Protocol of the Session on May 17, 2017

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Als Katholikin lasse ich es mir natürlich nicht nehmen, in diese Debatte zu Luther einzusteigen.

Die Lehre Luthers hätte in einer Aktuellen Debatte zu Zeiten Friedrich des Weisen, Georg des Bärtigen oder Heinrich des Frommen sicherlich eine größere landespolitische Dimension gehabt – so wie das später mit umgekehrten Vorzeichen auch für August den Starken gegolten hat. Die politische Aktualität ist deshalb heutzutage nicht so ohne Weiteres begründbar, und zwar ungeachtet des unbestrittenen Wertes von Luthers theologischem Werk für die Menschen.

Es fällt schwer, Martin Luther heutzutage als politischen Lenker zu aktualisieren. Warum sage ich das? Ich sage das auch, weil das zunächst hieße, den historischen Kontext zu übersehen oder zu unterschätzen, wie sehr Martin Luther ein Kind seiner Zeit geblieben ist. Es läuft so jedes Zeitalter Gefahr, sich seinen eigenen Luther zu kreieren.

„Luther heute“, wie es im Debattentitel steht, heißt nichts anderes, als dass dieses „Luther heute“ im Laufe der Geschichte immer wieder anders ausgesehen hat, wenn wir zum Beispiel an die Zeit des Wilhelminismus oder des Nationalsozialismus denken. Erich Honecker, der, woran die „LVZ“ in dieser Woche erinnert hat, sogar dem Martin-Luther-Komitee der DDR vorstand, meinte einmal: „Der Sozialismus vollendet das humanistische Vermächtnis von Martin Luther.“ Das spottet doch den realsozialistischen Auswüchsen, deren humanistische Grundsätze heutzutage unter anderem in der Gedenkstätte Bautzen II nachzuvollziehen sind.

(Beifall des Abg. Gernot Krasselt, CDU)

So hat jede Zeit ihren Luther. Ich finde es nicht gut, wenn wir durch eine vermeintliche Aktualisierung des Schaffens und Wirkens Luthers in die Gefahr kommen, sein Werk damit zu banalisieren. Das geschieht unter anderem durch das Zitat im Debattentitel, das ich schon gern ein Stück genauer betrachtet wissen möchte. Das überstrapazierte „dem Volk aufs Maul schauen“ ist ein Beispiel für Beliebigkeit. Es wird wirklich immer aus dem richtigen Zusammenhang herausgerissen.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Es ging Martin Luther lediglich um den Grundsatz der Verständlichkeit beim Übersetzen der Bibel, als er sagte – und ich zitiere hier einmal aus dem „Sendbrief vom Dolmetschen“ von 1530 –: „Man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach dolmetschen.“

Heute wird das ohne Weiteres auf die Politik übertragen. Man solle dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach

dem Munde reden usw. usf. Das verkommt zur Allerweltsweisheit, die mit Luther nicht mehr viel zu tun hat und ihm auch nicht gerecht wird.

Wenn man an Jubiläen falsche Zitate in den falschen Kontext setzt, ist das nicht Aktualisierung, sondern Banalisierung.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Jener Luther auf dem Sockel hat uns weniger zu sagen als der Luther, den sich jede und jeder aus dem historischen Kontext erschließen kann, um beispielsweise einmal darüber nachzudenken, was die Gewissensfreiheit bei Luther bedeutet. Gewissensfreiheit ist ein mächtiges Wort und ein mächtiger Orientierungspunkt. Darüber hätte ich heute gern debattiert.

Der dritte Teil des Titels dieser Aktuellen Debatte „Kennen und leben christlicher Werte in unserer Zeit?“ ist von der Koalition tatsächlich mit einem Fragezeichen versehen worden. Aber was ist eigentlich die Frage?

Wir können gern darüber debattieren, inwiefern es Aufgabe der Politik im säkularen Staat ist, christliche Werte zu postulieren. Ich halte das für bedenklich; denn Staatsreligionen neigen dazu, politisch instrumentalisiert zu werden. Dazu müssen wir uns nur in der Welt umschauen.

(Beifall bei den GRÜNEN und den LINKEN)

Wer meint, politisches Handeln auf eine christliche Letztbegründung zurückführen zu müssen, der halte sich bitte an folgenden Satz: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“

Ein Nachdenken über die eigene Haltung und die eigene Ethik, zum Beispiel in den letzten zwei Jahren angesichts der Ereignisse in Sachsen, aber auch jeden Tag aufs Neue, das ist doch das, was Luther in uns auslösen sollte, wenn wir uns mit seinen Kernthesen tatsächlich ehrlich auseinandersetzen wollen.

(Beifall bei den GRÜNEN und den LINKEN)

Es ist im Übrigen kein christliches Alleinstellungsmerkmal und keine ausschließlich christliche Haltung, wie man sich Schwachen und Fremden gegenüber zu verhalten hat. Dieses ethische Fundament lässt sich aus allen Weltreligionen heraus begründen, aber nicht nur daraus, sondern auch aus einer humanistischen Haltung, die nicht immer dezidiert religiös begründet sein muss.

(Vereinzelt Beifall bei den LINKEN)

Das sollte uns anhalten, mal wieder die Bergpredigt herzunehmen, gern in der Übersetzung Martin Luthers. Was dort zu sehen ist, ist eine ziemlich radikale Ansage an die Einzelnen, aber kein politisches Handbuch, kein Wertekanon für eine Mehrheitsgesellschaft und schon gar keine Beschreibung einer wie auch immer gearteten Leitkultur.

Ich möchte mit der Bergpredigt enden, die ich an dieser Stelle gern in der Fassung der Lutherbibel 2017 zitiere:

Die Redezeit geht zu Ende.

„Habt aber acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden. Ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel.“

(Beifall bei den GRÜNEN, den LINKEN und des Abg. Jörg Vieweg, SPD)

Mit Frau Kollegin Schubert sind wir am Ende der ersten Rederunde angekommen und eröffnen eine neue. Diese beginnt mit der CDU-Fraktion. Für sie ergreift Kollege Krasselt das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will unser heutiges Debattenthema auf „Luther heute“ kürzen.

Dennoch möchte ich vorab einige Gedanken zur Reformation vor 500 Jahren äußern. Es gab Vorläufer eines Martin Luther. Ich will an Jan Hus und John Wyclif erinnern. Es gab Zeitgenossen, die, wie ich denke, in diesem Zusammenhang genannt werden sollten: Ulrich Zwingli, Johannes Calvin und – ich denke, er war mehr als die rechte Hand von Martin Luther – Philipp Melanchthon.

Luther hat zu seiner Zeit die Kirche vom Kopf auf die Füße zurückgestellt. Der Glaube und die Bibel sind das Entscheidende, nicht Macht, Prunk und Unterdrückung. Luther hat die Christen zu Christen befreit. Jeder sollte Bildung haben, damit jeder in der Lage war, die Bibel selbst zu lesen, und sich nicht sagen lassen musste, was darin stehen könnte. Natürlich war der damals aufgekommene Buchdruck als Neuerung eine Grundvoraussetzung dafür, dass das Ganze so geschehen konnte.

In fünf Minuten kann man auf vieles, was gesagt werden müsste, nicht eingehen. Ich denke aber, dass wir zu Recht 500 Jahre Reformation feiern. Luther ist und bleibt die zentrale Symbolfigur dieser Zeit. Die großen Kirchentage in Berlin und Wittenberg, aber auch die in Leipzig, Erfurt, Weimar, Magdeburg und Dessau werden viel Zeit für Diskussionen bieten. Jeder kann sich dort ein erhebliches Maß an Bildung holen. Ich will daran erinnern, dass in deren Zentrum kein Kult um Luther stehen wird, sondern das Gemeinsame, das Miteinander, die Frage, was es heute heißt, Christ zu sein.

Im Zentrum der Reformationsfeiern steht die gemeinsame Geschichte der christlichen Kirchen, die Ökumene, die in den letzten Jahrzehnten enorm Fahrt aufgenommen hat. Heute ist in allen Christen das Verbindende viel deutlicher und klarer als Trennendes. Zu Christi Himmelfahrt werden aus diesem Grund in vielen deutschen Städten ökumenische Gottesdienste stattfinden. Altbischof

Joachim Reinelt sagte zum Evangelischen Kirchentag in Dresden auf den Elbwiesen sinngemäß: Das Verbindende ist so überbordend, dass das Trennende bis zur Unkenntlichkeit verschwommen ist. Recht hat er! Das ist die Zukunft der christlichen Kirchen.

(Beifall bei der CDU)

Die Reformation – wir haben es bereits gehört – führte zu einer Bildungsrevolution. Ich weiß nicht, wo wir heute stünden, wenn es diese nicht gegeben hätte. Es ist sensationell, dass Martin Luther vor 500 Jahren sagte: „Auch Frauen sollen lesen und schreiben.“ Denken Sie an andere Länder dieser Welt und wo wir dort heute stehen!

Luther hat die deutsche Sprache zu dem entwickelt, was sie am Ende geworden ist – großartige Leistungen, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Er hat die Freiheit der Christenmenschen gepredigt. Ich weiß nicht, ob uns in einem freien Land überhaupt klar ist, was das bedeutet. In Wittenberg wird es zum Kirchentag eine Weltausstellung zur Reformation geben. Die Welt ist eingeladen, zu diskutieren, christliche Wertvorstellungen zu leben, zu deuten und zu verbessern. Wo wären wir ohne die christlichen Wertstellungen wie die Bewahrung der Schöpfung?

(Stephan Hösl, CDU: Bei den LINKEN!)

Nächstenliebe, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit, Frieden und Freiheit, und ganz besonders ist auch der Glaube für Christen ein wesentliches Element ihres Lebens. Bei allen Versuchen, den Glauben mit Wissen ad absurdum zu führen, müssen wir heute feststellen, dass es nicht funktioniert hat, und ich garantiere Ihnen: Das wird auch in Zukunft nicht funktionieren.

(Beifall bei der CDU)

Kirche heute ist Mitmenschlichkeit, Hilfe für Schwächere, sind christliche Schulen und Krankenhäuser. Aber gerade auch in der Flüchtlingspolitik und in der Seelsorge haben die Kirchen bahnbrechende Arbeit geleistet.

(Rico Gebhardt, DIE LINKE: Was macht ihr?)

Lassen Sie mich abschließend eines sagen, was den LINKEN besonders wehtun wird: Wie wäre wohl die friedliche Revolution in Deutschland ausgegangen, wenn nicht die Kirchen das Fundament gebildet und statt mit Kerzen in der Hand mit Waffen demonstriert hätten?

(Beifall bei der CDU, der SPD, der AfD und der Staatsregierung)

Die Redezeit ist zu Ende.

Es war die erste friedliche Revolution in der Welt. Herr Jalaß, Ihnen würde ich empfehlen, sich einmal mit der Thematik zu befassen, damit Sie nicht nur dummes Zeug daherreden.

(Beifall bei der CDU)

Das war die einbringende CDU-Fraktion, es sprach Herr Kollege Krasselt. Nun ergreift Frau Kollegin Kliese für die einbringende SPDFraktion das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es war der 10. Oktober im Jahr 2015, als Kleinkinder, Frauen und Männer aus Syrien und Afghanistan in einer sächsischen Stadt eine Turnhalle beziehen sollten. Daran hindern wollten sie die selbsternannten Retter des Abendlandes, die ihnen selbst den Platz in einer Turnhalle missgönnten. Die Situation spitzte sich derart zu, dass die anliegende Dietrich-BonhoefferGemeinde den Geflüchteten Asyl bot. Am späten Abend bezogen die Familien den Gemeindesaal, der ihnen von der Pfarrerin zur Verfügung gestellt wurde. Verfechter der abendländischen Kultur ließen es sich nicht nehmen, das Gotteshaus mit Steinen zu bewerfen. Es ging neben den Scheiben ein Bild zu Bruch, das Kinder gemalt hatten. Es zeigte die Giraffe, den Löwen und den Elefanten auf Noahs Arche. Seither wandert dieses Bild als eine Art Mahnung durch die Kirchen. Dort, wo es zerstört wurde, hat man es bewusst nicht repariert, sondern ein Zitat aus der dazugehörigen Sintflut-Geschichte eingefügt – ich zitiere –: „Aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde diese Geschichte für unsere heutige Aktuelle Debatte sehr passend, denn sie zeigt zweierlei: zum einen die Absurdität der Rettung des Abendlandes durch Menschen, die dessen Werte nicht kennen und nicht achten, und zum anderen die Bedeutung der Kirche für unsere Gesellschaft, in diesem Fall für die Arbeit mit Geflüchteten. Kirchen mit ihren engagierten Mitgliedern sind ein wesentlicher Stützpfeiler, ob in der Hospizarbeit, im Christlichen Körperbehindertenverband oder bei der Seelsorge. Schon Montesquieu beschwor die dritte Kraft zwischen Staat und Bürgern als wesentlich für den Erhalt einer Demokratie. Er meinte mit der dritten Kraft nicht die Kirche, sondern das Ehrenamt, und dieses wird durch Menschen, die sich in der Tradition Luthers sehen, auf unverzichtbare Weise in unserem Land geprägt.

(Beifall bei der SPD und der CDU)