Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich gehe davon aus, dass unsere Demokratie so wehrhaft ist, um unsere Kinder vor gewalttätigen Nazis zu schützen.
Liebe Koalitionäre, Sie haben sich heute, glaubt man dem Titel, zwei Megathemen herausgesucht – den Kinderschutz und die Bildung der Kinder. Doch Sie handeln diese beiden riesigen Themen in nur einer einzigen Aktuellen Debatte ab. Das spricht für Oberflächlichkeit und nicht für Tiefgang. Zu diesem Thema könnte man stundenlang reden, leider bleiben mir nur fünf Minuten.
Ich war entsetzt, als ich Anfang dieses Jahres die Ergebnisse einer von mir gestellten Kleinen Anfrage zum Thema „Kindesmisshandlungen, Kindesvernachlässigung“ bekam. 769 Kinder in Sachsen sind im Jahr 2006 Opfer von sexuellem Missbrauch geworden. Zudem wurden 108 Fälle von Verletzungen der Fürsorge- und Erziehungspflicht registriert. 29 Kinder mussten aufgrund von Misshandlungen stationär behandelt werden oder erlitten Verletzungen mit bleibenden Folgen.
Sehr geehrte Damen und Herren, das sind die strafrechtlich erfassten Daten. Die Vernachlässigung und Miss
handlung von Kindern dürfte aber weitaus größer sein. Es gibt immer noch zu viele Fälle, die nicht entdeckt und nicht verfolgt werden und wo Kinder weiter unter Misshandlungen leiden müssen.
Wir sind deshalb alle aufgefordert, hinzuschauen und auch zu melden, wenn Kindern Leid angetan wird. Wir dürfen und wir müssen auch einmal Behörden auf die Finger klopfen, wenn ein Fall nicht ausreichend verfolgt wird. Wir alle müssen Zivilcourage zeigen.
Doch das allein wird nicht reichen. Man darf nicht nur hinschauen und predigen, sondern muss als Politiker auch selbst tätig werden. Modellprojekte, Bürgermeistertreffen und Sonntagsreden reichen da mit Sicherheit nicht aus. Wo sind die konkreten Unterstützungen für die überlasteten sozialen Dienste? Wo sind die verbesserten Rahmenbedingungen für den Kinderschutz? Wie erfolgt beispielsweise die Durchsetzung von § 8a des Sozialgesetzbuches VIII, welcher zum Schutz der Kinder den Informationsfluss zwischen Kitas und Jugendämtern gewährleisten soll? Die entsprechenden vorgeschriebenen Vereinbarungen sind nicht überall abgeschlossen worden. Hierzu sollte, denke ich, das Sozialministerium endlich in seiner Rechtsaufsicht tätig werden. Das Sozialministerium hat ja die Daten.
Es gibt weitere Versäumnisse. Die Untersuchungen in den Kitas durch den Kinder- und Jugendärztlichen Dienst haben weitere Lücken. Hier wird ein Gesetz, welches dem Schutz der Kinder dienen soll, nicht erfüllt. Sicherlich ist es schwierig, Personal zu finden, aber es gibt nun einmal Gesetze für den Schutz der Kinder. Wenn diese nicht umgesetzt werden, bleiben das alles nur leere Worte.
Außerdem liegt derzeit ein Gesetzentwurf der Staatsregierung zur Schwangerschaftskonfliktberatung vor. Es hat eine Anhörung dazu stattgefunden. Liebe Staatsregierung, ich habe selten ein Gesetz gesehen, welches so abgewatscht wurde, das Landeserziehungsgeldgesetz permanent einbegriffen. Möchten Sie dazu Beispiele hören?
Es wurde gerügt, dass „wohnortnah“ so definiert wird, dass eine Beratungsstelle innerhalb eines Tages mit dem ÖPNV erreichbar sein muss. An einem Tag! Es wurde gerügt, dass die Vernetzung der Beratungsstellen nicht in den zu berücksichtigenden Aufwand einbezogen wurde. Sehr geehrte Damen und Herren der Staatsregierung, haben Sie Ihrem Ministerpräsidenten denn nicht zugehört, der eine bessere Vernetzung zum Schutz der Kinder forderte? Ich hoffe, dass die Koalition das Gesetz nachbessern wird.
Nun zum letzten Versäumnis der Staatsregierung – oder sollte ich besser „Verwirrspiel“ sagen? –, den verpflichtenden Vorsorgeuntersuchungen. Das Thema ist heute von Frau Schwarz und von Frau Nicolaus bereits genannt worden. Es begann schon im Jahr 2006. Damals hat der Landtag auf Antrag von CDU und SPD beschlossen, die Untersuchungen verpflichtend zu machen. Dann, viele Debatten später, Ende des letzten Jahres, sprach sich
Um eines klarzustellen: Diese Meinung kann man haben, aber wenn man wenig später, Anfang dieses Jahres, nach dem Kinderschutzgipfel des Ministerpräsidenten mit den Kommunen davon redet, dass es doch so etwas wie eine verpflichtende Untersuchung geben soll, weiß ich nicht mehr, was die Staatsregierung jetzt nun eigentlich will. Frau Orosz, Sie haben sich mehrmals gegen gesetzliche Regelungen gewandt und jetzt steht plötzlich ein klares „Jein“ im Raum. Ich möchte heute wissen, wie die Staatsregierung dazu steht.
Meine Damen und Herren, meine Redezeit ist in Kürze abgelaufen. Lassen Sie mich das Thema Bildung wenigstens noch kurz streifen. Um unsere Kinder zu bilden, brauchen wir qualifiziertes Erzieherpersonal. Während der Zeit der Qualifizierung der Erzieher dürfen die Kinder aber nicht in überfüllten Gruppen abgestellt werden. Also, sehr geehrte Mitglieder der Staatsregierung, denken Sie doch bitte auch einmal über den veränderten Personalschlüssel nach, sonst geht das gut Gemeinte an der jetzigen Kindergeneration vorbei.
Ich könnte und würde gern noch mehr sagen. Ich hoffe, dass wir diese Diskussion bald anhand eines Sachantrags oder eines Gesetzentwurfs fortsetzen können, damit wir nicht nur reden, sondern im Interesse unserer Kinder vorankommen können.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich will in meiner Rede einen anderen Aspekt aufgreifen und darüber sprechen, dass Kinder verlässliche Beziehungen und verlässliche Strukturen brauchen. Als in Hamburg ein Fall bekannt wurde, in dem ein kleiner Junge in der vermüllten Wohnung seiner drogenabhängigen Mutter mehrere Tage alleingelassen wurde, brachte der Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Eppendorf das Problem auf folgenden Punkt:
„Das Chaos in den Beziehungen ist viel schlimmer als das Chaos in der Wohnung. Das Chaos in der Wohnung ist oft nur Ausdruck für das Chaos in den Beziehungen. Es ist aber das Chaos in den Beziehungen, das Kinder am tiefsten und am nachhaltigsten traumatisiert.“
Liebe Kolleginnen und Kollegen! In der Regel haben auch schon die Eltern, die ihre Kinder nicht angemessen versorgen können, als Kind ein solches Beziehungschaos erlebt. Nicht wenige von ihnen wurden aus ihren Familien genommen und in Kinderheimen untergebracht, und auch dort haben sie viele Beziehungsabbrüche erlebt, obwohl das Haus geordnet war. Kinder und Eltern brauchen
daher, wenn sich etwas ändern soll, neue Erfahrungen, müssen völlig neu lernen, und sie brauchen verlässliche Beziehungen und verlässliche Strukturen.
Unsere Verantwortung in der Landespolitik ist es, diese Verlässlichkeit zu garantieren. Das gilt sowohl für den Kinderschutz im engeren Sinne von Frühwarnsystemen und Intervention als auch für die Frühprävention durch gezielte Angebote an die Eltern mit bekannten Problemen, um diesen Kreislauf von Gewalt und Vernachlässigung zu durchbrechen. Das heißt für uns:
Erstens. Die Verlässlichkeit von professionellen Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere der Hilfesysteme für Familien in schwierigen Lebenslagen, müssen wir sichern.
Viertens. Die Schnittstellen zwischen den Angeboten des Gesundheitswesens und der Kinder- und Jugendhilfe sind zu finanzieren. – Von Vorsorgeuntersuchungen war schon die Rede und ich gehe später noch einmal darauf ein.
Fünftens. Die Schnittstellen zwischen Bildungseinrichtungen wie der Schule und der Kinder- und Jugendhilfe müssen überbrückt werden und die Finanzierung muss auch an dieser Stelle sichergestellt werden.
Ich möchte Ihnen ein Beispiel nennen. Wenn Frauen mit oder ohne Drogenmissbrauch nach der Entbindung in eine Depression fallen und daher keine Beziehung zu ihrem Kind aufnehmen können, dann kommen sie heute in Kliniken, die Kinder bisher zumeist nicht. Das wird nämlich von den Krankenkassen nicht finanziert. Wichtig wäre aber, die Kinder nicht nur mit in der Klinik zu haben, sondern den Müttern genau an dieser Stelle zu helfen, die Beziehung und die Bindung zu ihrem Kind herzustellen –
Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Pro Kind“ in den fünf Modellregionen in Sachsen ist ein spezielles Angebot an junge Frauen, die ihr erstes Kind erwarten und vielfältige weitere Probleme haben. „Pro Kind“ ist ein Angebot und wie Sie wissen, haben wir auch das „Netzwerk Kinderschutz“, das zur Zeit aufgebaut wird. Frau Schwarz hat dazu schon etwas gesagt. „Pro Kind“ als ein Angebot ist aber kein Ersatz für andere Angebote an Familien, die vielleicht in schwierigen sozialen Verhältnissen leben oder eben schon ihr viertes oder fünftes Kind erwarten. Dafür genau ist „Pro Kind“ nicht geeignet, da muss etwas anderes her, zum Beispiel das Netzwerk und in diesem Zusammenhang Familienhebammen. Das sind ergänzende Angebote und nicht etwa ersetzende. Damit beide Angebote – oder noch mehr – gute und wirksame Angebote sind, brauchen sie auch beide eine gute fachliche Fortbil
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eines ist klar: Diese Arbeit erfordert einen hohen, auch emotionalen Einsatz und sehr viel Geduld und das können wir in gewisser Weise gar nicht alles bezahlen. Da brauchen wir Menschen, die das Gefühl haben, dass ihre Arbeit gewollt ist und dass sie auch von der Politik anerkannt und getragen wird.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Neubert, ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass Sie ein bisschen neidisch sind auf unsere Kandidatin für die Oberbürgermeisterkandidatur in Dresden.
Das kann ich auch gut verstehen, weil sie beliebt ist, weil sie engagiert ist und weil Sie wahrscheinlich niemanden dagegenstellen können.
Ansonsten ist Ihr Beitrag auch etwas dünn gewesen – so darf ich das wohl mal ausdrücken – bezüglich dessen, was Sie hier gebracht haben, um Kinderschutz umzusetzen. Dazu habe ich fast nichts gehört.
Sie haben bemängelt, dass die Untersuchungen im vierten Lebensjahr in den Kindertagesstätten noch nicht in Gänze vollzogen werden. Das wissen wir, dort haben wir ein Problem. Wir arbeiten aber daran. Es geht jedoch nicht nur um die Untersuchungen im vierten Lebensjahr. Die Vorsorgeuntersuchungen gibt es generell von den Kassen und damit bei den ambulanten, den niedergelassenen Ärzten. Diese Untersuchungen können alle Eltern wahrnehmen und sie können auch einmal öfter hingehen. Das will ich noch einmal klar betonen, sonst bleibt vielleicht der Eindruck bei den Besuchern, bei den Zuhörern, dass man überhaupt keine Möglichkeit hätte, seine Kinder untersuchen zu lassen. Dem ist nicht so.