Protocol of the Session on May 23, 2019

(Zustimmung bei der CDU und bei der SPD)

Wer doch nach einfachen Lösungen schreit - das gibt es häufig heute -, der hat die komplexen Zusammenhänge in einer globalisierten Welt eben nicht verstanden. Meiner Meinung nach geht es heute auch häufig mehr oder weniger um diffuses Unbehagen in unserer Gesell

schaft an ganz unterschiedlichen und teilweise äußerst kleinteiligen Sachverhalten, von Unterrichtsausfall bis zur Verweigerung einer Baugenehmigung.

Dass es in Deutschland an politischen Beteiligungsmöglichkeiten fehlt, kann ich jedenfalls nicht ernsthaft behaupten. Manche finden es scheinbar schlicht bequemer, einmal pro Woche durch die Stadt zu marschieren und sich schreiend und krakeelend zu äußern, als sich durch kontinuierliche Mitarbeit in Parteien, Verbänden oder Bürgerinitiativen an einer sachorientierten tatsächlichen Lösung der Probleme persönlich zu beteiligen.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung von Hol- ger Hövelmann, SPD, und von Ronald Mor- mann, SPD)

Unsere Gesellschaft unterliegt enormen Umwälzungsprozessen. Es gibt mehr Wechsel- als Stammwähler. In unserer postmodernen Gesellschaft existieren zudem keine klassischen gesellschaftlichen Schichten oder Gruppeninteressen, sondern individuelle Lebenslagen. Das Kollektiv, das „seine“ Interessen an „seine“ Politiker nach oben delegiert, gehört der Vergangenheit an. Stattdessen bestimmen fragmentierte Interessen, Patchworkfamilien oder flexible Arbeitsbedingungen die Sozialstruktur der modernen Gesellschaft. Jeder Einzelne wird dabei zum selbstständigen Manager seines eigenen Privatlebens, seiner Erwerbsbiografie und seiner politischen Vorlieben.

Bei allen Umbrüchen, meine Damen und Herren, die sich gerade in dieser Welt vollziehen, sollten wir stets auch die drohenden Gefahren sehen und auch die Umbrüche als Chance begreifen, um etwas neu und anders zu gestalten. Schöpfen wir aus den unruhigen Zeiten Kraft, um die kommenden Herausforderungen positiv für unser Land zu nutzen. Das ist gut so, auch dass wir das Grundgesetz stets bei uns wissen und darauf zurückgreifen können, meine Damen und Herren; denn auch nach 70 Jahren ist es keineswegs in die Jahre gekommen. Aber es gibt uns täglich die Sicherheit, dass wir uns in unserer Heimat in einem rechtssicheren Raum bewegen können. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Abg. Borgwardt. - Als Nächster wird für die Landesregierung der Ministerpräsident Herr Dr. Haseloff sprechen. Danach geht es weiter mit dem Fraktionsvorsitzenden Herrn Kirchner für die AfD, dann für die Fraktion DIE LINKE Frau von Angern, für die SPD Herr Hövelmann und für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE

GRÜNEN Herr Striegel. Herr Ministerpräsident, Sie haben jetzt das Wort.

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Der 70. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes ist ein guter Anlass, um an die Arbeit des Parlamentarischen Rates und seine Bedeutung für die gesamte Geschichte unseres Landes zu erinnern. Seine Mitglieder, die Verfassungsmütter und -väter, zogen die richtigen Lehren und Konsequenzen aus der Geschichte. Gemeinsam schufen sie die Grundlagen für eine erfolgreiche, angesehene und stabile Demokratie und ein geeintes Deutschland in der Mitte Europas.

Das Grundgesetz spiegelt auch die Weimarer Erfahrungen wieder. Verfassung und Scheitern der Weimarer Republik waren bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates immer präsent. Weimar war gleichsam die Negativ-Folie, vor deren Hintergrund die zweite deutsche Demokratie konzipiert und oft ängstlich beurteilt wurde. Bereits Mitte der 1950er-Jahre veröffentliche der Schweizer Publizist Fritz René Allemann sein Buch „Bonn ist nicht Weimar“. Der Titel wurde zum geflügelten Wort. Auch Berlin ist nicht Weimar, aber - darauf wurde zu Recht hingewiesen - ohne Weimar kein Bonn.

Das Scheitern der Weimarer Republik gehört nicht nur zur Vorgeschichte des sogenannten Dritten Reiches. Ihre Geschichte gehört auch im Guten wie im Schlechten zur Vorgeschichte der zweiten gesamtdeutschen Demokratie. So ist von der Weimarer Reichsverfassung treffend als Gesellenstück und vom Grundgesetz als Meisterstück der deutschen Demokratie gesprochen worden.

Die vor 100 Jahren verabschiedete Weimarer Reichsverfassung war die erste demokratische Verfassung Deutschlands. Ihre Legitimationsgrundlage war das Prinzip der Volkssouveränität. Dennoch steht sie in keinem guten Ruf. Vor allem der Notstandsartikel 48 wird für das Scheitern der Weimarer Republik mit verantwortlich gemacht.

Dieses Urteil ist allerdings nicht gerechtfertigt. Weimar ist an vielen, oft miteinander verschränkten Faktoren und Krisen gescheitert, am Ansturm der linken und rechten Extremisten, an der Weltwirtschaftskrise, an der mangelhaften Verankerung demokratischen Gedankengutes in der Bevölkerung, an der fehlenden Kompromissfähigkeit der demokratischen Parteien und an außenpolitischen Hypotheken, sehr geehrte Damen und Herren. In viel größerem Maße als die Verfassung trug die politische Kultur zum Scheitern der ersten deutschen Republik bei.

Die Weimarer Reichsverfassung war hingegen in bemerkenswerter Weise modern und innovativ. Sie knüpft wie später das Grundgesetz an das sich seit dem 18. Jahrhundert ausbildende westliche Verfassungsmodell an. Ihr Artikel 1 Abs. 2 lautet: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Dieser Artikel proklamierte, was die Nachfolgenden organisierten, nämlich Demokratie und Volkssouveränität.

Die Weimarer Verfassung war der erste erfolgreiche Akt der Volkssouveränität in der deutschen Geschichte und ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Während die Bismarck‘sche Reichsverfassung - von der Staatsangehörigkeit, dem Wahl- und Petitionsrecht abgesehen - grundrechtslos war, widmete sich die Weimarer Verfassung im zweiten Hauptteil sehr ausführlich den Grundrechten und Grundpflichten. Sie enthielten nicht nur allgemeine Rechtssätze, sondern schufen positives Recht.

Wegen der überragenden Bedeutung der Grundrechte im Grundgesetz spricht man von der Grundrechterepublik Deutschland. Allzu oft wird dabei übersehen, auch Weimar war trotz aller signifikanten Unterschiede eine Grundrechterepublik. Darüber hinaus führte die Weimarer Verfassung das Frauenwahlrecht ein, was, meine Damen und Herren, alles andere als selbstverständlich war, behandelte eingehend die Sozialstaatlichkeit und regelte vorbildlich das Verhältnis zwischen Staat und Religion, sodass die entsprechenden Artikel in das Grundgesetz eingebracht wurden. Die Weimarer Verfassung ist als wichtige Leistung der deutschen Demokratiegeschichte zu würdigen. Sie war eine gute Verfassung und verdient Anerkennung. Auch daran ist heute zu erinnern.

Fortschrittlich und modern war auch die Verfassung für Anhalt. Auch sie wurde vor 100 Jahren verabschiedet. Ihr § 2 lautet: „Die Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Für sie wie für die Weimarer Verfassung und später das Grundgesetz gilt: Nichts ist voraussetzungslos. Niemand fängt ganz von vorne an.

Die deutsche Demokratiegeschichte beginnt nicht erst nach 1919 oder 1945. Ihre Anfänge liegen am Ende des 18. Jahrhunderts. Auch die Frankfurter Paulskirchen-Verfassung aus dem Jahr 1848 enthielt einen umfassenden Grundrechtekatalog. Er umfasste klassisch liberale und politische Rechte. Die Paulskirchen-Verfassung hat den Weg in die bürgerliche Gesellschaftsordnung geöffnet, und daran knüpfen die Weimarer Verfassung, die Länderverfassungen und das Grundgesetz an.

Zum wichtigsten Dokument unseres demokratischen Selbstverständnisses ist das Grundgesetz

geworden. Wir erinnern heute an eine großartige Erfolgsgeschichte und einen großen Glücksfall in unserer Geschichte. Das von den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates geschaffene Grundgesetz steht für ein weltoffenes und demokratisches Deutschland sowie für ein aufgeklärtes Verständnis von Nation. Demonstrativ und programmatisch wird der Grundrechtekatalog an den Anfang der Verfassung gestellt und mit der Garantie der Menschenwürde eröffnet.

Diese hervorgehobene Positionierung hat ihre guten Gründe. Sie ist eine unmittelbare Reaktion auf das verbrecherische Regime der Nationalsozialisten. Das Grundgesetz ist konzipiert als Antithese zum politischen Extremismus. Unsere Demokratie ist streitbar und wehrhaft und mehr als nur eine Regierungsform. Sie ist ebenso eine Lebensform und Lebenseinstellung.

Unsere Rechts- und Verfassungsordnung ist unsere normative Grundlage. Sie schließt das Bekenntnis zu den unveräußerlichen Menschenrechten, zur Herrschaft des Rechts, zur Gewaltenteilung, zur Volkssouveränität und zur repräsentativen Demokratie ein. Extremistische und antisemitische Parolen haben in unserer Gesellschaft keinen Platz. Wir werden solche Einstellungen niemals dulden.

(Zustimmung im ganzen Hause)

Dazu verpflichtet uns auch unsere Verfassung. Ich erinnere an Artikel 20 Abs. 4. Bereits im Jahr 1956 urteilte das Bundesverfassungsgericht: Gegenüber totalitären Parteien ist der freiheitlichen Demokratie, die die Würde des Menschen zu verteidigen hat und zu sichern hat, eine neutrale Haltung nicht mehr möglich.

Die Weimarer Verfassung hatte hierbei auf eine Lösung verzichtet, und ihre politische Indifferenz war folgenreich. Insofern ist das Grundgesetz eine doppelte Reaktion. Erstens sollten die Fehler der Weimarer Zeit vermieden werden, und zweitens war die Erfahrung mit der deutschen Katastrophe für das Grundgesetz ebenso prägend. Es war eine Zukunftsbewältigung aus Vergangenheitserfahrung.

Deshalb gibt es das konstruktive Misstrauensvotum. Deshalb nimmt das Staatsoberhaupt rein repräsentative Aufgaben wahr. Deshalb gibt es den Artikel 79 Abs. 3, deshalb sind die Hürden für Neuwahlen hoch.

Auch das ist ein Grund für die beeindruckende Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes. Substantieller Eingriffe bedurfte es bis heute nicht. Die Verfassungsmütter und -väter würden ihre Verfassung auch nach sieben Jahrzehnten wiedererkennen. Trotz zahlreicher Änderungen sind ihre Grundstrukturen und ihr Kern geblieben.

Eine schwere Verfassungskrise ist bislang ausgeblieben. Vieles an diesem Grundgesetz hat auch das Ausland beeindruckt. Heute genießt das Grundgesetz international eine hohe Reputation. Das Grundgesetz ist ein Spiegel unserer Geschichte und wie jede Verfassung primär Ausdruck von individuellen und nationalen Prägungen und Entwicklungen. Dennoch ist es zum Vorbild für andere Verfassungen geworden. Das ist alles andere als selbstverständlich und ein Grund mehr, stolz auf diese Verfassung zu sein.

In diesem Sinne plädiere ich für einen echten Verfassungspatriotismus. Ich greife dabei einen Begriff von Dolf Sternberger auf. Der Heidelberger Ordinarius für Politikwissenschaft sah die Wurzeln eines echten Patriotismus in den Möglichkeiten der freien Mitgestaltung des Staatswesens. Ich zitiere:

„Der Begriff des Vaterlandes erfüllt sich erst in seiner freien Verfassung - nicht bloß in seiner geschriebenen, sondern in der lebenden Verfassung -, in der wir alle uns als [Bürgerinnen und] Bürger dieses Landes befinden, an der wir täglich teilnehmen und weiterbilden.“

Darin kann man Sternberger nur beipflichten. Eine geschriebene Verfassung ist kein Wert an sich, wenn sie nicht mit Leben erfüllt wird, wenn sie nicht befolgt und wenn nicht nach ihr gehandelt wird. Das ist eine Aufgabe, der wir uns täglich neu stellen müssen - erst recht im 30. Jahr der friedlichen Revolution in der DDR. Die friedliche Revolution führte zur ersten freien Wahl der Volkskammer, die dann ebenso frei und souverän mit großer Mehrheit den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes beschloss. Wir wollten Einigkeit und Recht und Freiheit.

(Zustimmung bei der CDU, bei der LINKEN, bei der SPD, bei den GRÜNEN und von der Regierungsbank)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. Es gibt eine Frage.

Gern.

Herr Abg. Poggenburg, Sie haben das Wort, bitte.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, ich möchte die wirklich gute Rede gar nicht durch ein FrageAntwort-Geplänkel zerstören und bleibe bei einer

Kurzintervention. - Ich muss sagen, ich fand Ihre Einlassung sehr richtig und gut, dass das Projekt Weimarer Republik an linken und rechten Extremisten gescheitert sei. Genau so war es. Vor diesem Hintergrund sollten wir aber wirklich einmal dahin kommen, dass wir, die wir heute sehr viel gegen den Rechtsextremismus tun, in Zukunft noch sehr viel mehr gegen den Linksextremismus tun. - Danke sehr.

Das war eine Intervention.

Sie wollen nichts erwidern?

Nein.

Das müssen Sie auch nicht; es war eine Kurzintervention. Vielen Dank. - Wir kommen zum nächsten Debattenredner. Für die AfD-Fraktion spricht der Abg. Herr Kirchner. Sie haben das Wort.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Werte Abgeordnete! Hohes Haus! „Dauer [ist] noch kein Wert an sich“, so formulierte es mein geschätzter Kollege Dr. Alexander Gauland, als der Bundestag vergangene Woche anlässlich des 70. Jahrestages unseres Grundgesetzes debattierte. Damit hat er selbstverständlich recht.

Wenn wir heute über 70 Jahre Grundgesetz, die Weimarer Reichsverfassung und die Verfassung von Anhalt debattieren, dann müssen wir genau schauen - sofern das innerhalb der Kürze der Zeit möglich ist -, wo die Stärken und Schwächen liegen und was warum und wie entstanden ist. Auch müssen wir schauen, wie robust insbesondere die Verfassung von Weimar war und wie stabil unser Grundgesetz heute ist.

Die Unterzeichnung der Verfassung des Deutschen Reiches im Jahr 1919 war eher unspektakulär. Zwar wurde der 11. August in den Folgejahren der Weimarer Republik zum Nationalfeiertag, doch war man von einem Gründungsmythos weit entfernt. So existiert nicht einmal eine Fotografie, welche Reichspräsident Friedrich Ebert bei seiner Unterschrift im Urlaub im thüringischen Schwarzenberg zeigt.

Dennoch war die Weimarer Reichsverfassung die erste effektive demokratische Verfassung Deutschlands. Sie gab der föderalen Republik den Rahmen und legte ein semipräsidentielles

Regierungssystem fest. Gerade dieses gemischt präsidial-parlamentarische System wurde nach 1945 dafür kritisiert, für die Machtergreifung der Nationalsozialisten mitverantwortlich zu sein - eine Einschätzung, die neueren Forschungen immer weniger standhält.

Hierin liegt der größte Unterschied zwischen der Weimarer und der Bonner Verfassung: die Stellung des Präsidenten. In Weimar noch direkt vom Volk auf sieben Jahre gewählt und mit umfassenden Kompetenzen ausgestattet, zum Beispiel der Kompetenz zur Ernennung des Reichskanzlers, dem Recht zur Auflösung des Reichstages sowie der Kompetenz zum Erlass von Notverordnungen, hat der auf fünf Jahre durch die Bundesversammlung gewählte Präsident der Bonner bzw. Berliner Republik eher repräsentative Aufgaben und nur wenige echte Gestaltungsmöglichkeiten, zum Beispiel die Möglichkeit zur Auflösung des Bundestages nach einer gescheiterten Vertrauensfrage.

Aber den Wechsel vom gemischten zum rein parlamentarischen Regierungssystem als Lehre aus Weimar zu bezeichnen, greift zu kurz. Denn Hoheits- und Gestaltungsrechte bzw. -pflichten bleiben erhalten und müssen durchgesetzt werden. So ist es heute: Der Bundeskanzler der Bundesrepublik verfügt im Rahmen seiner Kabinettsbildung und Richtlinienkompetenz neben dem Parlament über jene Macht, welche in Weimar noch der Reichspräsident innehatte.

Auch wenn sich die Verfassung des Deutschen Reiches und das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in der Ausgestaltung ihres Regierungssystems unterscheiden, muss man mit Friedrich Karl Fromme dennoch zu dem Fazit kommen, dass das 1949 konzipierte Grundgesetz eine modifizierte Neubelebung der Weimarer Reichsverfassung darstellte. Die Weimarer war für die Bonner Verfassung kein Kontrastprogramm - sie war in manchem Vorbild, in manchem Mahnung, immer aber Ansporn zur Verbesserung.