Protocol of the Session on October 18, 2012

Es kommt noch etwas hinzu: Es ist seit 2009 die UNKonvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen auch in Sachsen umzusetzen. Auch unter diesem Gesichtspunkt müssen wir unsere Pflegelandschaft erneut anschauen. Wir müssen überlegen, wie wir die Wünsche der Betroffenen stärker realisieren können.

Noch einmal die Frage an Sie: Wie möchten Sie im Alter leben? Wer von Ihnen weiß das heute, oder wer hat sich Gedanken darüber gemacht, wie er selber diesen Wünschen heute schon entgegenkommen kann? Entscheidend wird sein, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass das Land seine Steuerungsverantwortung wahrnimmt und sowohl bestehende Fehlentwicklungen korrigiert als auch Fehlanreize aufhebt.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Sachsen braucht dazu eine landespolitische Zielsetzung zum Thema Pflege, eine Zielsetzung, die ein Ergebnis eines gemeinsamen Diskurses ist, vor allen Dingen eines transparenten Diskurses, liebe Kolleginnen und Kollegen, und diese Zielsetzung muss auch Verbindlichkeit beanspruchen. Dazu ist es erforderlich, die Politikfelder Behindertenpolitik, Altenpolitik, Pflegepolitik, Familienpolitik, Engagement-Politik, alle unter der Ägide des Sozialministeriums, mit dem Politikfeld Wohnungspolitik des Innenministeriums oder dem Politikfeld DemografiePolitik der Staatskanzlei in Verbindung zu bringen, aufeinander abzustimmen und einen Gesamtlösungsansatz zu entwickeln. Derzeit – das haben die Vorrednerinnen auch schon ausgeführt – ist nicht absehbar, dass die aktuelle Regierung das tatsächlich zustande bringt.

Wir haben in Sachsen ein Netz aus ambulanten und stationären Pflegediensten und Einrichtungen. Das ist einerseits den Investitionen nach der Wende zu verdan

ken, andererseits ist es auch eine Folge der Pflegeversicherung. Dass wir aber in Sachsen mehr stationäre Plätze haben als im Bundesdurchschnitt, liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist eine Situation und eine Folge der mangelnden Steuerung seitens des Landes. Wir müssen einfach, wenn wir immer wieder die Frage stellen „Wie wollen wir leben, wie wollen die allermeisten Menschen im Alter leben?“, den ambulanten Bereich stärken, und wir müssen den Angehörigen und Freunden, die Menschen im Alter und bei Pflegebedarf unterstützen und die sie pflegen, mehr Unterstützungsmöglichkeiten geben.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir brauchen zu diesem Zweck tatsächlich Pflegestützpunkte. Ob wir sie so nennen oder ob wir sie nicht so nennen, sei außer Acht gelassen.

Frau Herrmann, Sie gestatten eine Zwischenfrage?

Ja, ich gestatte.

Herr Krauß, bitte.

Frau Kollegin Herrmann, ich habe jetzt schon häufiger gehört, dass das Land so schlecht planen würde und so schlecht dastehe. Vorhin ist das Raffelhüschen-Gutachten erwähnt worden, nach dem Sachsen führend ist. Können Sie mir ein anderes Bundesland nennen, das, auf Kreisebene heruntergebrochen, bis 2050 geplant hat, außer dem Freistaat Sachsen? Können Sie mir ein Bundesland nennen, das so fortschrittlich ist wie Sachsen?

Es ist richtig und wichtig, dass wir das Raffelhüschen-Gutachten haben. Aber das, was darin steht, müssen wir auch umsetzen. Wir müssen die Pflegelandschaft so entwickeln, dass nicht das eintritt, was ich genannt habe, dass wir eben nicht anstatt 2009 45 000 stationäre Pflegeplätze im Jahr 2050 – dann werden Sie wahrscheinlich in den Genuss der Pflege kommen, ich wahrscheinlich nicht mehr – 85 000 stationäre Pflegeplätze haben. Das kann nicht die Zukunft sein, denn das ist unbezahlbar.

(Staatsministerin Christine Clauß: Das wollen wir doch auch gar nicht!)

Ich sage es noch einmal: Deshalb müssen wir den ambulanten Bereich stärken. Dazu gehört – –

(Alexander Krauß, CDU: Niedrigschwellige Betreuungsangebote! Das wird alles finanziert!)

Die gehören auch dazu. Das sind die beiden Dinge, auf die Sie immer verweisen. Aber dazu gehört, das Arbeitsfeld Pflege attraktiver zu machen. Wie kann das attraktiv gemacht werden? – Hier ist – das habe ich gesagt – Mindestlohn ein Thema. Ein weiteres Thema ist die Anerkennung. Menschen zu pflegen, ihnen in schwierigen Situationen zur Seite zu stehen, Menschen am Lebensende zu pflegen, dazu braucht es psychische Stärke, auch

physische Stärke, dazu braucht es aber auch Unterstützungsangebote. Dazu braucht es Mediation – –

Frau Herrmann, Sie geben mir ein Zeichen, wenn Sie die Zwischenfrage beantwortet haben?

Ja. Nach diesem Satz können Sie die Zeit stoppen.

Gut. Danke.

Dazu braucht es Mediation, dazu braucht es Prävention gegen Erschöpfung – das ist ein großes Problem bei Pflegekräften –, und dazu braucht es auch die Unterstützung für pflegende Angehörige. – Jetzt.

Danke.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Zukunft der Pflege heißt wohnortnahe Beratung, heißt Familie, heißt Quartier, heißt Zusammenleben, heißt auch stationäre Einrichtungen, und die Verantwortung tragen das Land und die Kommunen. Da kann das Land nicht sagen: Das ist Sache der Kommunen. – Die Landesverantwortung können wir wahrnehmen, indem wir zum einen ein Konzept entwickeln und zum Zweiten steuern.

Ein Konzept kann und muss ein Landespflegegesetz sein. Wir haben seit 2003 kein Landespflegegesetz mehr, und es wurde in der Vergangenheit in Sachsen auch nur als Investitionsförderungsgesetz aufgefasst. Es kann aber viel mehr sein. Es kann ein Konzept dazu sein, wie die Pflegelandschaft in Sachsen in Zukunft entwickelt werden muss. Das ist der Auftrag, den das Land hat, den es aber im Moment nicht ausreichend umsetzt.

Es gibt einzelne Maßnahmen, die mehr oder weniger glücklich mit Förderrichtlinien ausgestattet sind. Das heißt, dass nicht einmal das im Haushalt eingestellte Geld abgerufen werden kann, weil die Förderrichtlinien zum Teil zu schwierig sind. Aber es gibt kein Konzept, und es gibt kein transparentes Verfahren. Das ist aber genau das, was wir in Sachsen brauchen.

(Beifall bei den GRÜNEN und den LINKEN)

Jetzt nenne ich Ihnen noch ein Beispiel. Wenn Sie, vor allen Dingen die Frauen unter Ihnen, frühmorgens vor dem Spiegel stehen, frage ich Sie mal, wie lange Sie brauchen, um Ihre Frisur zu richten, ob das in einer Minute gemacht ist. Eine Minute ist in der Pflegeleistung für die Haarpflege vorgesehen. Eine Minute! Ich halte das auch unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde einfach nicht für ausreichend. Wenn Sie dann überlegen, dass für den Toilettengang drei bis sechs Minuten vorgesehen sind, dann können Sie sich vor Augen führen, dass das einfach ein Unding ist.

Wie viele von Ihnen bin auch ich zum „Tag des Perspektivwechsels“ manchmal in Einrichtungen der Pflege, und

ich habe dort erlebt, dass frühmorgens um sechs Uhr geweckt wird. Da ist auch nicht die Frage, ob jemand Langschläfer ist und das auch im Alter bleiben will, sondern da wird um sechs geweckt, und zwar nicht deshalb, weil die Pflegenden darauf keine Rücksicht nehmen wollen, sondern deshalb, weil sie das nicht können. Dann wird die Person auf den Nachtstuhl gesetzt und auf dem Nachtstuhl sitzend ins Bad gefahren. Unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde finde ich das unmöglich.

(Beifall bei den GRÜNEN und den LINKEN)

Solche Zustände herrschen hier nicht etwa, weil Pflegende das unüberlegt machen, sondern deshalb, weil sie ganz einfach keine Zeit haben, um Pflege so zu vollziehen, wie sie selber es möchten und wie wir uns das alle wünschen.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN, den LINKEN und der SPD)

Nun die CDU-Fraktion, Herr Abg. Wehner, Oliver, mein Namensvetter. Sie haben jetzt das Wort.

Sehr verehrter Herr Präsident! Vielen Dank für die nette Ankündigung. Meine sehr verehrten Kollegen! Vor fast einem Jahr haben wir schon hier im Plenum gestanden und über das Thema diskutiert. Es gab einen ähnlich lautenden Antrag von der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN. Damals haben Sie eine Reform in der Pflegepolitik in Sachsen gefordert. Heute fordern Sie, dass der Reformstau beseitigt wird, und damit unterstellen Sie zumindest, dass schon eine Reform stattgefunden hat. Also sind wir schon ein Stück weiter.

Frau Neukirch und Frau Herrmann, ich schätze Ihre Expertise und Ihre Impulse, die Sie im Ausschuss geben, durchaus. Aber das, was Sie heute hier gemacht haben, ist eine Fundamentalkritik. Sie haben schwarzgemalt. Sie haben uns unterstellt, dass wir keinen Kontakt zu den Leuten, zu den Pflegekräften hätten. Ich glaube, das geht etwas an einer sachlichen Diskussion vorbei.

(Beifall bei der CDU, der FDP und der Staatsregierung)

Ich will noch näher darauf eingehen. Es hat sich in den vergangenen Jahren und auch im letzten Jahr durchaus etwas ereignet. Wir haben die Verabschiedung des PflegeNeuausrichtungsgesetzes auf Bundesebene erlebt. Ich werde später noch einmal darauf eingehen.

Um noch einmal zu einigen Punkten Ihres Antrages Stellung zu beziehen: Ihre Forderung war, das Pflegesatzniveau zu erhöhen, also Schaffung eines Pflegesatzniveaus, und dass die Politik die Zahlung eines Tariflohnes übernimmt. Unsere Forderung ist eine angemessene Entlohnung. Aber die Zuständigkeit für die Aushandlung von Pflegesätzen liegt immer noch bei den Leistungserbringern, natürlich mit den Pflegekassen bzw. mit den

Sozialhilfeträgern. Das Einsteigen der Politik schafft eben keine Verbesserungen.

Wir hatten jetzt in der Diskussion mit dem Vergabegesetz genau die gleiche Diskussion: Wie weit soll ein Landesgesetz gehen, und wie weit sollen Tariflöhne oder besser gesagt Mindestlöhne festgeschrieben werden? Oder: In welcher Verantwortung ist der Bund mit dem Arbeitsrecht? – Dazu haben wir eine andere Auffassung. Das spiegelt sich hier auch wider.

Bei der Diskussion um das Pflegesatzniveau müssen wir fragen, wie dieses überhaupt gegenfinanziert wird. So sehe ich die Pflegeversicherung nicht als Vollkaskoversicherung, wenn man das einmal als Vergleich heranziehen will, sondern als Teilkaskoversicherung. Wenn die Politik die Pflegesätze beliebig erhöht, werden die Bedürftigen zur Kasse gebeten. Dann treffen Sie genau diejenigen, die pflegebedürftig sind, also garantiert nicht über die nötigen finanziellen Mittel verfügen.

(Elke Herrmann, GRÜNE, steht am Mikrofon.)

Herr Wehner, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Ich würde jetzt gern weiter fortführen. Ich habe Ihnen geduldig zugehört, und ich denke, wir haben noch genügend Zeit, darüber zu diskutieren.

Ein weiterer Punkt, den Sie fordern, ist die Einführung der Ausbildungsumlage für die Altenpflege in Sachsen. Gemäß § 25 des Altenpflegegesetzes können die Länder ein Umlageverfahren zur Finanzierung der Kosten der Ausbildungsvergütung einführen. Aber die Voraussetzung ist: wenn dies erforderlich ist. Es ist kein Mangel an Ausbildungsplätzen zu sehen oder auch zu beseitigen. Aber es ist nicht erforderlich, und deshalb findet dies nicht unsere Zustimmung.

Das Angebot und die Nachfrage von Arbeitsplätzen sind vorhanden. Es gibt genügend Wettbewerb. Wenn Sie heute als Pflegekraft einen Arbeitsplatz suchen, haben Sie die Möglichkeit, auszuwählen. Ich möchte aber unterstreichen, dass natürlich eine gerechte Entlohnung stattfinden muss.

Die Ausbildungsplatzumlage ist in Sachsen bereits einmal vor Gericht gescheitert. Dies jetzt wieder zu fordern wäre sinnlos.

Eine weitere Forderung Ihrerseits ist die unverzügliche Umsetzung des Landespflegegesetzes. Aber hier möchte ich in Erinnerung rufen: Was kann das Landespflegegesetz überhaupt leisten? – Das Landespflegegesetz dient zur Konkretisierung der bundesrechtlich geregelten Pflegeversicherung und regelt insbesondere die Investitionskostenfinanzierung, die kommunale Pflegeplanung sowie die Beratungsangebote. Dies ist bereits untergesetzlich abgedeckt. Die kommunale Ebene ist sich dieser Verantwortung bewusst und setzt diese entsprechenden Planungen auch um.

Man kann auch Beispiele nennen, so die Stadt Leipzig. Die Stadt Leipzig hat den dritten Altenhilfeplan im März dieses Jahres verabschiedet. Das ist auch richtig. Die Kommune weiß am besten, was vor Ort wichtig ist, und kennt die regionalen Besonderheiten.