Protocol of the Session on January 30, 2014

Abwegig und unverantwortlich ist allerdings die Forderung nach einer Beschränkung der Freizügigkeit. Diese wäre nicht nur europa- und wirtschaftspolitisch rückschrittlich, sondern sie würde auch die Situation für einzelne Kommunen nicht verbessern - ganz im Gegenteil. Beschränkungen für rumänische Migrantinnen und Migranten auf dem Arbeitsmarkt oder bei Sozialsystemen haben kaum Auswirkung auf die Wahl eines Ziellandes und führen eher zu einer Ausweitung informeller Beschäftigung als zu weniger Migration.

Wie so oft, wenn in Deutschland vom „Missbrauch sozialer Leistungen“, von „Armutszuwanderung“ und von „Sozialtourismus“ geredet wird, sprechen die Fakten eine andere Sprache. Minister Bischoff ging eben schon darauf ein, dass rumänische und bulgarische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in

Deutschland zu den vergleichsweise hoch qualifizierten und gut integrierten Zuwanderergruppen gehören. Ein Missbrauch ist bislang vor allem an einer Stelle nachweisbar, nämlich dort, wo einige Kräfte in der Bundesrepublik die Probleme der Kommunen und der Migrantinnen und Migranten für kurzfristigen politischen Geländegewinn nutzen. Das sollten wir aufs Schärfste verurteilen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir plädieren für eine Überweisung des Antrags der GRÜNEN in den Ausschuss.

Wer in der letzten Woche die Reportage gesehen hat, in der zu sehen war, dass die ärztlichen Direktoren in Kliniken in Bulgarien mittlerweile über Ärztemangel klagen, weil die Ärzte auswandern, der weiß, dass das das eigentliche Problem ist, das wir in Europa lösen müssen. - Vielen Dank.

(Zuruf von Herrn Bommersbach, CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Czeke. - Für die Fraktion der SPD spricht jetzt Herr Wanzek. Bitte schön, Herr Kollege Wanzek, Sie haben das Wort. Der Weg zum Pult ist hier etwas länger.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als Anfang des Jahres die Berichterstattung über die Erweiterung der uneingeschränkten Freizügigkeit auf Bulgarien und Rumänien begann, habe ich mir schon denken können, dass die Fraktion der GRÜNEN nicht darauf verzichten wird, dieses Thema auch hier im Landtag zu thematisieren.

(Herr Gallert, DIE LINKE: Hätte die SPD doch auch machen können!)

- Hören Sie erst einmal zu! - Aber ich hatte gedacht, dass es dann vielleicht ein Antrag ist, der etwas tiefer geht als der, den wir vor uns liegen haben.

Wir können gern Selbstverständlichkeiten beschließen, wie zum Beispiel den kompletten ersten Absatz, den die Koalitionsfraktionen nur geringfügig geändert haben. Auch dass wir dem Fachkräftemangel und der demografischen Entwicklung in unserem Land unter anderem durch den Zuzug von ausländischen Arbeiterinnen und Arbeitern begegnen wollen und müssen, ist in diesem Haus schon oft erwähnt worden und ist eigentlich Konsens.

Das europäische Grundrecht der Freizügigkeit hilft uns dabei. Diese Freizügigkeit, welche schon im Jahr 1957 vertraglich beschlossen worden ist, ist eine der großen Errungenschaften der Europäischen Union. Auch dieser Feststellung wird nie

mand widersprechen und hat hier auch bisher niemand widersprochen.

Es ist auch wichtig, dass das Gesetz über die Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen bald dem Landtag zur endgültigen Abstimmung vorliegen wird, damit Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die zuwandern, endlich ihre Berufsabschlüsse anerkennen lassen können, um hier arbeiten zu können. Ich bitte alle zuständigen Ausschüsse, diesen Gesetzentwurf schnellstmöglich zu behandeln.

Des Weiteren ist nicht neu, dass wir in SachsenAnhalt mehr Anreize für die Zuwanderung setzen müssen. Erst im Dezember 2013 - das wurde schon erwähnt - wurde im Landtag über die Willkommenskultur diskutiert.

Lassen Sie mich kurz darlegen, welche integrationspolitischen Maßnahmen für die SPD-Fraktion wichtig sind.

Erstens. Wenn wir eine Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte wollen, brauchen wir auch eine aktive Werbung für unser Land vor Ort, also in den EU-Herkunftsländern. Maßnahmen wie die Blue Card müssen stärker zum Zuge kommen. Auf der Bundesebene muss geregelt werden, dass Zuwanderung auch durch eine erleichterte Erteilung von Visa für Fachkräfte und ihre Familien erreicht wird.

Zweitens. Da der erste Anlaufpunkt für Einwanderinnen und Einwanderer unsere Behörden sind, ist vor allem in diesen eine Willkommenskultur zu etablieren. Dort müssen die interkulturelle Kompetenz und die Fremdsprachenkompetenz gefördert werden. Doch eine solche Willkommenskultur muss, wie wir schon im Dezember 2013 festgestellt haben, auch in unserer gesamten Gesellschaft, in den Kitas, in den Vereinen, in den Schulen etc. etabliert werden. Nur wer sich im Ankunftsland aufgenommen, erwünscht und willkommen fühlt, wird auch hier bleiben.

Drittens. Berufsanerkennungsverfahren sollten schnell und bezahlbar sein. Viel zu viele hochqualifizierte Zugewanderte sind wegen der Nichtanerkennung ihrer Berufsabschlüsse unterqualifiziert beschäftigt.

Viertens. Arbeitsplätze allein sind kein Zuwanderungsgrund; es bedarf auch der gesellschaftlichen Teilhabe. Wir brauchen also bessere Zugänge zum Spracherwerb, zur Bildung, zur Kultur und zur beruflichen Qualifizierung. Dies gilt für die SPD auch für Flüchtlinge, deren Bleibestatus noch nicht geklärt ist.

Damit dieser Antrag auch Sinn macht, sollte die Landesregierung in den Ausschüssen über ihr Vorgehen berichten. Dann können wir Rückschlüsse ziehen und konkrete Schritte erarbeiten.

Obwohl ich es eigentlich für unnötig erachte, durch diesen Antrag eine in der Bundespresse - zugegeben befördert durch eine sinnlose CSU-Kampagne - vor allem von Hinterbänklern auf Stammtischniveau geführte Debatte zum Gegenstand einer Diskussion zu machen, möchte ich doch einige Worte zur Freizügigkeit sagen.

Jeder EU-Bürger hat aufgrund der EU-Verträge das Recht auf Freizügigkeit, also auch wir. Und das nutzen auch viele Bundesbürger, die in anderen EU-Staaten arbeiten. Ich persönlich finde, dass die Option, diese Freizügigkeit erst sieben Jahre nach dem Eintritt in die EU zu ermöglichen, gegen den Geist unseres Grundgesetzes, insbesondere gegen Artikel 3, verstößt. Aber die Bundesrepublik hat sich im Jahr 2007 im Fall von Bulgarien und Rumänien dafür entschieden. Nun haben diese Staaten auch endlich die uneingeschränkte Freizügigkeit.

Das bedeutet aber nicht, dass wir jetzt von Bürgerinnen und Bürgern aus diesen Ländern überrannt werden, die von unseren Sozialsystemen profitieren wollen. Nein, wir haben heute schon öfter gehört, dass der überwiegende Teil der rund 2 900 Bulgaren und Rumänen in Sachsen-Anhalt eine Beschäftigung hat. Allen Populisten und Angstmachern kann man entgegenhalten: Es gibt klare Regelungen für aus der EU stammende Arbeitsuchende. Ob man diese Regelungen nun gut findet, darüber lässt sich diskutieren. Der Europäische Gerichtshof überprüft einige Regelungen gerade.

In den meisten Mitgliedstaaten tragen mobile EUBürger als Nettozahler zum Sozialsystem des aufnehmenden Mitgliedstaates bei. Sie zahlen mehr an Steuern und Sozialbeiträgen, als sie im Gegenzug an Leistungen erhalten. Auch bei den Kosten für öffentliche Dienstleistungen, die sie im Aufnahmestaat in Anspruch nehmen, sind sie eher Nettozahler. Die Angst vor dem Sturm auf unsere Sozialsysteme entbehrt also jeglicher Grundlage. Der Zugang zu den Sozialsystemen ist durch EURecht geregelt. - Ich bitte um Zustimmung zu dem Änderungsantrag.

(Zustimmung bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Kollege Wanzek. Der Kollege Czeke möchte Ihnen eine Frage stellen.

Sie möchten sie nicht beantworten; dann stellt er sie auch nicht. - Jetzt hat Herr Kollege Striegel für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN das Wort. Bitte schön, Herr Kollege.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Herrn Minister Bischoff sehr dankbar dafür, dass er insbesondere das Thema Bedingungen in den Heimatländern der Betroffenen angesprochen hat; denn dieses Thema ist in der Tat wichtig. Es kann nicht sein, dass wir einerseits sagen - ich halte das für legitim -, wir profitieren von Zuwanderern, wir wollen von Zuwanderung profitieren, andererseits aber die Augen vor prekären Bedingungen in den Heimatländern der Zuwanderer verschließen.

(Zustimmung bei den GRÜNEN und bei der LINKEN)

Daran müssen wir per se etwas ändern. Das ist aus meiner Sicht auch eine Frage der innereuropäischen Gerechtigkeit, wenn wir dabei nur auf die EU schauen. In diesem Zusammenhang müssen wir aber auch Folgendes beachten: Je attraktiver wir dieses Land für Zuwanderer machen - dafür gibt es viele gute Gründe -, desto mehr verschärfen wir den Fachkräftemangel in Rumänien, Bulgarien etc. pp. und desto stärker ziehen wir dort Eliten ab. Das tun wir weltweit und das ist hochproblematisch.

Herr Kollege Rotter, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie - anders als die Kolleginnen und Kollegen von der CSU und der CDU auf der Bundesebene - zu Beginn der Debatte noch einmal deutlich gemacht haben, dass solch ein Spruch wie „Wer betrügt, der fliegt“ nicht akzeptabel ist, in die völlig falsche Richtung geht und das völlig falsche Signal aussendet. Dass wir das als Gemeinsamkeit im Hause festhalten können, halte ich für einen ganz wichtigen Punkt.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN und bei der CDU)

Herr Kollege Wanzek, das mit den Selbstverständlichkeiten ist so eine Sache. Es ist selbstverständlich - darauf haben sich alle Fraktionen im Hause offenbar geeinigt -, dass Zuwanderung nach Sachsen-Anhalt benötigt wird. Es gelingt uns allerdings nicht, dieses politische Wollen in konkretes Handeln zu übersetzen. Denn wenn 85 % der nach Sachsen-Anhalt Zugewanderten - das sind schon sehr wenige im Vergleich zu anderen Bundesländern - nach fünf Jahren wieder weg sind, dann müssen wir uns doch fragen: Was machen wir mit unserer Zuwanderungs-, was machen wir mit unserer Integrationspolitik falsch, wo gelingt es uns noch nicht?

Mein Verdacht ist, dass das bisweilen mit den Bedingungen zu tun hat, die in der Aufnahmegesellschaft, in der Mehrheitsgesellschaft herrschen. Ich habe häufig das Gefühl, die Zuwanderer und Zuwanderinnen sind bereit zur Integration, aber die Mehrheitsgesellschaft hadert da noch mit sich. Da

haben wir eine große Aufgabe und der sollten wir uns auch annehmen.

(Zustimmung von Frau Prof. Dr. Dalbert, GRÜNE)

Lassen Sie mich noch einige wenige Sätze zu Ihrem Änderungsantrag sagen. Mit dem Blick auf die Selbstverständlichkeit bin ich bei Ihnen, da könnte man fast zustimmen. Aber manchmal ist auch das Herauslassen von Dingen bezeichnend. Sie lassen in Ihrem Änderungsantrag das Thema Sozialleistungen heraus. Das fällt bei Ihnen hinten herunter. Ich sage sehr deutlich: Wer europäische Freizügigkeit will, der darf bei den Sozialleistungen nicht Halt machen. Diese gehören selbstverständlich dazu; denn wir müssen Gleichheit auch an dieser Stelle schaffen. Es wäre nicht gerecht, Zuwanderinnen und Zuwanderer von solchen Sozialleistungen auszunehmen. Deshalb ist es uns wichtig, dass das Thema in dem Antrag stehen bleibt.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Der nächste Punkt betrifft eine Wortänderung, die Sie durchgeführt haben. Sie reden nur von „qualifizierter Zuwanderung“, wir reden von „verstärkter Zuwanderung“. Selbstverständlich muss SachsenAnhalt, selbstverständlich muss die Bundesrepublik Deutschland auch schauen, wie sie die Zuwanderung steuert. Es wird nicht funktionieren, wenn man einfach nur sagt „Tür auf, jeder kommt herein“, und wir nehmen überhaupt keine Rücksicht mehr darauf, welche Aufnahmekapazität in einem Land tatsächlich vorhanden ist.

Aber in dem Moment, in dem Sie „qualifiziert“ in Ihren Antrag schreiben, stellen Sie das ganze Thema ausschließlich unter Nützlichkeitserwägungen.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Das, finde ich, ist nicht in Ordnung. Ich habe vorhin etwas dazu gesagt, dass Menschen aus sehr unterschiedlichen und sehr verständlichen Motiven heraus fliehen. Wir sollten uns als Land nicht anmaßen, Zuwanderung nur unter Nützlichkeitsgesichtspunkten anzuschauen. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN - Zustimmung bei der LINKEN)

Vielen Dank, Herr Kollege Striegel. - Damit ist die Debatte zu diesem Tagesordnungspunkt beendet. Wir kommen zum Abstimmungsverfahren. Herr Kollege Czeke, wenn ich Sie richtig verstanden habe, haben Sie beantragt, den Änderungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in den Ausschuss zu überweisen.

(Herr Dr. Thiel, DIE LINKE: Beide Anträge!)

- Beide Anträge haben Sie gemeint. Das ist also auch der Änderungsantrag der Fraktion DIE LINKE.

Dann stimmen wir jetzt darüber ab. Wer ist dafür, dass beide Anträge in den Ausschuss überwiesen werden? - Das sind die Fraktion DIE LINKE und die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Wer ist dagegen? - Das sind die Koalitionsfraktionen. Damit ist der Überweisungsantrag abgelehnt worden.

Wir kommen dann zur Abstimmung über den Änderungsantrag in der Drs. 6/2732. Wer stimmt dem Änderungsantrag der Fraktionen der CDU und der SPD zu? - Das sind die beiden Antragstellerinnen. Wer stimmt dagegen? - Das sind die Fraktionen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Damit hat der Änderungsantrag eine Mehrheit gefunden.