Man muss – das hat die Kollegin Franziska Schubert zu Recht erwähnt – freilich nicht evangelisch sein, um Gutes zu tun. Doch ob konfessionell gebunden oder nicht, wir sind alle ein bisschen Luther: in der Sprache nämlich, die wir verwenden. Denn Martin Luther hat durch seinen Anspruch der Volksnähe unseren Wortschatz geprägt. Wir verdanken ihm Wendungen wie „Perlen vor die Säue“, das bekannte „Buch mit sieben Siegeln“ oder geläufige Begriffe wie den „Lückenbüßer“ oder das „Machtwort“.
Ich staune, Herr Jalaß, dass Sie Ihre Fraktion so weit entfernt von Luther sehen; denn schließlich können sich Marxisten problemlos mit Luther identifizieren – sah Marx sich doch selbst als neuen Luther und konnte dessen frühe Kritik an Banken und Handelsgesellschaften sehr gut nachvollziehen.
Luther und Marx hatten mehr gemeinsam, als Sie denken. Beim theoretischen Studium werden Sie es feststellen. Sie sagten nämlich beide die Aufhebung der menschlichen Herrschaft voraus. Martin Luther wollte nicht mehr nur verständlich diskutieren, sondern auch kontrovers. Das brachte ihm wenige Freunde ein. Nicht nach dem Munde reden, das fällt auch Politikern zuweilen schwer. Gerade in Wahlkampfzeiten auf der Jagd nach Facebook-Likes ist das Bedürfnis nach Zustimmung meist größer als der Wunsch, sich eine sprichwörtlich blutige Nase zu holen. Deshalb möchte ich an dieser Stelle ein eindringliches Plädoyer für die Etablierung einer Kultur der Gegenrede halten, die den Gegner achtet, aber eine klare Haltung bezieht und nicht aus Angst vor Populisten selbst populistisch wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nicht ohne Grund waren es Pfarrer, die damals als Moderatoren der Runden Tische hereingeholt wurden. Nicht ohne Grund werden bis heute zu Moderationszwecken, wenn es Streitigkeiten zwischen gesellschaftlichen Gruppen gibt, Pfarrer bemüht; denn die Kirchen waren damals die Räume, in denen offen diskutiert werden durfte. Dort, wo freie Meinungsäußerung als staatsfeindliche Hetze justiziabel war, gedieh die Freude an der Kontroverse natürlich spärlich.
Zum Abschluss möchte ich zumindest eine von Luthers Thesen zum Vortrag bringen; denn ich möchte nicht Luther interpretieren, sondern seine Worte aus seinen Thesen anbringen. Dafür habe ich mir eine herausgesucht, die ich für besonders wichtig für unsere heutige Zeit halte – Zitat –: „Man muss die Christen lehren: Wer einen Bedürftigen sieht, sich nicht um ihn kümmert und für Ablässe etwas gibt, der erwirbt sich nicht Ablässe des Papstes, sondern Gottes Verachtung.“
Frau Kollegin Kliese sprach für die SPD-Fraktion, die Miteinbringerin ist. Nun spricht für die Fraktion DIE LINKE Frau Kollegin Buddeberg.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Koalition wünscht sich also eine Aktuelle Debatte zu Luther. Die Wertediskussion in Sachsen halte ich für absolut wichtig. Nach Vorfällen unter anderem in Clausnitz, Bautzen und Freital denke ich: Ja, wir müssen dringend über Werte sprechen.
Allerdings hätte für mich der Debattentitel auch gut und gerne lauten können: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut – Goethe heute: Kennen und leben humanistischer Werte in unserer Zeit“.
Ich will Ihnen erklären, warum. Bei der Debatte um christliche Werte stoße ich immer wieder auf ein Grundproblem, das ich Ihnen kurz illustrieren möchte. Ich hatte vor einiger Zeit eine Diskussion mit einem Kollegen aus der CDU-Fraktion. Ich möchte seinen Namen nicht nennen, aber ich vermute, er erkennt sich wieder. Wir hatten eine Diskussion zu Gleichstellung, und er lehnte meine politische Position ab mit dem Argument – Zitat –: „Gott hat Mann und Frau in ihrer Unterschiedlichkeit nach seinem Ebenbild geschaffen, nachzulesen am Beginn der Bibel.“
Er hat also seine politische Position mit dem Wort Gottes untermauert und die Bibel gleichsam als Totschlagargument zu verwenden versucht.
Meine Damen und Herren! Ich kann eine solche Argumentation nur ernst nehmen, wenn Sie sie auch konsequent betreiben. Unter dem Motto „Ganz oder gar nicht!“ kann man dann auch mit der Bibel verfahren, denn es gibt einfach viele Gebote und Vorschriften in der Bibel, die für unsere Lebensgestaltung heute nicht mehr maßgeblich sind.
So ist es mir zum Beispiel nicht vergönnt, mehrere Tage im Monat Homeoffice zu machen, weil im Fünften Buch Moses steht: „Wenn eine Frau ihren Blutfluss hat, so soll sie sieben Tage für unrein gelten. Wer sie anrührt, der wird unrein bis zum Abend.“
Die christlichen Kolleginnen haben sich bisher nicht erkundigt, bevor sie mir die Hand gegeben haben.
Worauf ich hinauswill: Wir müssen eine Unterscheidung finden – wenn wir über christliche Werte reden – zwischen dem biblischen Wort und dem christlichen Wert.
Das gestehe ich natürlich zu: Insbesondere das Neue Testament bietet gute und positive Anknüpfungspunkte für eine Wertediskussion, nämlich Werte, die in unserer heutigen Leistungsgesellschaft durchaus zu kurz kommen: Nächstenliebe und Barmherzigkeit.
Barmherzigkeit – damit bin ich beim Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Ich möchte es kurz in Erinnerung rufen, falls Sie es nicht mehr so präsent haben. Ein Mann wird ausgeraubt und schwer verletzt. Da ist es nicht der Priester, der ihm hilft, nicht der Tempeldiener, sondern eben der Samariter, der ein bisschen Fremde, der gar nicht so richtig dazugehörte. Er fragt das Opfer nicht zuerst nach seiner Krankenkassenkarte, und er fragt auch nicht, ob er vielleicht selbst für sein Unglück verantwortlich ist, er erwartet keine Gegenleistung – nein, er hilft ihm einfach. Er ist sozusagen ein Gutmensch. Das Wort „Gutmensch“ gilt in unserer heutigen Gesellschaft als Beleidigung. Das ist dazu verkommen, und darüber, meine Damen und Herren, müssen wir reden.
Wenn ich mich frage, ob Jesus in irgendeiner Form als Vorbild, als Role Model, wie man heute sagen würde, dienen kann, würde ich schon sagen: Ja, weil er sich den Ausgegrenzten zuwendet, den Aussätzigen, den Prostituierten, den Fremden. Genau das könnte beispielhaft sein in unserer Zeit. Das sind christliche Werte, bei denen ich sage: Wenn die heute gelebt werden – wunderbar.
Aber das Gegenteil ist oft der Fall. Würde Jesus, der ja aus dem Nahen Osten kam, am Montagabend durch Dresden gehen, dann müsste er wahrscheinlich um seine körperliche Unversehrtheit fürchten. Dabei bin ich mir nicht sicher, wie viele barmherzige Samariter es in Dresden gäbe, die ihm dann helfen würden.
Letzter Punkt in der Wertediskussion. Anders als die Zehn Gebote sind gesellschaftliche Werte nicht in Stein gemeißelt. Sie unterliegen einem gesellschaftlichen Wandel. Ein Beispiel dafür. Vor 27 Jahren, am 17. Juni 1990, beschloss die Weltgesundheitsorganisation, Homosexualität aus dem Diagnoseschlüssel für Krankheiten zu streichen. Daran erinnert der heutige Aktionstag gegen Homo-, Trans- und Interfeindlichkeit.
Dieser Aktionstag ist auch heute noch sehr wichtig – auch in Sachsen –, weil bis heute LSBTTIQ als Minderheit ausgegrenzt, stigmatisiert und pathologisiert werden. Sie werden strukturell ausgeschlossen und erfahren physische und psychische Gewalt.
Wenn diese Gewalt durch christliche Werte begründet wird, muss ich Ihnen sagen: Da steige ich aus der Debatte aus, denn das ist finsteres Mittelalter.
Ich verweise in dieser Diskussion noch einmal alle auf das bewährte Instrument der Kurzintervention. Das bringt dann die Diskussion so richtig in Gang.