Protocol of the Session on February 25, 2005

Praxisgebühren, durch die erhöhten Zuzahlungen – dann weiß man sofort, wer der Verlierer ist: nämlich der Versicherte, der das Gesundheitssystem braucht.

Die Vorgängerminister von Frau Schmidt haben in aller Regel gemeint, sie können diese Gesundheitsreform nicht durchsetzen, und das hatte auch gute Gründe, denn sie hatten ein soziales Gewissen. Jetzt hat man eine Gesundheitsreform durchgesetzt, die zu dem Ergebnis geführt hat, dass die Solidargemeinschaft aufgeweicht wird. Man kommt zum Markt Gesundheit statt zum Wert Gesundheit. Das ist das Ergebnis dieser Gesundheitsreform, und wer bezahlt, ist klar.

Schauen wir uns beispielsweise diese Praxisgebühr an: 10 Euro Praxisgebühr für den Hausarzt, bestellt man den Hausbesuchsdienst, kommen noch einmal 10 Euro hinzu, bestellt man noch einmal den Hausbesuch, weil man ihn braucht, dann kommen, wenn es ein anderer Arzt ist, noch einmal 10 Euro hinzu – na Klasse! Zahnarzt 10 Euro, Physiotherapie 10 Euro, wenn man ins Krankenhaus müsste, bis zu 280 Euro – toll!

(Staatsministerin Helma Orosz: Bleiben Sie mal sachlich!)

Ich sehe das schon sachlich, Frau Ministerin Orosz. – Im Endeffekt ist es so, dass diese Rechnung auf den Knochen der Versicherten aufgebaut ist. Die Zuzahlungen für Heil- und Hilfsmittel sind auch gestiegen. Da muss ich jetzt Frau Kipping zustimmen: Es trifft am Ende die Finanzschwachen. Ich möchte klarstellen: Es handelt sich nicht um Sozialschwache, die Leute sind nicht in ihrer sozialen Kompetenz gestört, sie sind finanziell schwach.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Eigentlich, muss ich sagen, muss ich meiner Fraktion empfehlen, dass man keine Zwischenfragen mehr zulässt; denn solange Sie sich keinen anständigen Umgangston mit uns angewöhnen, brauchen wir eigentlich überhaupt nicht auf eine Zwischenfrage zu antworten.

(Jawohl! und Beifall bei der NPD)

Vielen Dank, Herr Müller, für die Belehrung in Anständigkeit! – Sie haben soeben ausgeführt, man müsse in einem Quartal bei verschiedenen Ärzten jeweils 10 Euro Gebühr bezahlen. Ist Ihnen als praktisch tätiger Arzt bewusst, dass die 10 Euro pro Quartal nur bei einem überweisenden Arzt – Zahnärzte ausgenommen – bezahlt werden müssen?

Das ist nicht richtig; da muss ich Sie korrigieren.

Nein, das ist wohl richtig. Sie müssen im Quartal einmal 10 Euro Praxisgebühr bezahlen.

Die Frage ist gestellt worden. Herr Müller, bitte antworten!

Beim Hausbesuchsdienst – genau heißt er: Ärztlicher Notdienst – muss ich die Gebühr zusätzlich bezahlen. Wenn ich zweimal den Ärztlichen Notdienst bestelle und zwei verschiedene Ärzte kommen, dann bezahle ich die Gebühr sogar zweimal! Frau Kollegin Strempel, ich muss Sie direkt ansprechen: Machen Sie einmal ein Quartal in einer Praxis als Arzthelferein mit! Dann werden Sie die sozialen Probleme kennen lernen und merken, dass die Leute nicht aus dem hohlen Bauch heraus darüber schimpfen. Das ist real!

Gleiches gilt für die DRGs, die im stationären Bereich gelten. Diese haben zur Folge, dass es dort zu einem Personalmangel kommt; man fährt immer an der untersten Grenze. Das kann man doch nicht verleugnen! Das sind die Auswirkungen dieser Gesundheitsreform bzw. des „Gesundheitsmodernisierungsgesetzes“. Ich jedenfalls kann daran wenig Positives finden.

Zum Thema Polikliniken! Kollege Pellmann, wenn man ein staatliches Gesundheitswesen will, dann kann man natürlich in diese Richtung tendieren. Aber wir als Nationaldemokraten wollen auch das Freiberuflertum erhalten wissen. Mit einem staatlichen Gesundheitswesen haben wir in der DDR unsere Erfahrungen gemacht, und diese waren nicht gerade rosig.

(Zuruf von der PDS: Sie sehen auch ganz krank aus!)

Das ist Ihre fachfremde Einschätzung. Aber bitte schön, sie sei Ihnen gegönnt!

Wenn man ein Fazit zieht, stellt man fest: Bei den Krankenkassen entstehen kurzzeitig Gewinne; das ist unstrittig. Diese gehen aber zulasten der Krankenversicherten. Die Reform führt zu einer Entsolidarisierung und zur Störung des Arzt-Patienten-Verhältnisses, weil nunmehr finanzielle Probleme auf dem Arzt-Patienten-Verhältnis ruhen, was in den vergangenen Jahrzehnten keine Rolle gespielt hat. Aus meiner Sicht ist das ein typisches Beispiel dafür, wie der bundesdeutsche Schuldenverwaltungsstaat versucht, jetzt kurzfristig irgendwie über diese Klippe zu kommen; langfristig sehe ich nur Nachteile.

(Beifall bei der NPD)

Ich erteile der Fraktion der FDP das Wort. Frau Schütz.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Systeme der sozialen Sicherung in Deutschland befinden sich in einer schweren Finanzkrise. Die rot-grüne Bundesregierung steht nach sechs Jahren Regierungszeit in allen Bereichen der sozialen Sicherung – Rentenversicherung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung und Unfallversicherung – vor einem Trümmerhaufen, wenn auch hinsichtlich der einzelnen Versicherungszweige unterschiedliche Gründe eine Rolle spielen. Das ist kein Zufall, sondern Ergebnis rot-grüner Versäumnisse und Fehlentscheidungen.

Denn die schwachen Finanzen der Sozialkassen haben natürlich etwas damit zu tun, dass die deutsche Wirtschaft selbst im Jahr 2004, in dem wir weltweit mit fast 5 % das höchste Wirtschaftswachstum seit drei Jahrzehnten zu verzeichnen hatten, lediglich mit 1,6 % gewachsen ist. Es ist die verfehlte Wirtschaftspolitik von Rot-Grün, die dazu führt, dass Deutschland am Ende der Wachstumstabelle steht.

(Beifall bei der FDP)

Die schwachen Finanzen der Sozialkassen haben natürlich etwas damit zu tun, dass die Beitragsbasis der sozialen Sicherungssysteme schwindet. Mit geringfügigen Beschäftigungen und Ich-AGs lassen sich weder die Rente noch die Gesundheitsvorsorge sicher finanzieren. Wir haben allein von Juli 2003 bis Juli 2004 487 000 sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland verloren. Das sind 1 334 Arbeitsplätze pro Kalendertag – Ergebnis rot-grüner Politik! Ich verweise in diesem Zusammenhang auf den traurigen Rekord an Insolvenzen, die Jahr für Jahr rund 40 000 vor allem mittelständische Unternehmen vom Markt verschwinden lassen.

Die schwachen Finanzen haben natürlich auch etwas mit Entscheidungen zu tun, die Rot-Grün im System der sozialen Sicherung getroffen hat.

Zur Gesundheitsreform. Die FDP hat auf Bundesebene schon bei den Beratungen im Sommer 2003 für eine grundlegende Änderung der Finanzierung der Krankenversicherung geworben. Sie konnte sich nicht durchsetzen und ist konsequenterweise aus den Gesprächen ausgestiegen. Mit der zu Beginn des Jahres 2004 in Kraft getretenen Gesundheitsreform sollte – dessen war sich Frau Schmidt diesmal wirklich ganz sicher – der durchschnittliche Beitragssatz zur Krankenversicherung von 14,3 % auf 13,6 % sinken. Ich will es kurz machen: Zum 01.10.2004 lag der Durchschnitt bei 14,21 %!

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Bitte schön.

Frau Abgeordnete, stehen Sie als sächsische FDP zu den Grundsätzen, die Sie auf Ihrem letzten Parteitag beschlossen haben, wonach Sie eine nahezu komplette Abkehr vom Solidarsystem anstreben?

Wir stehen zu einer grundsätzlichen Reform der Sozialversicherungssysteme und damit zu einer grundsätzlichen Reform der Krankenversicherung; denn die beschlossene Reform war ein viel zu kurzer Wurf bzw. hat nicht gegriffen. Rot-Grün hat auf der Ausgabenseite zwar gewisse Reduzierungen erreicht. Auch der Zuschuss in Höhe von einer Milliarde Euro aus dem Bundeshaushalt leistet einen Beitrag zur Entlastung der Kassen. Darüber hinaus trägt die Verbeitragung der Zusatzversorgung und Di

rektversicherung mit 900 Millionen Euro zu dem Ergebnis der Krankenkassen bei. Da die Kassen seit 2002 aber eine Verschuldung von 8 bis 10 Milliarden Euro aufgebaut haben, denken sie gar nicht daran, Beiträge zu senken. Im Gegenteil, wir hören, im nächsten Jahr sei eher mit Beitragserhöhungen als mit -senkungen zu rechnen. In dieser Situation versucht Frau Schmidt es mit Desinformation. So war am 19.11.2004 im Ticker bei AFP unter der Überschrift „Schmidt kündigt sinkende Kassenbeiträge an“ zu lesen, sie hätte in einem Interview mit der „Bild“-Zeitung gesagt: „Wir werden am 1. Juli 2005 nahe an 13 % herankommen.“ Das ist nun wirklich dreist von Rot-Grün! Denn wegen der Zwangsabsenkung der Beiträge zum 01.07.2005 um 0,9 % als Ausgleich für die zeit- und prozentgleiche Erhebung eines Sonderbeitrags für Krankengeld und Zahnersatz, der dann aber allein von den Versicherten getragen werden muss, bedeutet das im Klartext: Sie rechnet selbst nicht mehr damit, dass es zu nennenswerten weiteren Beitragssenkungen kommen wird. Die Versicherten werden nicht etwa entlastet, sondern zahlen im Ergebnis noch mehr als heute. Das ist die Realität rot-grüner Gesundheitspolitik im Jahr 2005. Das hat zur Folge, dass man in Kürze schon wieder eine Gesundheitsreform angehen muss.

(Beifall bei der FDP)

Das Wort hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Frau Herrmann.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Schütz, schon bei Einführung der Gesundheitsreform hat Rot-Grün gesagt, dass das nur ein Beginn sein kann. Wenn Sie uns heute vorwerfen, dass es weitergehende Schritte geben müsse, dann sage ich Ihnen: Uns war bewusst, dass es weitergehen muss.

(Dr. André Hahn, PDS: Aber in die richtige Richtung!)

Ein erklärtes Ziel der Gesundheitsreform war, wie schon oft gesagt wurde, die Begrenzung der Lohnnebenkosten, um die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt zu verbessern. Dazu hat die Gesundheitsreform einen Beitrag geleistet. Im ersten Halbjahr 2004 hat die gesetzliche Krankenversicherung erstmals wieder schwarze Zahlen geschrieben.

(Beifall bei den GRÜNEN und vereinzelt bei der CDU)

Inzwischen sind die Beitragssätze einiger Kassen gesunken. Andere Kassen haben die Einsparungen verwendet, um mit dem Abbau der Schulden zu beginnen. In Zukunft müssen alle Einsparungen deutlich an die Versicherten weitergegeben werden.

(Vereinzelt Beifall bei den GRÜNEN)

Die bisher erreichten Kosteneinsparungen und Beitragssenkungen sind vor allem durch die höhere Selbstbeteiligung der Patientinnen und Patienten sowie durch die Leistungsbegrenzung erreicht worden. Dagegen ist

grundsätzlich nichts einzuwenden. Zuzahlung und Selbstbeteiligung sind nicht per se eine Sünde wider den Sozialstaat. Wenn bei steigenden Anforderungen an die Krankenversicherung durch einen höheren Eigenanteil der Versicherten die Rationierung medizinischer Leistungen verhindert werden kann, ist das durchaus sozialstaatlich – solange durch angemessene Belastungsgrenzen verhindert wird, dass Einzelne überfordert werden.

Klar ist aber auch, dass höhere Selbstbeteiligungen strukturelle Formen ergänzen, aber nicht ersetzen können. Da sind wesentliche Ansatzpunkte im Gesundheitsmodernisierungsgesetz vorhanden. Ich nenne nur die starre Abschottung verschiedener Leistungsbereiche, die es nicht mehr geben wird und die auch nicht weiter bestehen können, weil zum Beispiel ein Anstieg bei den chronischen Erkrankungen zu verzeichnen ist und wir da übergreifende Behandlungen brauchen. Wir brauchen die Einführung einer integrierten Versorgung. Für diese Zusammenarbeit, die möglich und auch gefördert werden wird, werden bis 2006 bis zu 600 Millionen Euro für die Integrationsversorgung zur Verfügung gestellt werden. Gesundheitszentren sind schon angesprochen worden.

Weiterhin ist vorgesehen, die Krankenhäuser für fachärztliche ambulante Versorgung zu öffnen. Das hat bisher noch nicht so geklappt. Aber daran wird weiter gearbeitet. Auch das ist eine Möglichkeit, in Sachsen dem Ärztemangel entgegenzutreten.

Die angestrebten integrierten Versorgungsstrukturen sind weiterhin auch Voraussetzung für ein erfolgreiches Hausarztmodell, das künftig flächendeckend angeboten wird. Wir brauchen diese vernetzten Strukturen, aber genau diese brauchen auch Zeit und ein Jahr ist da einfach zu kurz.

Es stimmt, es gibt Untersuchungen darüber, ob und wie sich durch die Praxisgebühr die Inanspruchnahme von Ärzten oder einzelnen Ärztegruppen in diesem Jahr verändert hat. Es gibt diese Untersuchungen zum Beispiel vom Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in Deutschland. Es stimmt auch, dass Arztbesuche bis zirka 9 % zurückgegangen sind. Dieser Fallzahlenrückgang ist nicht begleitet von einem Rückgang der Kontakte bei einer bestimmten Krankheit. Das heißt, dass bei schwierigeren Erkrankungen die Menschen nach wie vor zum Arzt gehen. Bei diesen Arztbesuchen ist ein Rückgang nach Einführung der Praxisgebühr nicht eingetreten. Insgesamt war ein Fallzahlenrückgang aber auch erwartet und er war bei den Fachärzten auch gewünscht. Das bedeutet, dass, bevor der Kontakt mit dem Facharzt gesucht wird, der Hausarzt aufgesucht wird und in manchen Fällen dann der Besuch des Facharztes vermieden werden kann. Dafür spricht die Zahl, dass der Anteil der Überweisungen an allen Behandlungsfällen seit Einführung der Praxisgebühr stark zugenommen hat, nämlich von unter 10 % im letzten Quartal 2003 auf über 40 % in allen Quartalen 2004.

Es ist nicht in Ordnung, die Zahlen jetzt schon dahin gehend zu interpretieren: Die Leute gehen nicht mehr zum Arzt weil es etwas kostet. Davor warnt auch der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Manfred RichterReichhelm. Er sagt: „Ob aufgrund der Praxisgebühr die Patienten wegbleiben und, wenn ja, welche Patienten

gruppen es sind, wird sich erst im Laufe der Zeit sagen lassen.“

Natürlich gibt es Probleme im Zusammenhang mit der Gesundheitsreform. Die sind hier angesprochen worden. Es gibt Probleme durch die Zuzahlung bei Medikamenten, die jetzt frei sind, und es gibt Probleme zum Beispiel bei Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen.