Aber bereits auf die Frage nach der Anzahl der in den Jahren 2000 bis 2006 nach Schleswig-Holstein gekommenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge kann die Landesregierung keine belastbaren Zahlen vorlegen. Die im Bericht aufgeführten
Zahlen stammen teilweise aus der Erinnerung langjähriger Mitarbeiter der Ausländerbehörden. Einige Behörden konnten gar keine Zahlen zur Verfügung stellen. Wir wissen also eigentlich gar nicht, wie viele unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sich aktuell oder in den letzten Jahren in Schleswig-Holstein aufhalten beziehungsweise aufgehalten haben.
Kryptisch fällt auch die Antwort auf die Frage nach dem angestrebten Aufenthaltsstatus der nach Schleswig-Holstein gekommenen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge aus. Auch die Nachfrage zu den Planungen der Landesregierung zur gezielten Familienzusammenführung bringt dem Leser des vorliegenden Berichtes lediglich die Erkenntnis, das solche Planungen nicht existieren.
Insgesamt erweckt der Bericht den Eindruck, es gebe keine lösungsbedürftigen Probleme im Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Aus diesem Grund hält beispielsweise der Flüchtlingsbeauftragte des Landtages diesen Bericht für unbefriedigend. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Organisationen wie der Flüchtlingsrat und hier insbesondere der Vormundschaftsverein „lifeline“ in einer ersten Stellungnahme zum Bericht vielfältige Kritikpunkte vorbringen.
So wird von „lifeline“ kritisiert, dass im Bericht die Anzahl der Jugendlichen nicht erwähnt wird, die zur Sicherung der Abschiebung in der JVA Neumünster untergebracht worden sind. Dabei handelt es sich nach Angaben von „lifeline“ um 20 Jugendliche im Jahr 2005 und um 10 Jugendliche im Jahr 2006. Dass man im Bericht darüber nichts erfährt, ist auch kein Wunder, denn nach Aussage von „lifeline“ wurden diese unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge dem Jugendamt Neumünster bis vor Kurzem nicht zur Inobhutnahme gemeldet. Letztlich stellen diese „Inhaftierungen“ nicht die vom Sozialgesetzbuch gewollte Inobhutnahme dar.
Dies wird auch vom Flüchtlingsbeauftragten in einer Stellungnahme zum Bericht kritisiert, der auf den rechtlichen Konflikt zwischen Ausländerrecht einerseits und Kinder- und Jugendhilferecht andererseits hinweist und eine Änderung des Erlasses des Innenministeriums vom 20. Dezember 2002 fordert. Er schlägt vor, Jugendliche künftig grundsätzlich in einer hierfür geeigneten Einrichtung in Obhut zu nehmen und insbesondere die ausländerrechtlichen Verfahren aus dieser Inobhutnahme heraus zu betreiben.
Für die in der JVA Neumünster untergebrachten Jugendlichen hält „lifeline“ darüber hinaus Folgendes fest: Es gab für sie kein Clearingverfahren, keine
Regelung der gesetzlichen Vertretung, also der Vormundschaft, und es wurde auch kein Rechtsbeistand im Sinn der UN-Kinderrechtskonvention zur Verfügung gestellt.
Die Flüchtlingsorganisationen nehmen besorgt zur Kenntnis, dass seit 2004 immer mehr und immer wieder unbegleitete minderjährige Flüchtlinge untergetaucht sind. Sie schlagen deshalb vor, ein speziell auf diese Zielgruppe abgestimmtes Clearingverfahren einzurichten, das ein Untertauchen dieser Jugendlichen verhindern und vermeiden hilft. Sind diese Jugendlichen erst einmal untergetaucht, haben sie auch keinen Zugang zu jeglicher Art von Hilfsangeboten und Unterstützung. Dieser Zustand ist aus unserer Sicht nicht hinnehmbar. Wir sollten das Thema daher im Ausschuss eingehend und genauer diskutieren, und zwar auch mit den genannten Instanzen, also mit „lifeline“ und mit unserem Flüchtlingsbeauftragten. Das ist, wie ich glaube, der richtige Umgang mit dem vorliegenden Bericht der Landesregierung.
Ich danke dem Herrn Abgeordneten Dr. Klug und erteile für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN der Frau Abgeordneten Monika Heinold das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem 1. Oktober 2005 schreibt das Kinder- und Jugendhilfegesetz des Bundes verpflichtend vor, dass ausnahmslos alle minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge in Obhut genommen werden müssen. Das Recht auf Inobhutnahme gilt für alle minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge, unabhängig von Nationalität, Einreisezweck oder Alter. Trotzdem kommt es in Schleswig-Holstein immer noch vor, dass unbegleitete Flüchtlinge zwischen 16 und 18 Jahren nicht in Obhut genommen werden, sondern in der Erstaufnahmeeinrichtung in Lübeck oder in der Abschiebehaft landen. Meine Damen und Herren, das ist nicht akzeptabel.
Eine Inobhutnahme dient dem Schutz der Jugendlichen. Sie sollen die Möglichkeit erhalten, sich in einem vertrauenswürdigen Umfeld zu stabilisieren. Ihre Situation soll geklärt werden. Möglichkeiten
Gleichzeitig ist es das Recht des Flüchtlings, dass ihm oder ihr unverzüglich ein Vormund, Pate oder Pfleger unterstützend zur Seite gestellt wird. Es ist weder angemessen noch rechtlich vertretbar, wenn einzelnen Jugendlichen dieses Recht verwehrt wird.
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge befinden sich in einer sozial und kulturell isolierten, in einer heimatlosen Situation. Sie sind allein, einsam, hilflos, schutzlos, häufig traumatisiert und verstehen weder unsere Sprache noch unsere Kultur. Es ist unredlich, diesen jungen Menschen einen Erwachsenenstatus zuzuschreiben, den sie gar nicht haben, weder rechtlich noch psychisch
auch wenn die Altersermittlung manchmal schwierig ist und wenn es Situationen geben kann, in denen die Nichtnennung oder Falschnennung des Alters unzulässiger Weise als Schutz dienen soll.
Unabhängig von dem Recht der minderjährigen Flüchtlinge auf Inobhutnahme muss geklärt werden, wieso der Flüchtlingsbeauftragte, die Anstaltsbeiräte und der Vormundschaftsverein „lifeline“ in ihren Stellungnahme zu ganz anderen Fallzahlen kommen als die Kreise. 20 Jugendliche im Jahr 2005 und zehn Jugendliche in 2006 - so „lifeline“ -, die in Abschiebehaft gekommen sind, sind keine Kleinigkeit.
Im Bericht der Landeregierung, gespeist aus den Angaben der Ausländerbehörden und Jugendämter der Kreise, tauchen diese Jugendlichen nicht auf. Die Landesregierung wäre sicherlich gut beraten, wenn sie gemeinsam mit den Kreisen und kreisfreien Städten - Herr Wengler hat das ja ausgeführt eine einheitliche Grundlage erarbeitet, um zukünftig vollständige und vergleichbare Daten zu haben und sich auf ein Verfahren zu verständigen.
Zumindest diese Probleme gibt es für den Altersbereich der unter 16-Jährigen nicht. Bisher ist zum Glück niemand auf die Idee gekommen, einen 14-Jährigen in Abschiebehaft zu schicken. Allerdings fehlt auch bei den jüngeren Flüchtlingen ausreichende Transparenz. Durch die unterschiedliche Handhabung der Jugendämter gibt es weder einen Überblick über die eingeleiteten Jugendhilfemaßnahmen noch über die Entwicklung des Aufenthaltsstatus.
Dadurch, dass die Zuständigkeit für Inobhutnahme und Jugendhilfemaßnahmen allein beim örtlichen Jugendamt liegt, besteht auch keine Fachaufsicht durch das Landesjugendamt. Umso schwieri
ger ist es, im Interesse der minderjährigen unbegleiteten Flüchtlinge eine landesweit einheitliche und rechtskonforme Praxis zu entwickeln.
Ich danke meinem Kollegen Lars Harms vom SSW, dass er mit seiner parlamentarischen Initiative diese Debatte angestoßen hat. Diese Debatte ist noch lange nicht beendet. Ich nehme einmal den aktuellen Brief des Flüchtlingsbeauftragten, den er an die FDP, aber auch an uns geschickt hat. Darin nimmt der Flüchtlingsbeauftragte sehr deutlich Stellung zum Bericht der Landesregierung:
„Ich empfinde den Bericht der Landesregierung als unbefriedigend. Es wird erneut von dem Innenministerium der Eindruck erweckt, dass es keine lösungsbedürftigen Probleme gebe.“
So die Kritik des Flüchtlingsbeauftragten, die wir mit Sicherheit ernst nehmen müssen. Insofern ist der Vorschlag der FDP richtig - ich glaube, es war die FDP -, im Fachausschuss auch den Flüchtlingsbeauftragten dazu zu hören.
Wir werden im Fachausschuss gemeinsam mit den kommunalen Landesverbänden weitere Schritte überlegen müssen. Natürlich nehmen wir das Votum des Landesjugendhilfeausschusses dazu ernst. Es geht um die Fragen: Wie kann man ein einheitliches Verfahren machen? Brauchen wir eine Clearingstelle? Brauchen wir eine Einrichtung für Schleswig-Holstein? Mir persönlich ist es lieber, die Jugendhilfestrukturen zu nutzen, die es im Land gibt. Das scheint mir der soziale verträglichere Weg zu sein.
Ein abschließender Satz: Kinder und Jugendliche, die, aus welchen Gründen auch immer, ohne Eltern in einem fremden Land, in einer fremden Kultur gelandet sind, brauchen unsere Unterstützung.
Ich danke der Frau Abgeordneten Monika Heinold und erteile für einen weiteren Beitrag dem Innenminister, Herrn Dr. Ralf Stegner, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mich nach dem Beitrag des Kollegen Harms zur Wort gemeldet. Ich möchte mit dem letzten Satz beginnen, den Frau Heinold hier gesagt hat. Ich teile ihn ausdrücklich. Deswegen will ich zurückweisen, dass die Realität in einer Art und Weise beschrieben wird, die nicht stimmt.
Erstens ist es so, dass in der Tat alle Anspruch darauf haben, aufgenommen zu werden. Das geschieht übrigens auch. Das Entscheidende für mich ist nicht, dass wir Statistiken anfertigen, sondern dass die Betroffenen aufgenommen werden. Gerade weil es keine Inhaftnahme ist, Herr Kollege Dr. Klug, passiert es immer wieder, dass in der Tat auch Jugendliche untertauchen. Ich finde es bedauerlich, dass das so ist. Wir nehmen sie aber nicht in Haft. Insofern passiert es - wie übrigens auch bei deutschen Jugendlichen -, dass sie gelegentlich ausreißen. Das passiert nicht, weil wir ihnen die Hilfe verweigern wollen. Wir reden mit den Ausländerbehörden in der Tat darüber, dass das so gut wie möglich erfolgt. Da geht wirklich keiner unter. Deswegen möchte ich das zurückweisen. Die Realität, die Sie beschrieben haben, Herr Harms, ist jedenfalls nicht die in Schleswig-Holstein.
Das Zweite. Das war ein Vorwurf von Ihnen, Herr Dr. Klug. Es ist nicht so, dass Jugendliche durch Entscheidungen schleswig-holsteinischer Behörden in Abschiebehaft genommen werden. Im letzten Jahr gab es nicht einen einzigen Fall. Die beiden Fälle, die uns genannt worden sind, betrafen keine Jugendliche unter 18 Jahren, sondern Personen, die über 18 gewesen sind. Alle anderen kommen von der Bundespolizei.
Ich habe nicht nur dem Flüchtlingsbeauftragten, sondern auch Ihren Vertretern im Innen- und Rechtsausschuss gesagt, dass eine Weisungsbefugnis des schleswig-holsteinischen Innenministers über die Bundespolizei im Augenblick nicht besteht. Es ist, glaube ich, auch nicht vorgesehen, dass das geschieht. Insofern bitte ich darum, auch diejenigen, die zu kritisieren sind, zu kritisieren. Die Landesregierung lässt sich daran messen, dass wir humanitäre Spielräume gelten lassen wollen und die Kinder und Jugendlichen so gut betreuen, wie es irgend geht. Ich weise den Vorwurf wirklich zurück.
Wir müssen gemeinsam alles tun, was möglich ist. Bitte nicht ein Bild zeichnen nach dem Motto: Es gibt die Guten, die wollen etwas tun, und es gibt das Innenministerium, das sich gar nicht kümmert, nichtssagende Berichte gibt und nichts ändern will. Das ist falsch. Das geht auch ein Stück gegen meine Ehre. Deswegen will ich das hier so deutlich sagen. Wir alle müssen etwas dafür tun.
Ich wünsche mir übrigens andere ausländerrechtliche Regelungen. Die scheitern nun weiß Gott nicht an Schleswig-Holstein. Wir reden mit dem Bundesinnenminister auch über das, was die Bundespolizei betrifft. In Schleswig-Holstein finden Sie nicht einen einzigen Fall, in dem ein Jugendlicher in Ab
schiebehaft genommen wird. Das ist nämlich die allerletzte und schlechteste Möglichkeit. Das passiert bei uns nicht. Das festzustellen, darauf lege ich hier großen Wert.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Innenminister, eigentlich war es gar nicht meine Absicht, den Laden so aufzumischen. Wenn man mir genau zugehört hat, hat man gehört, dass ich es bedauert habe, dass Sie nicht in der Lage waren - das habe ich nicht kritisiert, sondern bedauert -, die Daten zu bekommen, die wir alle uns gewünscht haben. Ich habe die Tatsache bedauert, dass wir alle nicht wissen, wie viele Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren sich unbegleitet im Land aufhalten. Ich habe bedauert, dass diese Kinder und Jugendlichen je nach Standort unterschiedlich behandelt werden. Das betrifft insbesondere die Jugendlichen zwischen 16 und 18 Jahren. Das ist das, was ich kritisiert habe. Damit wollte ich nicht Sie kritisieren. Wenn Sie die Rede nachlesen, werden Sie auch merken, dass ich Sie nicht kritisiert habe.
Ich habe sehr wohl gehört, dass alle Kollegen und auch Sie als Minister deutlich gemacht haben, dass Sie ein Interesse daran haben, dass wir eine einheitliche Lösung hinbekommen. Wenn wir das hinbekommen, hat der Antrag sein Ziel erreicht und dann bin ich sehr glücklich.
Herr Abgeordneter Harms, eine kleine Orientierungshilfe: Wir befinden uns hier nicht in einem Laden, sondern im Parlamentssaal des SchleswigHolsteinischen Landtags.
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe damit die Beratung. Es ist beantragt worden, den Bericht der Landesregierung Drucksache 16/1622 dem Innen- und Rechtsausschuss zur abschließenden Beratung -
(Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Wir müssen diesen Antrag im Sozial- ausschuss behandeln, weil es um Jugendliche geht!)