Protocol of the Session on July 7, 2011

Wir wünschen uns einen Demokratieaufbau von unten. Wir glauben, dass es mit Gesinnungserlassen nicht getan ist und dass wir damit nicht dazu kommen, dass der Kampf um die Köpfe vor allem auch der jungen Menschen von uns Demokraten gewonnen werden kann.

Ich möchte mit einem Beispiel schließen, das mich sehr erschüttert hat. Wie viele von Ihnen war ich auch auf dem Sachsen-Anhalt-Tag und stand dort am Stand unserer Fraktion, den ich mit betreut habe. Ich habe mich dann zu einem gegenüberliegenden Stand der Kriegsgräberfürsorge begeben. Neben mir läuft ein junger Mann vorbei, hebt den rechten Arm zum Hitler-Gruß und ruft: Hier marschiert der nationale Widerstand. Das geschah vor dem Zelt des Landtages auf der Meile der Demokratie während des Sachsen-Anhalt-Tages. So etwas passiert vor den Augen von uns Demokraten tagtäglich in Sachsen-Anhalt. Diese Problematik, meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, werden wir mit einem Radikalenerlass sicherlich nicht beseitigen können. - Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und bei der LIN- KEN)

Zum Schluss der Debatte hat sich noch die Vorsitzende der SPD-Fraktion zu Wort gemeldet. Frau Budde, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Entscheidend dafür, dass ich mich zu Wort gemeldet habe, war Ihr Schlusssatz, Frau Tiedge, aber auch vieles davor. Es kommt schon zumindest für mich persönlich ein wenig darauf an, wer was sagt. Ich will am Anfang meines Beitrags auch ganz klar und deutlich sagen, dass ich gegen jede Form eines Radikalenerlasses bin. Die Sozialdemokratie ist es auch. Ich sage dies nur, um diesbezüglich keine Missverständnisse aufkommen zu lassen.

Der Radikalenerlass in der alten Bundesrepublik hat in der Tat Blüten getrieben, die unakzeptabel waren und zu persönlichem Leid geführt haben. Es gab Berufsverbote, die zu verurteilen sind.

Der Versuch - auch der SPD -, die Bedrohung in dieser Drucksituation - es gab zwar nicht jeden Tag, aber sehr oft terroristische Anschläge - zu bekämpfen, ist gescheitert. Einen derartigen Versuch darf es nicht wieder geben.

Es gab zu dieser Zeit aber auch eine andere Seite der Medaille. Ich bin Jahrgang 1965. Als ich in die Pubertät kam, bekam man als Bückware durchaus einmal das Buch von Heinrich Böll „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. Ich habe das Buch damals aufgesogen und auch sehr viele andere Bücher gelesen.

Heute überlege ich natürlich, warum es diese Bücher überhaupt gab, wenn auch nur als Bückware. Hätte es zur gleichen Zeit auch ein Buch als Bückware geben können, das die Zustände in der DDR beschrieben hätte? - Ich glaube nicht. Wer das aufgeschrieben hätte, der wäre gleich woandershin gegangen.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Es gab auf beiden Seiten der Mauer das Befördern von Duckmäusertum und den Versuch, Zivilcourage einzudämmen. Ein solcher Versuch war zum Beispiel: Fräulein Hoffmann - so hieß ich vor meiner Hochzeit -, Sie gehören doch zu denjenigen, die in der Klasse die falsche Meinung zum Sozialismus vertreten. Ein anderer war: Fräulein Hoffmann, nehmen Sie das Kreuz doch bitte unter den Pullover; religiöse Symbole wollen wir in der Schule nicht haben. - Auch das gehört eben dazu.

Es war auch die Zeit, in der RAF-Terroristen in der DDR aufgenommen wurden und FDGB-Ferienplätze vergeben durften, in der in der DDR Symbole wie „Schwerter zu Pflugscharen“ verboten wurden, in der man den Parka nicht tragen durfte, weil er ein Symbol des Kapitalismus war, oder eben die schwarz-rot-goldene Flagge abtrennen musste. Das gehört eben auch dazu.

Es war, glaube ich, auf beiden Seiten eine sehr, sehr schwierige Zeit. Es war eine Zeit, in der auch

auf dieser Seite der Mauer Gesinnungsschnüffelei perfektioniert wurde.

(Frau Bull, DIE LINKE: Natürlich! Das hat sie doch gesagt! Das haben wir doch vorhin er- zählt!)

- Ja, aber ein Satz, der Abschlusssatz „Sie sollten etwas daraus lernen.“, hat mich dazu gebracht, zu fragen: Wer ist „Sie“? Sie nicht? Wenn, dann hätte es heißen müssen: Wir sollten etwas daraus lernen - nicht „Sie“. Und dann noch in diese Richtung zu schauen … Manch ausgestreckter Zeigefinger ist schon bedenklich.

Freundlich formuliert würde ich sagen: Ich habe das als sehr eindimensional empfunden. Unfreundlich formuliert würde ich sagen: Persönlich habe ich es als Unverschämtheit empfunden. Ich sage es einmal so deutlich.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Enden möchte ich in der Tat mit Willy Brandt: Es war einer der schwersten Fehler, diese Fassung des Radikalenerlasses bzw. überhaupt einen Radikalenerlass in der Bundesrepublik Deutschland, auf der anderen Seite, auszuprobieren. Aber auch dann darf es nicht „Sie“, sondern es muss „wir“ heißen. Ich musste das einfach loswerden. Sorry.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der CDU)

Als Nächster hat sich der Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE Herr Gallert zu Wort gemeldet.

Werter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich halte es eigentlich gar nicht für so falsch, dass wir es bei den beiden Themen der Aktuellen Debatte mit einer hohen Emotionalität zu tun haben. Denn beide Themen haben unwahrscheinlich viel mit der deutschen Geschichte zu tun, aber nicht nur abstrakt, sondern tatsächlich auch mit individueller Verantwortung oder auch mit institutioneller Verantwortung, die übrigens unabhängig davon existiert, ob man sie als solche anerkennt oder nicht. Die Wahrheit holt einen immer wieder ein. Deswegen möchte ich auf Sie, Frau Budde, wie folgt reagieren.

Ja, wir haben - das habe ich heute dezidiert gesagt - als Partei und auch als Individuen, wenngleich in unterschiedlichem Maße, erhebliche Verantwortung zu tragen. Wir haben nicht vor, uns aus dem Wege zu stehlen. Wir wollen uns der Verantwortung für das stellen, was in der DDR an Diktatur, an Meinungsunterdrückung, an Gesinnungsschnüffelei existiert hat.

Der Punkt ist aber, dass wir es in diesem geeinten Deutschland inzwischen mit einer gemeinsamen

Geschichte zu tun haben. Diese gemeinsame Geschichte ist eben nicht nur die Geschichte Ostdeutschlands bzw. der DDR, sondern sie ist auch die Geschichte Westdeutschlands.

Ich teile ausdrücklich Ihre Position, die Sie eben dargestellt haben, dass es Mechanismen des politischen Machterhalts gegeben hat, die zur Denunziation, zur Meinungsmanipulation, zur Unterdrückung über die Grenzen des Systems hinaus geführt haben. Frau Tiedge hat übrigens sehr deutlich gesagt, in welch unterschiedlichem Maße das passiert ist.

Wir können jedoch auf eines nicht eingehen. Wir können nicht sagen: Weil ihr für die ostdeutsche Geschichte verantwortlich seid - in den Debatten sind es, wie wir heute von Herrn Schröder gehört haben, immer nur wir, niemand anders -, habt ihr über die Geschichte Westdeutschlands nicht zu urteilen.

(Zustimmung bei der LINKEN - Zuruf von Herrn Schröder, CDU)

Das geht nicht. Inzwischen ist auch die Geschichte Westdeutschlands unsere Geschichte, und auch wir werden uns das Recht herausnehmen, sie kritisch zu beurteilen, und zwar nach ähnlichen oder den gleichen Maßstäben, mit denen wir heute unsere eigene Geschichte kritisch reflektieren müssen. Das ist der Grund.

Ich stimme Ihnen ausdrücklich darin zu, dass die Anwendung moralischer Grundprinzipien von Freiheit und Demokratie unser gemeinsames Anliegen sein muss. Ich spreche auch meine Partei nicht davon frei, in Drucksituationen für taktische Argumentationen offen zu sein.

Der Radikalenerlass in Mecklenburg-Vorpommern ist nicht zu Regierungszeiten der LINKEN veranlasst worden - ich nenne ihn „Radikalenerlass in Mecklenburg-Vorpommern“; wir wissen, dass das so nicht stimmen würde -, aber ich weiß auch, dass meine Partei in Mecklenburg-Vorpommern angesichts der Erfolge der NPD manchmal Argumentationen geführt hat, die bei uns in SachsenAnhalt auf ablehnende Reaktionen getroffen sind. Insofern sage ich: Ja, es ist unsere gemeinsame Verantwortung.

Aber die konkrete Idee des Radikalenerlasses, um die es heute hier ging, kam nicht von uns, sondern vom Innenminister der Koalition in einem öffentlichen Interview. Auch das gehört zur Wahrheit. Darauf, nur darauf bezog sich der letzte Satz. - Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Minister des Innern hat noch einmal um das Wort gebeten. Bitte.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte es kurz machen. Herr Herbst, ich möchte auf Sie namens der Landesregierung kurz erwidern.

Wir betreiben mit dem NPD-Verbotsverfahren keine Politik der Symbolik. Sie werden später nachlesen können, dass ich das in meiner Rede so nicht gesagt habe. Uns geht es darum, Symbolik künftig zu vermeiden. Denn nichts ist schlimmer, als wenn wir ständig gemeinsam verabreden - Frau Tiedge, darin stimme ich Ihnen und Ihrer Partei zu -, wir wollen diese Partei verbieten, aber wir bekommen es aus irgendwelchen Gründen nicht hin. Denn selbst wenn wir dies in SachsenAnhalt tun wollten, liebe Frau Tiedge, brauchten wir dafür die Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat. Wir sind ein relativ kleines Land, auch das muss man sich um der Wahrheit willen eingestehen.

Insofern möchten wir am Ende der Prüfung ein Ergebnis haben. Wenn das Ergebnis darin bestünde, dass das, was wir vielleicht wollen, Sie aber nicht wollen, tatsächlich nicht umsetzbar ist, dann ist das auch ein Ergebnis, das eine strategische Ausrichtung hat. Dann kann man das Fordern eines NPD-Verbots nicht mehr als reflexartige Symbolik verwenden. Nichts anderes habe ich vorhin gesagt. Die Mitarbeiter meines Ministeriums werden nicht für Symbolik beschäftigt.

Ich bin Ihnen jedoch dankbar dafür, dass Sie mir die Gelegenheit gegeben haben, darauf zu erwidern. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister. - Da es keinen weiteren Gesprächsbedarf gibt, können wir dieses Thema der Aktuellen Debatte abschließen. Beschlüsse in der Sache werden gemäß § 46 der Geschäftsordnung des Landtages nicht gefasst.

Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, können wir die Gruppe der Landessieger des Wettbewerbs „Jugend forscht“ im Landtag begrüßen. Herzlich willkommen hier im Haus!

(Beifall im ganzen Hause)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 2 auf:

Beratung

Kleine Anfragen für die Fragestunde zur 4. Sitzungsperiode des Landtages von Sachsen-Anhalt

Fragestunde mehrere Abgeordnete - Drs. 6/171

Ich erlaube mir den Hinweis, dass wir zeitlich bereits etwas in Verzug geraten sind. Wir fahren deshalb zügig fort.

Gemäß § 45 der Geschäftsordnung findet auf Antrag monatlich eine Fragestunde statt. Es liegen Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, fünf Kleine Anfragen vor.

Die Frage 1 zu dem Thema „Sachsen-Anhalt auf dem Weg zum familienfreundlichsten Bundesland“ wird von der Abgeordneten Frau Monika Hohmann gestellt.

Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff hat in den zurückliegenden Tagen mehrfach der Presse gegenüber geäußert, Sachsen-Anhalt zum familienfreundlichsten Land Deutschlands entwickeln zu wollen.

Ich frage die Landesregierung: