Sehr geehrte Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 72. Sitzung des Landtages von SachsenAnhalt der siebenten Wahlperiode und begrüße Sie alle auf das Herzlichste.
Sehr geehrte Damen und Herren! Wir setzen nunmehr die 34. Sitzungsperiode fort und beginnen die heutige Beratung mit dem Tagesordnungspunkt 4: „70 Jahre Grundgesetz - 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung - 100 Jahre Verfassung von Anhalt“.
Ich erinnere daran, dass sich für heute Herr Minister Schröder ganztägig entschuldigt hat und, soweit ich es von gestern noch in Erinnerung habe, gegen Abend Frau Ministerin Keding.
(Ministerin Anne-Marie Keding: Nein, das war gestern! Ich bin da! - Minister Marco Tullner: Frau Keding bleibt!)
Wie ich das Haus bereits in der Drs. 7/4350 unterrichtet habe, hat sich der Ältestenrat zweimal mit der Frage befasst, das Format der Vereinbarten Debatte in Anlehnung an das Verfahren im Deutschen Bundestag einzuführen. In entsprechender Anwendung von § 46 der Geschäftsordnung des Landtages zur Aktuellen Debatte soll dieses Format nach einer interfraktionellen Verständigung heute aus Anlass des dreifachen Verfassungsjubiläums „70 Jahre Grundgesetz - 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung - 100 Jahre Verfassung von Anhalt“ erstmals genutzt werden.
Heute, auf den Tag genau vor 70 Jahren, also am 23. Mai 1949, ist das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verkündet worden. Einen Tag danach trat dieses Gesetz auch in Kraft.
Dass wir heute das dreifache Verfassungsjubiläum - 70 Jahre Grundgesetz, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung und 100 Jahre Verfassung von Anhalt - zum Anlass nehmen, mit der Vereinbarten Debatte ein neues Format zu erproben, freut mich sehr.
Der Parlamentarische Rat hatte einen Auftrag der Besatzungsmächte. Mit dem Grundgesetz sollten vor allem Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik und aus dem Zivilisationsbruch der nationalsozialistischen Diktatur gezogen werden.
Bewusst genau vier Jahre nach Kriegsende, am 8. Mai 1949, kurz nach Mitternacht, ist das Grundgesetz mit 53 gegen zwölf Stimmen durch den Parlamentarischen Rat beschlossen worden.
Es wird immer von den Vätern des Grundgesetzes gesprochen, aber unter den Mitgliedern waren auch vier Frauen. Sie sind somit zu Müttern des Grundgesetzes geworden. Es waren dabei: Friederike Nadig, SPD, Elisabeth Selbert, SPD, Helene Weber, CDU, und Helene Wessel, CDU.
Zahlreiche Mitglieder sind in der NS-Zeit verfolgt worden, hatten Berufsverbote oder Inhaftierung zu erleiden. Einige waren in das Ausland geflohen. Fünf wurden im KZ ihrer Freiheit beraubt. Andere blickten auf Karrieren während der NS-Diktatur zurück.
Drei Mitglieder hatten bereits an der Weimarer Reichsverfassung mitgearbeitet und mit dem langjährigen Reichstagspräsidenten Paul Löbe, SPD, wirkte ein sehr erfahrener Parlamentarier an den Arbeiten mit.
Sehr geehrte Abgeordnete! Für mich ist das Grundgesetz ein Leuchtturm der geschichts- und verantwortungsbewussten Freiheit. Die starken Freiheits- und Grundrechte mit der Menschenwürdigkeitsgarantie an der Spitze begrenzen die Freiheit der einen durch die Freiheit der anderen. Sie zwingen den Staat, wirksam zu handeln. Und: Die Freiheits- und Grundrechte des Grundgesetzes sind zu so etwas wie der Lebensordnung unserer Gesellschaft geworden. Warum? - Weil die Menschen das in großer Mehrheit so wollen.
Dies ist auch ein Verdienst der Gestaltungs- und Kompromissfähigkeit aller deutschen Parlamente mit dem Bundestag an der Spitze. Wir verdanken das dem Bundesverfassungsgericht als anerkanntem Hüter des Grundgesetzes.
Diese freiheits- und grundrechtsbasierende Lebensordnung entfaltete auch auf die Bürgerinnen und Bürger der DDR 1989/90 eine enorme Anziehungskraft.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen Abgeordnete! Wir sind in guter Verfassung. Ob es so bleibt, liegt nicht vorrangig an den Buchstaben des Grundgesetzes, sondern vor allem in den Händen von uns Menschen, die unter diesem rechtlichen Dach leben.
Heribert Prantl hat seine Gedanken in der „Dresdner Rede“ 2014 sehr schön auf den Punkt gebracht, als er sagte - ich zitiere -:
„Die Verfassung muss […] dafür sorgen, dass Deutschland Heimat bleibt und Europa Heimat wird für Menschen, die darin wohnen. Heimat ist ein Land dann, wenn die Menschen Rechte haben und sich auf diese Rechte verlassen können. Heimat ist Sicherheit. Grundrechte geben Sicherheit. Wir brauchen Grundrechte, die so stark sind, dass sie die Menschen stark machen und zu dem, was sie sein sollen und wollen: Bürgerinnen und Bürger.“
Als Erster wird für die CDU-Fraktion der Abgeordnete und Fraktionsvorsitzende Herr Borgwardt sprechen. Bitte, Herr Abgeordneter.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sie gingen bereits auf den 23. Mai, also den heutigen Tag vor 70 Jahren, ein.
Es ist die erste erfolgreiche demokratische Verfassung der Deutschen. Die Paulskirchen-Verfassung von 1849 war der erste Versuch einer Verfassung, trat jedoch nie in Kraft. Die Verfassung der Weimarer Republik von 1919 wurde zwar verabschiedet, scheiterte aber, wie die meisten wissen, 1933.
Sachlich verkündete Konrad Adenauer auf der 12. und letzten Sitzung des Parlamentarischen Rates am 23. Mai 1949, also vor 70 Jahren, in Bonn das Inkrafttreten. Die Nüchternheit des Vorgangs entsprach dem Desinteresse einer Vielzahl der Deutschen. Sie waren auch vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit dem Wiederaufbau beschäftigt.
Wer sich überhaupt interessierte, der mochte fragen, ob das vorwiegend von Emigranten oder Verfolgten des Naziregimes zusammengesetzte Plenum in Bonn in seinen Grundüberzeugungen dem Durchschnitt der damaligen Bevölkerung entsprach.
Die Mütter und Väter des Grundgesetzes schöpften aus der historischen Erfahrung: einerseits aus der Tradition der Paulskirche von 1849, andererseits aus den Beratungen in Weimar von 1919. Vor allem aus den Letztgenannten wurden starke Lehren gezogen, insbesondere auch aus dem Scheitern der Weimarer Republik und dem Terror des Naziregimes der Jahre 1933 bis 1945.
Daraus ergab sich, dass der Katalog der 19 Grundrechte unmittelbar an erster Stelle des Grundgesetzes steht, also nicht wie in Weimar eine bloße Absichtserklärung, sondern unmittelbar geltendes und einklagbares Recht.
Gleichzeitig wurden die Würde des Menschen und ihre Unantastbarkeit als höchster Rechtswert des Grundgesetzes in Artikel 1 festgehalten. Das macht auch Sinn; denn wer, wenn nicht die Verfasser des Grundgesetzes, die die Gräueltaten des Dritten Reiches erlebt hatten, konnten es in eindrücklicher Weise formulieren. Der Grundrechteteil ist daher der prägendste und gleichsam wichtigste Teil unseres Grundgesetzes.
Ohne das Bundesverfassungsgericht jedoch stünde all dies auf schwachen Füßen; die Frau Präsidentin ging auch darauf ein. Als Auslegungs- und Durchsetzungsinstanz der Verfassung ist es vom Grundgesetz vorgesehen. Die Karlsruher Entscheidungen zu Parteienverboten, zu Notstandsgesetzen, zur Meinungsfreiheit oder zur Volkszählung begleiten und prägen die Geschichte unserer Republik bis heute.
Aber auch Kritik am Grundgesetz verstummt bis heute nicht; denn die dort festgelegte demokratische Ordnung verlangt eben die Mitarbeit der Bürgerinnen und Bürger. Angesichts der Erfahrungen in der Weimarer Republik hatte das Grundgesetz alle direkten Formen der Demokratie zugunsten der repräsentativen, durch Parteien vermittelten, ersetzt. Für den Staatsrechtler und führenden Verfassungsrichter Dieter Grimm hängt das Gelingen der Demokratie davon ab - ich zitiere -,
„ob die politischen Akteure gewillt sind, die Verfassung einzuhalten, und ob das Publikum gegen Verfassungsverstöße aufbegehrt“.
Demokratie muss jeden Tag aufs Neue gefestigt und verteidigt werden. Weil unsere Demokratie sonst nicht anders zu funktionieren scheint und
als quasi unerschütterlich gilt, drängt sich der Eindruck auf, dass sich der Schleier der Lethargie über unser Land legt. Am deutlichsten wird das bei der Wahlbeteiligung oder bei der Frage nach vermeintlichem Vertrauen in die Politiker oder auch in die Medien. Warten wir ab, wie die Wahlbeteiligung an diesem kommenden Sonntag aussehen wird und wie sich die Bürger verhalten werden.
Wir als Politiker, meine Damen und Herren, die Mitglieder von Parteien, wirken an der politischen Willensbildung der Bevölkerung mit. Dass wir unsere Aufgaben hier in diesem Parlament wahrnehmen können, steht und fällt mit der öffentlichen Wahrnehmung unserer Arbeit. Wir Politiker müssen erklären, was wir hier drin genau machen. Wir müssen Ziele haben, für die wir einstehen und kämpfen. Es ist aber auch unsere Pflicht, zu erklären, warum wir erstens überhaupt und zweitens genau so und nicht anders entschieden haben. Das bleibt häufig auf der Strecke und führt zu großem Unbehagen in der Bevölkerung.
Wir in der westlichen Welt haben die parlamentarische Demokratie heute als die bisher beste Form der Volksvertretung erkannt. Der augenscheinliche Nachteil daran ist, dass Entscheidungen oft sehr viel Zeit verschlingen, weil Mehrheiten gefunden und Kompromisse ausgehandelt werden müssen. Die Geschichte aber hat uns gelehrt, dass momentan keine andere, vermeintlich bessere Form der Entscheidungsfindung existiert. Folglich gibt es auch keine vernünftige Alternative zu der bestehenden Staatsform Demokratie.
Gleichsam bietet unser Grundgesetz all jenen Schutz, die sich im Parlament nicht vertreten fühlen; denn ein jeder kann sich auf seine Grundrechte berufen und diese, wenn nötig, auch einklagen. Gerade in der wiederaufflammenden Debatte um Eigentum und Besitz erachte ich das Grundgesetz als einen wichtigen Bestandteil und Garanten dafür, der genau dieses schützt.
Ein jeder von uns, der die DDR erlebt hat, wird Menschen kennen, die ihres Grundes, Besitzes oder Eigentums beraubt wurden. So etwas darf nicht noch einmal passieren. Auch davor schützt uns dieses Grundgesetz, meine sehr verehrten Damen und Herren.