ansatz muss mehr als bisher in den Fokus unserer Handlungen geraten, und deswegen halte ich dieses Modellprojekt des Bundes, das bereits in den ersten Schwangerschaftswochen ansetzt, für richtig. Wir wissen, dass wir eine große Zahl gerade junger Menschen haben – hier geht es vor allem um die Mutter, aber auch um den Vater –, die bereits in der Schwangerschaft erhebliche Probleme mit diesem zukünftigen Miteinander, also mit dem ungeborenen Kind, haben.
Aus pädagogischen Erfahrungen wissen wir, dass gerade die Problematik, während der Schwangerschaft keine Beziehung zum Kind aufbauen zu können, ein späteres Problem beim Eltern-Kind-Kontakt darstellen kann.
Deswegen ist die Aufgabe und der Fokus dieses Frühwarnsystems, junge Mütter und deren Familien schon frühzeitig zu erreichen – zum Beispiel bereits in der Schwangerschaft –, an diesen neuralgischen Punkten zu begleiten und ihnen nicht nur in Vorbereitung auf die zukünftige Geburt des Kindes und dessen gelingende Entwicklung, sondern auch während dieser Zeit Hilfeleistung bei alltäglichen Sorgen zu geben, die bei dem einen oder anderen zu Überlastungen führen.
Meine Damen und Herren, das System „Pro Kind“ kommt nicht von ungefähr; es ist seit mehreren Jahren – ich glaube, seit 15 Jahren – in Amerika erprobt worden. Mit Recht hat Frau von der Leyen darauf hingewiesen, dass es Sinn macht, ein solches System auch in Deutschland zu erproben. Herr Neubert, gerade weil wir der Meinung sind, dass eben in Westdeutschland und in Ostdeutschland nach wie vor unterschiedliche Bedingungen und Angebote bestehen, habe ich mich bemüht, in dieses Modellprojekt hineinzukommen; um deutlich zu machen, dass die Situation in Westdeutschland gerade im frühkindlichen Angebot heute eben noch eine andere ist als in Ostdeutschland und dass wir hier sehr viel dazu beitragen können, mit unseren vorhandenen Angeboten, die schon koordiniert und vernetzt arbeiten. Dabei können wir deutlich machen, dass es möglich ist, diesen Standard durch ein erweitertes System, nämlich das sogenannte Frühwarnsystem, zu ergänzen.
Wir wissen, dass die allermeisten Eltern – das möchte ich an dieser Stelle deutlich betonen – ihrer Verantwortung gerecht werden. Es soll in dieser Debatte nicht der Eindruck erweckt werden, als ob alle Eltern im frühen Erziehungsbereich überfordert seien. Mitnichten ist das der Fall. Wir müssen uns aber hauptsächlich denen zuwenden,
die unserer Hilfe bedürfen, und deswegen geht es in dieser Diskussion um die Implementierung eines erweiterten Systems. Die Familien brauchen rechtzeitige und verlässliche, aber auch konstante Hilfe. Das soll mit diesem Frühwarnsystem im Modell begleitet und entwickelt werden.
Frau Schütz, dabei ist klar, dass dieses Modellprojekt, das in zwei kreisfreien Städten und Landkreisen in Sachsen erprobt und wissenschaftlich begleitet werden soll, nicht das Einzige sein wird. Alle anderen Landkreise und kreisfreien Städte werden sich diesem Thema stellen, und ich gehe davon aus, dass Sie die Arbeit der Jugendämter insoweit kennen. Wir werden als Staatsregierung selbstverständlich auch diese Arbeit begleiten. Das, was im Rahmen der Veränderung des SGB VIII teilweise schon an Strukturen aufgebaut worden ist, ist dabei bekannt; der § 8a hat eine gewisse Flexibilisierung möglich gemacht, Kooperationsvereinbarungen zu schließen und zu vernetzen. Hier werden alle anderen örtlichen Jugendhilfeträger weiter gefordert sein. Dazu gibt es heute eine Fachtagung mit den Vertretern der Jugendämter.
Noch einmal deutlich: Das Thema Frühwarnsystem stellt sich in ganz Sachsen; es geht um die Verbesserung der Kooperation in diesen Netzwerken bei Kindern von null bis sechs Jahren. Für diesen Zeitraum sind sie angedacht. Darüber hinaus muss mit weiteren flankierenden Maßnahmen gearbeitet werden. Dabei wird diese Arbeit mit dem Bundesmodellprojekt als i-Punkt ergänzt. Dazu werden wir in den nächsten vier Jahren unsere Erfahrungen machen, ob Ergebnisse dann auf die Arbeit der anderen Landkreise und kreisfreien Städte übertragen werden können.
Meine Damen und Herren, in diesem Bundesmodellprojekt soll ein Angebot für soziale Risikogruppen eingerichtet werden, mit dem Kinder und Familien bereits vor der Geburt wirksam unterstützt werden können. Dabei werden vor allen Dingen drei Präventionsziele verfolgt: das gesunde Leben für die Mutter und das Kind während der Schwangerschaft; die frühe Förderung des Kindes – auch das ist ein wichtiges Thema – und die begleitende, frühzeitig einsetzende Förderung der elterlichen Kompetenz und der Alltagsbewältigung.
Übergreifend soll bei dem Projekt untersucht werden, inwieweit diese Erfahrungen landesweit genutzt werden können. Deswegen bin ich dankbar, dass wir hier die wissenschaftliche Begleitung erfahren.
Das Projekt richtet sich zunächst an junge Erstgebärende, schwangere Frauen unter 25 und deren Partner, vor allem in spezifischen Problemlagen, wie zum Beispiel Minderjährigkeit, fehlender Schulabschluss, Missbrauchserfahrungen oder Suchtprobleme. Deswegen ist es richtig, dass von meiner Kollegin Nicolaus vorhin noch einmal deutlich gemacht wurde: Das Wahrnehmen und Warnen spielt hier eine besondere Rolle. Dabei brauchen wir dringend die Mitarbeit der Hebammen; denn sie sind die Kontaktpersonen, die feststellen – in den Gesprächen mit jungen Müttern, bei den Besuchen im Haushalt –, welche Situati
on sich für das zukünftige Kind ergibt und ob die Partner in der Lage sind, diese Aufgabe zu bewältigen, oder ob Hilfe gebraucht wird. Diese frühe Art von Vernetzung wollen wir in den Alltag überführen.
Auch bei diesem Präventionsprojekt ist die Mitwirkung der Beteiligten eine wichtige Voraussetzung. Wir können niemanden zwingen, an diesem Projekt mitzuwirken; aber ich setze hier auf professionelle Gesprächsführung und umfassende Informationen in Richtung der Probanden, wenn ich es einmal so bezeichnen darf, um sie zu überzeugen, dass es ein richtiges Angebot ist, sie von Anfang an zu begleiten.
Frau Hermenau, auf Ihre Einlassung zurückkommend: Natürlich ist uns allen nicht erst seit heute bewusst, dass die Gesetze gerade in dieser Frage, was Herausnahme aus dem Elternhaus, die gemeinsame Veranlassung von Maßnahmen entweder außerhalb des Elternhauses oder gemeinsam mit dem Elternhaus betrifft, einen Balanceakt erfordern und immer einer individuellen Prüfung bedürfen und dabei die Vertreter der Jugendämter, vor allem die Mitarbeiter im ASD, alltäglich vor riesengroße Entscheidungsprobleme gestellt werden.
Ich will auch nicht verhehlen, dass von außen betrachtet vielleicht die eine oder andere Entscheidung anders bewertet wird. Gerade deshalb ist es wichtig, dass wir die Mitarbeiter nicht nur stets und ständig begleiten und ihnen den Rücken für solche Entscheidungen freihalten, sondern sie auch fachlich in die Lage versetzen, dies zu tun. Ich sage es noch einmal: Der erste Schritt, eine gewisse Elastizität der Gesetzgebung auf den Weg zu bringen, war die Änderung des § 8a. Ich denke auch, dass die Geschehnisse der letzten Wochen und Monate nicht nur die Jugendämter sensibilisiert haben, sondern alle Mitwirkenden in dieser Kooperation – ob es die Kindergärten sind, die Kinderärzte, die Hebammen, aber auch die Vertreter der Gerichte, die vor allem in einem solchen eklatanten Entscheidungsprozess, wenn es um Sorgeberechtigung geht, eingebunden sind.
Ein weiterer Punkt dieses Frühwarnsystems, dieses Netzwerkes, den wir als Staatsregierung unterstützen wollen, ist vor allen Dingen dafür zu sorgen, dass die beteiligten Personengruppen, die unterschiedlichen Berufsgruppen mehr als bisher von den Problemen der anderen wissen; dass sie verstehen und Verständnis dafür haben, dass jede dieser teilnehmenden Personengruppen in ihrem Rechtsbereich ein Stück weit gefangen ist und
dass wir es schaffen im Interesse des Kindes und zur Vermeidung solcher Vorgänge, wie sie uns immer wieder bedrücken, dass das Verständnis der gemeinsamen Zusammenarbeit und der Kooperation auch teilweise über die eigenen Kompetenzen hinausgeht, ohne es als Rechtsbruch zu begreifen.
Um das in der Praxis zu realisieren, brauchen wir mehr Kommunikation miteinander. Wir werden insoweit eine Hilfestellung geben und mehr fachliche Qualifizierung anbieten, um dabei mehr zu erfahren, welche Kompetenzen und welche Möglichkeiten der andere hat. Frau Dr. Schwarz und Frau Nicolaus haben es schon gesagt: In den Haushalt ist dafür ausreichend Geld eingestellt, um die notwendige Qualifizierung und die Abstimmung mit den unterschiedlichen Personengruppen zu leisten. Ich bin mir sicher, dass alle Beteiligten dabei hoch motiviert mitwirken werden. Ich habe mich auf mehreren Veranstaltungen davon überzeugen können, dass alle Beteiligten großes Interesse daran haben, die derzeitige Qualität zu verbessern und vor allen Dingen das Handling miteinander mehr als bisher in den Vordergrund zu stellen.
Meine Damen und Herren! Ich bin davon überzeugt, dass beide Systeme – das System für alle Landkreise und kreisfreien Städte sowie das zusätzliche Bundesmodellprojekt – uns in Sachsen große Chancen eröffnen. Es wird möglich sein, die noch vorkommende generationenübergreifende Fortsetzung von Erziehungsproblemen zu unterbrechen. Jungen Eltern in schwierigen Lebenslagen können wir Unterstützung, die sie brauchen, und sonstige Begleitung zuteil werden lassen. Damit werden die „Frühwarnsysteme“ zu einem sozialen und innovativen Ansatz.
Diese Aufgabe können öffentliche und freie Träger nicht allein schultern. Hier gilt es, alle Verantwortlichen und sonstigen Beteiligten in das System einzubeziehen. Die Verwirklichung dieses Anliegens sind wir unseren Kindern, unserer Zukunft, schuldig.
Meine Damen und Herren! Damit ist die 1. Aktuelle Debatte zum Thema „Einführung eines Frühwarnsystems in Sachsen“ beendet.
Als Antragstellerin hat zunächst die Linksfraktion.PDS das Wort. Ihr folgen die Fraktionen in der gewohnten Reihenfolge.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! – Herr Dr. Metz, wollen Sie nicht bei uns bleiben? Das ist eine Debatte, die Sie eigent
lich interessieren müsste. – Am 10. November wurde im Bundestag die nunmehr dritte Änderung von Hartz IV eingebracht. Mit ihr soll die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft geregelt werden.
In der Begründung des Gesetzestextes ist zu lesen, dass sich die Höhe der Bundesbeteiligung auf der Grundlage der jährlichen Be- und Entlastungsrechnungen als nicht zweckmäßig erwiesen habe. Nicht zweckmäßig – das ist die diplomatische Umschreibung für das groteske Schauspiel der letzten Jahre. Da werden den Kommunen Entlastungen in Höhe von zweieinhalb Milliarden Euro versprochen. Die sollen sie dann in eine verbesserte Kinderbetreuung stecken.
Wer jetzt aber glaubt, damit sei bares Geld gemeint gewesen, der irrt. Bei der Berechnung der Entlastung geht der Bund einfach davon aus, dass die Sozialhilfekosten der Kommunen in den letzten Jahren im zweistelligen Bereich gestiegen seien. Die angebliche Entlastung ist also eine rein fiktive. Soll heißen: Wenn Hartz IV nicht gekommen wäre, dann hättet ihr, liebe Kommunen, gigantische Belastungen durch die vielen Sozialhilfeempfänger. Da diese Lasten jetzt nicht da sind, seid ihr entlastet. Basta!
Besonders dreist ist der Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Andres, wenn er sagt: „Die Bundesregierung verbindet mit ihrer Zusage an die Kommunen“ – gemeint sind die 4,3 Milliarden Euro – „die klare Erwartung, dass diese Entlastungen zumindest teilweise für den Ausbau der Kinderbetreuung eingesetzt werden.“
In den letzten Jahren konnten wir diesen Politikstil in Fortsetzung erleben. Nicht nur, dass der scheidende Arbeitsminister Clement sich zum Abschied noch unbeliebt machen musste, indem er 2005 sämtliche KdUKosten von den Kommunen zurückforderte; nein, auch der nächste Sozialdemokrat in Berlin hat nichts Besseres zu tun, als aus einer Urlaubslaune heraus für 2007 lediglich 2 Milliarden Euro in den Haushalt einzustellen.
Es ist nicht nur die Unzuverlässigkeit der Bundesebene, die eine klare und sinnvolle Regelung notwendig machte. Auch der Bundesrechnungshof hält es für nicht sachgerecht, dass die künftige Beteiligungsquote des Bundes mittels einer sogenannten politischen Verständigung festgelegt werden soll. So sind die Kommunen und wohl auch die Länder ausgezogen – zumindest unser Ministerpräsident und der Herr Staatsminister der Finanzen, die jetzt leider nicht zugegen sind –, um doch wohl eine sinnvolle neue Regelung zu finden. Das, was jetzt aber vorliegt, ist keine solche Regelung.
Sie behält das alte Quotenmodell bei, das die Stadtstaaten eindeutig bevorteilt. Was haben Sie getan, Herr Minister