Protocol of the Session on February 22, 2006

Eine wesentliche Konsequenz der Reformpläne wäre nämlich die Aushebelung der Regionalisierung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung. Eine Integration der regionalen Sozialversicherungsträger in ein bundesdeutsches System würde für den Norden eine relative Schlechterstellung mit sich bringen. Warum? - Wir sind eben anders strukturiert als die süddeutschen Bundesländer. Bei uns sind die Beiträge deutlich günstiger als woanders. Die Belastung würde im Falle einer Integration vor allem auf die Beitragszahler verschoben werden. Es handelt sich hierbei um Faktoren, die man in der Debatte berücksichtigen muss. Wir werden unsere schleswig-holsteinischen Interessen intensiv einbringen.

(Lars Harms)

Wir müssen darüber hinaus mit einigen nicht unerheblichen technischen Problemen rechnen. Das betrifft zum Beispiel die Beitragsbemessung und die Integration selbstständiger Landwirte in eine Angestelltenversicherung. Aber Landwirte sind nun einmal Unternehmer, nicht Arbeitnehmer oder Angestellte. Auch können die Altenteiler nicht mit den Rentnern gleichgesetzt werden, weil das Altersgeld bekanntlich nur eine Teilsicherung neben dem Altenteil ist.

Vergessen dürfen wir an dieser Stelle auch nicht die Errungenschaften der Betriebs- und Haushaltshilfe oder die Altersabsicherung der Bäuerinnen, um die die Landfrauen in all den Jahren sehr stark gekämpft haben.

Ich sage noch einmal: Es ist ganz wichtig, dass wir bei den anstehenden Beratungen die Vorteile des jetzigen Systems und insbesondere die Errungenschaften, die wir aufgrund unserer Vorteile in Schleswig-Holstein erreicht haben, nicht auf einem Gemeinschaftsaltar opfern. Aber noch einmal: Die Debatte beginnt erst, und wir werden uns dort in dieser Hinsicht einbringen.

(Beifall bei CDU und SPD)

Ich danke dem Minister Dr. von Boetticher. Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich schließe die Beratung.

Es ist beantragt worden, den Antrag Drucksache 16/585 federführend dem Umwelt- und Agrarausschuss, mitberatend dem Sozialausschuss zu überweisen. Wer dem so zustimmen will, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Dann ist es so beschlossen.

Ich rufe auf den Tagesordnungspunkt 24:

Landesbericht zur Armutsbekämpfung in Schleswig-Holstein

Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/595 (neu)

Änderungsantrag der Abgeordneten des SSW Drucksache 16/611

Antrag der Fraktionen von CDU und SPD Drucksache 16/615

Wird das Wort zur Begründung gewünscht? - Das ist nicht der Fall.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte zunächst um die Abstimmung über den Berichtsantrag. Ist

das Parlament willig und bereit, den Bericht der Landesregierung entgegenzunehmen?

(Zurufe: Ja, ja!)

- Wunderbar; danke schön.

Damit erteile ich das Wort für den Bericht der Landesregierung der Ministerin für Soziales, Gesundheit, Familie, Jugend und Senioren, Frau Dr. Gitta Trauernicht.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich tue das gern, obwohl ich einen Moment irritiert war, weil ich dachte, dass der Bericht erst beantragt werden soll, dann darüber beraten wird und ich dann beim nächsten Mal oder wann auch immer einen Bericht gebe. Aber ich fange gern an.

Der Landtag hatte im Jahre 1996 mit Drucksache 14/227 einen Berichtsauftrag über die Landesarmut an das damalige Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales gegeben. Dieser Landesarmutsbericht wurde in der Tagung des Landtages im September 1999 vorgelegt und an den Sozialausschuss verwiesen, der ihn einstimmig zur Kenntnis genommen hatte. Der Bericht wurde extern für 200.000 DM erstellt und umfasste immerhin 317 Seiten.

Es gab dann ein Anhörungsverfahren zum Landesarmutsbericht, das im Sozialausschuss im März 2001 ausgewertet wurde. Infolge dieser Auswertung fasste der Sozialausschuss auf Vorschlag des Abgeordneten Baasch den Beschluss, sich in der laufenden Legislaturperiode mit dem Themenschwerpunkt Schuldensituation von Privatpersonen in Schleswig-Holstein zu beschäftigen und bis zum Jahr 2003 darüber einen Bericht vorzulegen, was auch geschah.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema Armut ist also in Schleswig-Holstein keineswegs neu und es stellt sich die Frage, ob es überhaupt ein Erkenntnisdefizit gibt. Es hat sich damals allerdings gezeigt, dass eine differenzierte Betrachtung der sehr unterschiedlichen Lebenslagen verschiedener Gruppen den politischen Reflexionsgrad auf die Problematiken erhöht hat.

In der Folge gab es zum Beispiel den Bericht zur Situation von Familien und den Bericht über die Einkommens- und Vermögenssituation sowie das Gutachten zur Überschuldungsproblematik.

Parallel zu den Aktivitäten der Landesregierung, die, wie man feststellen kann, in den letzten Jahren

(Minister Dr. Christian von Boetticher)

bemerkenswert waren, entwickelte sich ein kontinuierlicher Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dessen Erkenntnisse wir natürlich heute auch in Schleswig-Holstein nutzen. So wurde am 2. März 2005 vom Bundeskabinett der Zweite Armuts- und Reichtumsbericht verabschiedet. Dieser Zweite Armuts- und Reichtumsbericht begreift Armut und Reichtum als Pole einer Bandbreite von Teilhabe- und Verwirklichungschancen. Der Bericht stellt fest, dass eingeschränkte Verwirklichungschancen und ein höheres Armutsrisiko auch durch unzureichende Ausbildung, fehlende Bildungsabschlüsse sowie einem erschwerten Zugang zur Erwerbstätigkeit bedingt sind. Das ist natürlich für uns alle auch nicht neu, dass Armut im Regelfall von der Erwerbslosigkeit begleitet wird beziehungsweise darin sogar ihre Ursache hat.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch stärker als zur Zeit des Landesarmutsberichts im Jahre 1999 verschiebt sich die aktuelle Armutsdebatte - das zeigt auch dieser Bundesbericht - auf die Fragen von Bildung, sozialer Entwicklung, Partizipation und kultureller Identifikation. Armut hat insofern viele Gesichter. Defizite in der Essensversorgung produzierten Übergewichtigkeit oder andere Ernährungsstörungen, Zahnkrankheiten, schlichtweg Erkrankungen; deswegen sind arme Menschen kränker als andere Menschen. Armut zieht sich in den preisgünstigen Wohnraum zurück. Das führt zu Ghettobildung in benachteiligten Wohngebieten. Kinder mit so genannter schlechter Adresse haben zudem mit Überfüllung und gleichzeitigem Mangel an Freizeiträumen zu tun. Soziale Kontakte werden aus Schamgefühl reduziert. Bildungsferne Eltern haben häufig auch sozial-emotionale Defizite, die ein brüchiges Selbstwertgefühl bei den Kindern erzeugen. Bildungsund Lebenschancen können durch permanenten Geldmangel oder auch durch Geldverschwendung an falscher Stelle nicht genutzt werden. Kinder und Jugendliche - auch das ist ein Gesicht von Armut - aus armen Elternhäusern kennen praktisch keine fernen Länder. Sie nehmen selten an Schüleraustauschprogrammen teil. Sie verfügen über wenig Erfahrungen mit Ausflügen, Reisen, Sprachen, fremden Kulturen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, manche verquarste Weltanschauung von Jugendlichen hat gerade darin ihren Grund, weil die Welt nicht angeschaut werden konnte. Falls dann der Wirtschaftsaufschwung kommt, können diese Kinder und Jugendlichen daran nicht teilnehmen; denn ihnen fehlen für eine wissensbasierte Volkswirtschaft die elementarsten Voraussetzungen. Wohlstand und Bildung sind heute weitgehend deckungsgleiche Begriffe.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eines wird damit klar: Wir haben es heute mit einer sehr komplexen Thematik zu tun, wenn wir über Armut reden. Allein deshalb gibt es auch keine einfachen Antworten. Die sich langsam, aber kontinuierlich gebildete Armutswirklichkeit braucht heute auch mehr als Geld. Sie braucht unser ernsthaftes politisches und gesellschaftliches Engagement. Wir merken es in Schleswig-Holstein, dass es dieses gibt. Die „Tafeln“ sind nur ein Beispiel dafür.

Ich halte es deshalb für zwingend geboten, sich vor dem Hintergrund der öffentlichen Entwicklung und Diskussion und der zunehmenden Sensibilisierung auch in unserem Land differenziert eines Schlüsselthemas anzunehmen. Das Schlüsselthema heißt für mich Kinderarmut.

Statt umfangreicher und teurer Berichte bin ich dafür, die Aktivitäten und Arbeitsvorhaben der unterschiedlichen Einrichtungen und Initiativen zu vernetzen, in der Bevölkerung zu verankern und die Prozesse zu steuern. Ich stimme deshalb dem Antrag der Regierungsfraktionen zu. Mein Ministerium wird in der nächsten Tagung, so dies hier beschlossen werden sollte, einen mündlichen Bericht zur Kinderarmut im März hier im Landtag abgeben.

(Beifall bei SPD und CDU)

Ich danke der Frau Ministerin und eröffne die Aussprache. Das Wort für die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat die Frau Abgeordnete Monika Heinold.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Uns liegen drei unterschiedliche Anträge vor. Wir haben den Antrag gestellt, dass die Landesregierung in der heutigen Sitzung berichten möge, wann die Landesregierung eine Berichterstattung über die soziale Lage der Bevölkerung in Schleswig-Holstein vorlegen wird. Wir hatten keinen Landesarmutsbericht beantragt, um das noch einmal deutlich zu machen. Das ist der SSW-Antrag. Wir haben gesagt, dass die 50.000 €, die schon in den Haushalt eingestellt sind und der Landesregierung genau für diesen Bericht durch das Parlament zur Verfügung gestellt worden sind, auch dafür genutzt werden. Wir begrüßen die Initiativen, die die Sozialverbände gegen Kinderarmut gemeinsam gestartet haben. Den Teil haben ja auch CDU und SPD mit in ihren Antrag aufgenommen. Insofern jetzt keine Behauptung, ich würde große Berichte, die viel Geld kosten, einfordern. Das wäre falsch.

(Ministerin Dr. Gitta Trauernicht)

Was haben CDU und SPD jetzt aus unserem Antrag gemacht?

Frau Abgeordnete, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Baasch?

Frau Kollegin, in der Begründung des Antrages, den die Abgeordneten von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN formuliert haben, wird gefordert, die im Einzelplan 10 vorgesehenen Mittel für die konzeptionelle Erstellung eines Landesberichts zur Armutsbekämpfung einzusetzen. Eben haben Sie noch gesagt, Sie wollten keinen Armutsbericht. Was zählt denn nun?

Sehr geehrter Herr Kollege Baasch, die Begründung wird niemals beschlossen, sondern es gibt einen Beschlusstext, der gilt.

Der Antrag von SPD und CDU hat mich etwas verwundert. Denn er ist eine bunte Mischung von Dingen, die wir schon vorher beantragt haben. Ich habe das in der letzten Sitzung schon einmal gesagt. Im Landesjugendhilfeausschuss hat das Familienministerium schon etwas darüber gestöhnt, dass von uns ständig Berichtsanträge kommen, die sich wiederholen. Sie fordern jetzt zum Beispiel erneut, dass über die Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen berichtet wird. Dazu haben wir in der letzten Sitzung einen Berichtsantrag beschlossen. Sie fordern erneut, dass über den Versorgungsgrad und das Ausbauvorhaben der Kinderbetreuung berichtet wird. Dazu werden wir hoffentlich nachher einen Berichtsantrag beschließen. Das haben wir heute Morgen behandelt. Sie fordern Berichtsanträge zu großen Bereichen: Jugendberatung, Familienpolitik, Erziehungsauftrag. Dazu gibt es mehrere Berichtsanträge von Ihnen, zu denen wir auf die Berichte warten, und es gibt eine Große Anfrage der CDU zur Familienpolitik.

Ich sage sehr deutlich: Als Opposition ist es nicht meine Aufgabe, die Regierung vor zu vielen Berichtsanträgen zu bewahren. Aber so, wie Sie das machen, jedes Mal neue Berichtsanträge zu beschließen, die sich doppeln, sodass die Regierung im Grunde nur noch Teile herauskopieren und neu zusammenheften muss, kann nicht die qualitative Arbeit in diesem Landtag ersetzen.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir möchten gern, dass die Landesregierung heute deutlich macht, wofür sie die 50.000 €, die im Titel „Berichte über die soziale Lage der Bevölkerung in Schleswig-Holstein“ des Landeshaushalts stehen, ausgeben möchte. Ich möchte gern, dass diese 50.000 € tatsächlich für eine Bewertung der sozialen Lage verwandt werden. Dabei ist natürlich die Initiative „Gemeinsam gegen Kinderarmut“ ein sehr starker Baustein und wenn die Landesregierung sagt, dass sie es genau dafür verwenden wird, dann bin ich hoch zufrieden.

Eben ist schon benannt worden, dass die Armut in Deutschland zugenommen hat, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinander klafft. Ich sage sehr deutlich: Ich bin auch absolut unzufrieden mit dem, was die rot-grüne Bundesregierung insoweit erreicht hat. Es ist bitter zu bilanzieren, dass es auch Rot-Grün nicht geschafft haben, aber es ist so. Auch wir haben es nicht geschafft, die Armut in Deutschland zurückzudrängen. Vielmehr fallen immer mehr Menschen in Deutschland in Armut. Erschreckend dabei ist, dass dies überwiegend Familien mit Kindern trifft, sodass in Deutschland inzwischen 15 % aller Kinder unter 15 Jahren in Armut leben.

Wenn wir über Armut diskutieren, dann müssen wir uns auch überlegen, welche Begrifflichkeit wir wählen. Die Weltbank definiert einen Menschen als arm, wenn er weniger als einen Dollar täglich zur Verfügung hat. Das ist existenzielle Armut. In Deutschland gilt ein Mensch als arm, wenn er weniger als 60 % des monatlichen mittleren Nettoeinkommens zur Verfügung hat. Das sind - auf der Datenbasis des Jahres 2000 - circa 900 € im Monat. Der aktuelle Armutsbericht der Bundesregierung legt diese Definition des Armutsbegriffs zugrunde. Er spricht von einer relativen Armut und er argumentiert, dass es in einer reichen Gesellschaft wie Deutschland, in einem Wohlfahrtsstaat, nicht um das reine Überleben gehen kann, wenn wir über Armut sprechen, sondern dass es um das soziokulturelle Existenzminimum geht, es geht um die Teilhabe am Leben, um gesellschaftliche Teilhabe.

Es ist wichtig, dies auch zu benennen, damit wir wissen, worüber wir reden. Gerade bei Familien mit Kindern wirkt sich auch sehr aus, ob eine Teilhabe möglich ist oder nicht, ob sie sich den Sportverein, das Schulbuch oder auch die Turnschuhe, die sie für die Schule brauchen, leisten können.

Wir haben - das ist alarmierend - in Deutschland inzwischen eine Struktur, bei der sich Armut in der dritten Generation verfestigt hat. Dies wirkt sich auf unser Bildungssystem aus. Das haben wir immer wieder auch miteinander diskutiert. Es gibt ei

(Monika Heinold)

ne neue Schicht mehrfach Benachteiligter. Während das so genannte oberste Zehntel der Bevölkerung 47 % des Vermögens besitzt, hat die untere Hälfte der Bevölkerung nur 4 % des Vermögens zur Verfügung. Hierbei ist wichtig, dass wir Armut und Reichtum, Vermögen und Verschuldung miteinander diskutieren. Vor ein paar Jahren haben mein Kollege Günter Neugebauer und ich noch gemeinsam einen Armuts- und einen Reichtumsbericht gefordert. Ich denke, es war richtig, diese beiden Themen gemeinsam zu beraten.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)