Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Wiechmann, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie in einer sehr sachlichen Form die Diskussion begonnen haben. Ich denke, wir tun alle gut daran, wenn wir auch mit Blick auf die Opfer der Taten der zurückliegenden – man muss sagen – Monate, im Zweifelsfall sogar Jahre mit der gebotenen Sachlichkeit, Ruhe und Ernsthaftigkeit diskutieren. Ich glaube, aus Ihrer Rede ist auch deutlich geworden, dass dies wirklich und wahrhaftig kein reines Schulthema ist. Wir reden über Gewalt, was Opfer zu erleiden haben und darüber, dass es in der Zwischenzeit offensichtlich gang und gäbe geworden ist, wegzuschauen und den Opfern von Gewalt nicht zu helfen, aber den Tätern, die gewalttätig geworden sind, scheinbar auch nicht; denn so lange es sich um junge Menschen handelt, brauchen sie sicherlich eines ganz besonders und intensiv, und das ist Hilfe, nicht Strafe.
Eines ist mir wichtig, und ich bin froh, dass es aus Ihren Worten zumindest zum Teil klar geworden ist, nämlich dass wir in dieser Diskussion unseren Schulen nicht die alleinige Verantwortung zuschieben und so tun, als wenn das Problem von Gewalt in unserer Gesellschaft, aber auch Gewalt speziell an Schulen ein Thema sei, das Schule allein oder die in der Schule Tätigen allein lösen könnten.
Eines ist auch deutlich, wenn man sich mit den Zahlen auseinander setzt. Das, was Statistiken aussagen, spricht keine so grausame Sprache wie das, was Einzelberichte schildern.
Wir haben im vergangenen Jahr das Ministerium gefragt, wie viele Gewaltvorkommnisse der Schulaufsicht gemeldet worden seien, die mit irgendwelchen Formen von körperlichen Schäden einhergegangen sind, sodass die Versicherung eingeschaltet werden musste. Wir haben Zahlen bekommen, nach denen wir das Gefühl hatten, es wird sogar besser:
Das klingt nicht dramatisch. Was aber dramatisch klingt, ist, wenn man dahinter schaut, was in den Einzelfällen wirklich passiert ist. Gewalt die an Schulen geschieht, aber auch Gewalt, die außerhalb von Schulen geschieht, wird brutaler, grausamer, gnadenloser, und sie wird
Es gibt junge Menschen, die in ihrer Perspektivlosigkeit und Hoffnungslosigkeit – – – Sie haben sehr deutlich geschildert, aus welchem Milieu die Täter meistens kommen: aus sozial verarmten Schichten, arbeitslose Eltern, Gewalterfahrungen allenthalben zwischen den Erwachsenen, zwischen den Erwachsenen und den Kindern. – Es gibt jugendliche Täter, deren – in Anführungszeichen – „berufliche Perspektive“ darin besteht, das zu tun, was sie tagaus und tagein erleben, nämlich zu vermarkten. Dann haben sie nur etwas, das sie vermarkten können, und das heißt Gewalt. Das nehmen sie auf Video auf, stellen es ins Internet und versuchen, darüber Geld zu bekommen.
Erschütternder geht es eigentlich nicht mehr. Aber es ist ein Mechanismus, der uns auf etwas anderes „hinstupst“, nämlich darauf, dass diese Jugendlichen offensichtlich einen Lehrherrn gehabt haben oder haben. Dieser Lehrherr, das sind auch die Medien, die ihnen beibringen, dass man mit alltäglicher und grausamer Gewalt stundenlang, tagelang und wochenlang Geld verdienen kann, und das mittlerweile in allen Medien.
Wenn wir wissen und lesen, dass BVJ-Schülerinnen und -Schüler im Durchschnitt sechs Stunden am Tag Fernsehen, Videos oder PC-Spiele konsumieren, dann wissen wir, wo die wirklichen Einflüsse bei diesen Jugendlichen liegen. Wenn wir uns unseren eigenen Medienkonsum anschauen und feststellen, dass es keine Nachrichtensendung mehr gibt, in der wir nicht Blut, Tote, Körperteile oder sonstige Grausamkeiten vorgeführt bekommen, und wir Menschen hören, die sagen, hast du schon gehört, heute Morgen ist ein Flugzeugunglück passiert, aber man hat noch gar nichts im Fernsehen gesehen, dann wissen wir auch, dass wir zwischenzeitlich Gewalt als Alltäglichkeit konsumieren und hinnehmen.
Ich glaube, wir haben in Rheinland-Pfalz in der Zwischenzeit etwas an unseren Schulen erreicht, worauf wir aufbauen sollten und worüber wir zumindest sagen sollten, dieser Anfang ist wirklich ganz hervorragend.
Wir haben das Thema „Gewalt“ in den Lehrplänen und in den vielfältigsten Unterrichtsmaterialien. Wir haben Projekte wie „PIT“ oder „PROPP“, die individuelle Stärke herausbilden sollen, die das Neinsagen, hinzuschauen und über das Gewalterlebnis zu reden, trainieren. Außerdem haben wir Streitschlichterprogramme für Schülerinnen und Schüler. Ferner gibt es die Zusammenarbeit mit dem Landespräventionsrat und den kommunalen Präventionsräten und die Zusammenarbeit mit Jugendhilfe und Polizei. Wir haben das Programm des Innenministeriums „Wer nichts macht, macht mit“. Wir haben das Programm „Sport und Spiel gegen Gewalt“. Vor allen Dingen gibt es Weiterbildungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer. Außerdem haben wir – darauf lege
ich Wert; denn das war Ihre große Forderung – an 43 von 46 berufsbildenden Schulen, die Berufsvorbereitungsjahre anbieten, Schulsozialarbeit.
Dennoch brauchen wir etwas. Wir brauchen die soziale Diskussion. Wir brauchen das Thema „Soziale Gerechtigkeit“, und wir brauchen die Bewältigung von sozialer Armut, Hoffnungslosigkeit und Perspektivlosigkeit bei unseren Jugendlichen.
Das erreichen wir aber sicherlich nur in einem gesellschaftlichen Diskurs und in der Zusammenarbeit aller Verantwortlichen. Wir brauchen für die Jugendlichen Arbeit und Ausbildung. Dafür brauchen wir unsere Wirtschaft, die sich mit diesem Thema auseinander setzen muss. Es ist also kein Schulthema, sondern ein gesellschaftliches Thema.
Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren! Jugendgewalt findet derzeit in den Medien statt. Nicht nur deshalb ist das Thema heute Gegenstand unserer Landtagssitzung. Das ist keine Kritik. Ich bin der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ausgesprochen dankbar, dass sie das Thema auf die Tagesordnung gesetzt hat.
Auf den Schulhöfen findet Jugendgewalt schon lange statt. Sie kommt nicht über Nacht. Es gibt hohe Dunkelziffern. Das wissen wir – sind wir ehrlich – schon sehr lange.
Ich erinnere mich an den Besuch einer Hauptschulklasse aus Bingen im Landtag in der vergangenen Legislaturperiode. Ich meine, Sie waren damals auch dabei, Frau Präsidentin. Wir saßen zusammen, und irgendwie kam die Diskussion nicht richtig ins Laufen. Dann hatten wir ein Thema. Plötzlich ging es um Gewalt in der Schule. Dann haben die Schülerinnen und Schüler ausgepackt. Sie haben erzählt, was in den Schulen passiert. Ich war damals ein junger Abgeordneter, und es hat mich tief bewegt. Sie haben sehr konkret ausgepackt. Sie saßen mit ihren Waffen, von denen sie glaubten, sie müssten sie haben, um sich zu verteidigen, im Plenarsaal. Das hat mich tief beeindruckt.
„Gewalt“ ist ein Thema, das zurzeit in den Medien ist. Jugendgewalt ist aber hartnäckig, im Gegensatz zu den Medien, die sehr kurzlebig sind. Wir werden das Problem der Jugendgewalt nicht mit dieser Aktuellen Stunde lösen. Dieses Thema werden wir immer wieder auf die Tagesordnung setzen müssen; denn Jugendgewalt ist sonst eine tickende Zeitbombe.
Die Schüler haben Angst. Aber auch die Lehrer haben Angst, speziell beim Berufsvorbereitungsjahr. Im Berufsvorbereitungsjahr sind die Lehrer oft froh, wenn die Schüler schwänzen. Häufig haben sie keinen Hauptschulabschluss und häufig Probleme mit der deutschen Sprache. Deshalb haben sie oft keine Perspektive. Das persönliche Ego dieser Schülerinnen und Schüler – meistens sind es Jungs, die gewalttätig werden – und die erlebte Realität klaffen auseinander. Wenn dann noch die Erfahrung häuslicher Gewalt hinzukommt, dann führt diese Perspektivlosigkeit dazu, dass man auch mit Gewalt seinem Frust Luft macht. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf eine Frage der CDU-Fraktion und die Antwort darauf vom Bildungsministerium vom 14. Oktober, dass aggressive Schüler häufig aus Familien ohne Wärme und klare Erziehungsregeln kommen.
Die Lehrer fühlen sich allein gelassen. Dennoch leisten die Kollegien – weil sie es müssen – die Arbeit und bemühen sich, eine Antwort zu geben. Lehrer fühlen sich aber auch von ihrem Dienstherrn allein gelassen. Weil wir der Landtag sind, müssen wir das auch einmal sagen. Es ist nämlich auch ein landespolitisches Thema. Sie wollen fördern, zum Beispiel im Deutschunterricht. Sie wollen Schulsozialarbeit und Schlichterprogramme flächendeckend rechtzeitig anbieten. Sie wollen, dass die Schülerinnen und Schüler durch die Schulpsychologen beraten werden.
Dazu gibt es in unserem Land zweifellos tolle Modellprojekte. In der Fläche ist das aber viel zu wenig und greift vor allen Dingen viel zu spät. Wir haben einen Schulpsychologischen Dienst, der aufgestockt worden ist. Das freut uns. Wir müssen – das hat auch Herr Kollege Wiechmann gesagt – diesen Schulpsychologischen Dienst deutlich aufbauen. Das ist eine alte Forderung. Sie ist deshalb immer noch richtig, weil das Verhältnis zwischen Schülern und Schulpsychologen einfach lächerlich ist. Natürlich war es eine gute Überlegung zu sagen, aus den Schulpsychologen Teams zu bilden, damit sie miteinander ins Gespräch kommen. Das führt aber dazu, dass die wenigen Schulpsychologen viel größere Bezirke haben, die sie abdecken müssen, und nur noch im Auto sitzen.
Ich habe nichts dagegen, dass Schulpsychologen im Team arbeiten, in dem sie sich abstimmen können. Mehr Beratung wäre aber einfach besser.
Der zweite Aspekt, der mir wichtig ist, ist die Tatsache, dass es in den berufsbildenden Schulen einfach schon zu spät ist. Wir müssen viel früher ansetzen. Wir müssen bereits in den Kindertagesstätten und in den Grundschulen ansetzen. Wir müssen unsere Schülerinnen und Schüler früh fördern und fordern. Das bedeutet nicht nur, dass wir versuchen, ihnen Wissen, Kenntnisse und klassische Bildungsinhalte zu vermitteln, sondern früh fördern und fordern bedeutet auch, dass sie soziale Kompetenz und soziales Lernen lernen müssen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf unseren PISAAntrag, den Sie leider abgelehnt haben. Die berufsbil
denden Schulen können die Probleme kaum lösen. Die Probleme bestehen häufig seit Jahren. Sie haben sich entwickelt. Erst in der berufsbildenden Schule zu versuchen, Schüler zu erziehen, ist oft zu spät.
Die Erziehung ist der verfassungsgemäße Auftrag aller Schulen. Darin muss die Schule die Elternhäuser in ihrem Erziehungsrecht und in ihrer Erziehungspflicht unterstützen. Sie muss helfen.
Früh fördern und fordern heißt deshalb, Elternbildung in der Zeit, in der Schülerinnen und Schüler in die Kindertagesstätte bzw. in die Grundschule gehen. Man traut sich in diesem Haus kaum – zum Schluss darf das vielleicht angemerkt sein – eine Forderung nach Elternbildung aufzustellen; denn in einem solchen Fall verweist die Landesregierung auf die Kommunen als Schulträger und Träger der Jugendhilfe. Dann fühlen sich am Ende auch die Kommunen allein gelassen. Sie bezahlen ganz im wörtlichen Sinn für das mangelnde Interesse des Dienstherrn und für das mangelnde Engagement.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Gewalt ist in der Tat ein Thema, mit dem wir uns gesellschaftspolitisch dauerhaft beschäftigen müssen. Es ist ein Thema, mit dem sich jede Gesellschaft dauerhaft auseinander setzen muss. Es ist kein Thema, bei dem es reicht, es anlassbezogen zu diskutieren. Ich denke, dieser Tatsache sind wir uns alle bei dieser Debatte bewusst.
Man kann das Thema nicht isoliert sehen. Wenn man sich auf dieses Thema vorbereitet, dann findet man Studien aus nahezu allen europäischen und außereuropäischen Ländern. Ich bin auf eine Studie aus England gestoßen, in der aber auch dänische und norwegische Probleme und Problemlösungen angesprochen wurden. In den frühen 90er-Jahren ging es um das Thema „Bullying an Schulen“, das auch in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle spielt. Daran wurde hergeleitet, dass bereits im 19. Jahrhundert ähnliche Probleme bestanden und die Gesellschaften jeweils versuchten, unterschiedlich mit diesem Problem umzugehen.
Hinzu kommt, dass das Problem „Gewalt“ bei Jugendlichen eine sehr große Komplexität hat. Im Ausschuss ist uns ein Auszug bzw. eine Zusammenfassung der BKAStudie vorgelegt worden. In dieser waren einige Kernfaktoren aufgezeigt. An erster Stelle stand die Herkunft der Familie. Dann ging es um die Persönlichkeitsstruktur der Täter. Ferner ging es um die soziale Kompetenz und das Coping-Verhalten. Außerdem spielen natürlich die Schulleistung, die Schullaufbahn und das Schulklima
eine Rolle. Außerdem darf die so genannte Peer-Group nicht vernachlässigt werden. Außerdem spielen Freizeitaktivitäten und Medienkonsum, den Frau Kollegin Brede-Hoffmann bereits angesprochen hat, eine Rolle.
Daran sieht man, dass das kein Problem ist, das plötzlich zuschlägt, wenn sich jemand im Berufsvorbereitungsjahr befindet, sondern das sind Probleme, die sich sehr stark kumulieren müssen. Ungefähr 5 % aller Jugendlichen sind regelmäßig körperlich aggressiv, sodass es sich um Karrieren handelt, bei denen eine hohe Komplexität vorliegt. Deshalb muss man entsprechend reagieren.
Das Problem muss sehr vielschichtig angegangen werden. Es wurde auch von Prävention ab der Nabelschnur gesprochen. Man muss natürlich auch die Eltern einbeziehen und schon in der Kindertagesstätte ansetzen. Es bedarf einer engen Kooperation von Schule, Jugendhilfe, Polizei, Kommunen und allen Beteiligten, die ich bisher schon genannt habe.
Es gibt dann auch verschiedene Ebenen, bei denen man beim Jugendlichen selbst ansetzen muss, nämlich bei der kognitiven Ebene, bei der emotionalen Ebene und bei der Verhaltensebene. Das sage ich nur, um zu skizzieren, dass das Problem hoch komplex ist und es nicht auf einzelne Fälle beschränkt werden kann, die sich dann gerade an der berufsbildenden Schule zeigen.