Ich sage Ihnen, welcher Unterschied zwischen den Fehleinschätzungen von damals und den Fehleinschätzungen von heute besteht. Der erste Unterschied ist: Es sind nicht mehr die Fehleinschätzungen Ihrer Vorgänger, Herr Ulbig, sondern Sie verpassen hier die Chance zu einer umfassenden Neubewertung, zu einer Revision der Einschätzung, die dringend notwendig ist. Das können Sie nicht mehr Ihren Vorgängern in die Schuhe schieben. Das liegt in Ihrer Verantwortung.
Das zweite so Gravierende an dieser Stelle ist: Wenn man diese Neubewertung nicht vornimmt, läuft man Gefahr, die Fehler der Vergangenheit in der Zukunft zu wiederholen.
Genau das ist es, wovor der Bundesverfassungsschutz gewarnt hat. Er warnt ausdrücklich vor Nachahmungstätern im Bereich NSU.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es muss unser gemeinsamer Auftrag sein, dies zu verhindern. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung gegenüber den Opfern. Ich wünsche mir, dass wir hier noch mehr Ehrlichkeit und noch weniger Augenwischerei auch bei der Beantwortung von Großen Anfragen haben. Ich weiß, das tut manchmal weh. Aber im Namen unserer Demokratie ist dies dringend notwendig.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, hier eine politische Auseinandersetzung über diese Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE zu führen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass wir uns gerade in Kenntnis dessen, was aus diesen Strukturen hervorgegangen ist, hier im Landtag damit beschäftigen, um zu zeigen, was wir alles besser wissen. Es kommt nicht mehr darauf an, welche Folgerungen wir für die Zukunft daraus ziehen sollen, wie wir das aufarbeiten sollen, damit so etwas nicht mehr passiert, sondern es wird minutiös abgefragt, was in der Vergangenheit gewesen war. Anschließend wird dann aufgearbeitet, was man alles besser hätte wissen müssen. Das ist für eine Analyse meines Erachtens nicht zielführend.
Wir haben hier sehr viel über das Thema „Blood & Honour“ gesprochen. Es ist meines Erachtens mehr als das Hobby von Einzelnen, was wir hier beachten müssen. Wir müssen uns anschauen, wie wir zukünftig damit umgehen.
Ich finde, es ist müßig herauszufinden, dass es ein Buch gibt, in dem etwas aufgezeigt wurde, und dass nun behauptet wird, dass man da hätte eine Struktur erkennen können. Ausgerechnet dieses Buch ist jetzt nicht da. Wenn dieses Buch dagewesen wäre, hätte man vielleicht den NSU verhindern können.
Meine Damen und Herren! So einfach ist die Welt nicht. Ich glaube, wir haben mittlerweile eine Situation, in der wir einen gesicherten Erkenntnisstand haben, wie die Strukturen des NSU gewesen sind. Wir wissen auch, dass es sehr schwierig war, diese Strukturen innerhalb Sachsens zu erkennen. Wir wissen, dass wir Schwierigkeiten haben, beim Landesamt für Verfassungsschutz diese Informationen zu gewinnen, sie zu sammeln und sie auch wiederzufinden, wenn man sie einmal hat. Das kommt alles einmal vor.
Es nützt aber nichts. Wir müssen jetzt auch einmal sagen, wie wir dieses Amt umstrukturieren wollen. Das ist die Perspektive, die wir hier erarbeiten müssen. Ich denke, gerade wenn wir eine solche Große Anfrage haben, dann müssen wir auch einmal darüber reden.
Die Staatsregierung und besonders Minister Ulbig sind derzeit dabei, ein neues Konzept für das Amt aufzustellen. Es wird aufgearbeitet. Dabei kommt auch einiges zutage, bei dem man sich an den Kopf fasst und fragt: Wie kann das sein? Es ist aber die Aufgabe des Ministers, dieses Amt jetzt so aufzustellen, dass es zukünftig keine Versäumnisse mehr gibt. Wir müssen dieses Amt erden. Wir müssen es neu aufstellen und es in die Zukunft weiterentwickeln. Das ist meines Erachtens eine sehr viel wichtigere Aufgabe, als darüber zu philosophieren, ob die
einzelnen Sätze, die in dieser Großen Anfrage stehen, die richtigen sind, ob der Minister mehr hätte wissen können, und zu demonstrieren, was man selbst mehr weiß.
Meine Damen und Herren! Diese Große Anfrage ist eine Zusammenstellung von Fakten. Wir erkennen, dass es eine unübersichtliche Szene ist, die sehr schwer zu behandeln ist. Wir erkennen auch die Schwierigkeiten, die der Rechtsstaat manchmal hat, wenn es darum geht, solche Strukturen zu verbieten. Es reicht nicht aus, wenn ich moralisch der Überzeugung bin, dass ich hier eine Struktur habe, die ich verbieten muss. Ich muss sie in einem rechtsstaatlichen Verfahren auch entsprechend verbieten können. Dafür brauche ich eine Beweislage. Dafür brauche ich Nachweise. Die muss ich erst einmal finden.
Meines Erachtens legt die Große Anfrage sehr deutlich klar, was das Problem dabei gewesen ist, die sächsische Sektion von „Blood & Honour“ zu verbieten. Wenn ich es nicht gerichtsfest hinbekomme, dann kann ich es nicht machen. Ich muss in ein Verfahren gehen, das ich gewinnen kann. Wenn ich es gewinnen kann, dann muss ich es auch machen. Aber diese Situation hat hier nicht vorgelegen.
Ich glaube nicht, dass wir hier als Parlamentarier in der Lage sind, abschließend zu beurteilen, ob diese Einschätzung, die damals das Innenministerium getroffen hat, falsch war, als sie sagte, dass sie das Verfahren nicht macht, was lange vor der Zeit war, als Markus Ulbig hier Minister wurde und als wir in den Landtag kamen. Ich glaube nicht, dass man hier sagen kann: Wir wissen es besser. Man hätte das alles anders machen können. Man hätte verbieten können und müssen. Wenn man das getan hätte, dann hätte das Auswirkungen auf den NSU gehabt.
Ich glaube, es ist vermessen, das zu behaupten. Deshalb lehne ich einen Teil dieser politischen Diskussion hier auch ab.
Wir nehmen die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE zur Kenntnis. Ich glaube, wir sollten langsam einmal den Blick darauf werfen, wie wir das Landesamt für Verfassungsschutz strukturieren, damit so etwas, was beim NSU passiert ist, nie wieder geschehen kann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir halten die Antworten auf diese Große Anfrage für einen Offenbarungseid, einen Offenbarungseid darüber, wie ungenügend die Auseinandersetzung des Landesamtes für Verfassungsschutz mit den Strukturen der extremen Rechten und hier besonders mit „Blood & Honour“ nach wie vor ist. Das reiht sich leider ein in die ganze Serie des Versagens unseres sächsischen Verfassungsschutzes und unseres
Innenministeriums. Gestern wurde bekannt, dass erneut neue Unterlagen aufgefunden wurden und dass der ehemalige Vizepräsident des Verfassungsschutzes, Herr Dr. Vahrenhold, dessen Rücktritt wir schon früher gefordert haben, nun Kenntnisse im Archivwesen erwerben soll. Das reiht sich in diese ganze Serie ein und hat damit leider wieder einmal einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Wie die Aufklärung der Verbrechen des NSU ist diese Große Anfrage gekennzeichnet von Unvermögen, dem Unvermögen, eigene Urteile und Bewertungen zu revidieren und der Realität anzupassen. Die Antwort der Staatsregierung kann ich nicht einmal als schlechten Witz betrachten: Nicht wissen, bagatellisieren, ignorieren. Das zeigt, dass der Verfassungsschutz tatsächlich überflüssig ist und dass wir für die Erforschung des Rechtsextremismus eine andere Struktur brauchen.
Lieber Kollege Hartmann, Frau Köditz hat in ihrer Rede schon darauf verwiesen, dass die LINKEN-Fraktion am 13. Februar 2012 einen Antrag zu diesem Thema in den Geschäftsgang gegeben hat. Sie hat einen Bericht der Staatsregierung eingefordert. Die Regierung hat damals eine inhaltliche Antwort auf diesen Antrag verweigert. Dieser Antrag – so damals die Staatsregierung, ich möchte Ihnen das noch einmal zitieren – würde auf einen sehr speziellen Ausschnitt aus dem Bereich rechtsextremistische subkulturelle Szene abzielen. Die gewünschten Informationen würden nicht vorliegen. Zur Beantwortung würde Spezialwissen zusammengetragen werden müssen. Dies sei nicht zu leisten und ginge zulasten der Arbeitsfähigkeit von Polizei und Verfassungsschutz sowie der aktuellen Prioritäten wie der Aufklärung rechtsterroristischer Strukturen und Verbrechen. Die haben Sie allerdings nicht erfolgreich aufgeklärt, Herr Innenminister. Deshalb müssen Sie sich fragen lassen, womit Sie sich in der Zeit eigentlich beschäftigt haben.
Am 11. Oktober 2012 fand eine öffentliche Anhörung des Innenausschusses zu dem Antrag statt. Meine Vorredner hatten darauf schon Bezug genommen. Mein Kollege Jennerjahn fragte damals den anwesenden Sachverständigen Dr. Vahrenhold, ehemaliger Vizepräsident des Sächsischen Verfassungsschutzes, ob die Stellungnahme der Staatsregierung mit dem Verfassungsschutzamt abgestimmt gewesen sei. Herr Dr. Vahrenhold sagte damals, Herr Jennerjahn könne davon ausgehen, dass solche Aussagen abgestimmt würden. Der Verfassungsschutz hat also die Situation völlig verkannt.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Schon die Antworten damals waren erschreckend. Sie zeigten, dass eine inhaltlich fundierte Auseinandersetzung mit einer zentralen Struktur der Rechtsextremen nicht stattgefunden hat. Das erstaunt umso mehr, als ja das viel zu späte Auffliegen des sogenannten Nationalsozialistischen
Untergrundes gezeigt hat, wie eng die sächsischen Führungsstrukturen von „Blood & Honour“ in das Unterstützernetzwerk des NSU eingebunden waren. Die Antwort
der Staatsregierung, eine Auseinandersetzung mit „Blood & Honour“ würde die Aufklärung von Rechtsextremismus behindern, war schon zum damaligen Zeitpunkt – ich weiß gar nicht, wie ich es sagen soll – ein Hohn, unsinnig, verblendet. Da fehlen einem die Worte.
Nun ist rund ein Dreivierteljahr vergangen. Uns liegen die Antworten der Staatsregierung auf die Große Anfrage im Parlament vor und wir müssen feststellen, dass Landesamt für Verfassungsschutz und Staatsregierung nach wie vor bereit sind, die Bedeutung dieser Gruppe zu erfassen.
Es sind einige Antworten in dieser Großen Anfrage, die für diese Ignoranz besonders bezeichnend sind, etwa die Antwort zur Frage 8 – ich zitiere –: „Explizite Äußerungen ehemaliger ‚Blood-&-Honour‘-Mitglieder zur ideologischen Ausrichtung im Sinne der Grundlagenschriften liegen nicht vor.“ Anders ausgedrückt: Der Verfassungsschutz weiß nur, was ihm selbst von Nazis gesagt wird. Eigene Analyse, Benutzung öffentlicher Quellen – Fehlanzeige.
Ähnlich erschreckend ist die Antwort auf Frage 9: „Blood & Honour“ hat sich nicht als politische Organisation angesehen“ – nicht als politische Organisation! –, „sondern vielmehr als Multiplikator nationalsozialistischer Ideologie durch das Mittel Musik. Für die Führungsmitglieder“ – so die Regierung von „Blood & Honour“ Sachsen – „war die Ideologie zweitrangig; deshalb wurden keine politischen Treffen beabsichtigt bzw. durchgeführt. Generell sah ‚Blood & Honour‘ in der Musik das ideale Mittel für den Transport der nationalsozialistischen Ideologie.“
Der Sächsische Verfassungsschutz und unsere Regierung dürften zu den wenigen gehören, die das Verbreiten nationalsozialistischer Ideologie nicht als politisch betrachten. Es ist aber nur folgerichtig, wenn man sich beharrlich weigert, sich mit dem politischen Wesen dieser Struktur zu beschäftigen, und sie stattdessen lieber als eine Art allgemeine Konzertveranstaltungs-Agentur
Dafür, lieber Kollege Hartmann, brauchen wir den Verfassungsschutz nicht. Dafür brauchen wir ein unabhängiges wissenschaftliches Institut, das sich mit öffentlich zugänglichen Quellen beschäftigt. Die immer wieder geforderte Vernetzung – glaube ich – ist überhaupt keine Antwort, weil wir immer wieder erleben, dass selbst dort, wo Vernetzung stattgefunden hat, die Informationen durch Geheimhaltungsideologie, durch die verschwundenen Akten, durch das Interesse des Verfassungsschutzes, seine Quellen zu schützen und weiter einzusetzen, immer wieder unterbunden werden. Die Antwort der Staatsregierung, die ich gerade zitiert habe, erstaunt uns deshalb, weil die von „Blood & Honour“ durchgeführten Treffen gerade die angeblich nicht stattfindenden politischen Treffen darstellen.
Wir erwarten an dieser Stelle, dass auch diese Regierung, auch dieser Verfassungsschutz sich einmal das eindrucksvolle Bildmaterial zur Kenntnis nehmen, das für den Film „Blut muss fließen“ zusammengetragen wurde. Sie wissen, mein Kollege hat diesen Film zusammen mit den Machern vor Hunderten von Leuten öffentlich gezeigt. Hätten Sie das mal besucht und ausgewertet! Sie wissen, es handelt sich dabei um zahlreiche Aufnahmen von Neonazikonzerten, die durch einen mutigen Journalisten über Jahre hinweg mit versteckter Kamera aufgenommen wurden – auch hier in Sachsen. Allein dieses Bildmaterial belegt, wie weit die Antwort der Regierung von der Realität entfernt ist.
Die Ignoranz der Regierung, des Verfassungsschutzes in Sachsen zeigt sich auch in der Antwort auf Frage 21. Gefragt wurde dort nach Erkenntnissen über Mitgliedschaften von Hammerskins im Führungskreis des „Freien Netz Mitteldeutschland“ oder dessen örtlicher Gruppen. Auch hier pflegen Staatsregierung und Verfassungsschutz weiterhin das Märchen, das „Freie Netz“ sei lediglich eine Kommunikationsplattform.
Festgemacht haben sie es immer daran, dass Mitgliedschaften im „Freien Netz“ nicht möglich seien. Offenkundig versucht das Verfassungsschutzamt immer noch, mit untauglichen Instrumenten bzw. Organisationsmodellen wie nicht existenten Vereinsstrukturen zu arbeiten. Rechtsextremismus, politische rechtsextremistische
Aktivität, Herr Innenminister, sind leider nicht auf Vereinsstrukturen, Parteistrukturen beschränkt.
Das Landesamt für Verfassungsschutz beweist damit, dass es nach wie vor unfähig ist, die Logik sozialer Bewegung und damit auch weniger formell organisierter Zusammenschlüsse zu erfassen. Das ist erschreckend, weil in der Politik und Sozialwissenschaft diese zutreffende Analyse, die extreme Rechte als soziale Bewegung zu erfassen und zu beschreiben, immer mehr um sich greift. Dem Verfassungsschutz fehlt auch hier die fachliche Grundlage, und das ist mit Austauschen von Köpfen offenbar nicht mehr zu leisten. Die wissenschaftliche Expertise fehlt. Sie wird entweder nicht wahr- oder nicht ernstgenommen, oder sie wird schlichtweg nicht verstanden.
Es ließe sich noch vieles sagen, obwohl die Große Anfrage und die Antworten recht kurz sind. Ich möchte es damit jetzt bewenden lassen.