Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Schuljahr 2001/2002 haben Eltern für 352 Kindern an der Gesamtschule in Brachenfeld Aufnahme beantragt. Das sind rund 200 mehr, als die Schule aufnehmen konnte. An der Geschwister-Prenski-Schule in Lübeck konnten im Jahre 2001 bei 328 Anmeldungen 98 Schülerinnen und Schüler aufgenommen werden. Für dieses Schuljahr haben sich an dieser Lübecker Gesamtschule mehr als 420 Schülerinnen und Schüler um Aufnahme beworben.
Insgesamt waren im Jahre 2001 die Anmeldezahlen mit 4.118 bei möglichen Aufnahmen von 2.428 Schülerinnen und Schüler so hoch wie nie zuvor. Dieses Jahr gab es noch eine weitere Steigerung. Man ist durchaus geneigt, dies als die Erfolgsstory der Gesamtschule zu beschreiben, wenn wir nicht andere Probleme - auch die im Zusammenhang mit der PISAStudie - zu lösen hätten.
Einem Phänomen, das auch die PISA-Studie unserem Schulsystem insgesamt zuschreibt, nämlich der mangelhaften Chancengleichheit innerhalb des gegliederten Systems, begegnen die Gesamtschulen mit ihrem Konzept. Die Forderung nach einer Schule für alle Kinder ist aus diesen Gründen und nach den Ergebnissen der Studie durchaus nachdrücklich.
Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass in der Orientierungsstufe eine schulartübergreifende Kooperation nicht stattfindet. Die Orientierungsstufe beschreibt heute in den unterschiedlichen Schularten de facto die Schulartklassen fünf und sechs und die Möglichkeit der Aussortierung nach unten. Dass dies zu einem großen Anteil aufgrund der Nichtbeachtung der Schulartempfehlung zustande kommt, wollen wir hier gar nicht leugnen. Aber Eltern wollen bei der Entscheidung für die weiterführende Schule für ihre Kinder eine möglichst offene Chance haben, eine Chance für das Kind, dessen Leistungsverhalten sich im Laufe seiner Entwicklung durchaus anders darstellen kann, als es zum Beispiel im Schulgutachten vorhergesagt ist.
Dass dies an den Gesamtschulen funktioniert, zeigen die erreichten Abschlüsse: In den Gesamtschulen erreichen im Vergleich zu den Schulartempfehlungen die Schülerinnen und Schüler zu 30 % höhere Abschlüsse, als nach dem Grundschulgutachten zu vermuten ist.
Einem Argument, das immer wieder angeführt wird, sollten wir hier begegnen: den mangelnden Anteil an Gymnasialempfehlungen. Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, dass auch an den Realschulen viele sich für den Besuch der gymnasialen Oberstufe qualifizierten Schüler die Schule beenden.
Ansonsten hätten wir nicht die starken Fachgymnasien im Lande. Die Leistungsfähigkeit der Oberstufen an den integrierten Gesamtschulen wird wesentlich durch die Aspekte der schulartübergreifenden Kooperation bestimmt.
Die Ergebnisse der PISA-Studie lassen insbesondere aufgrund des Vergleichs mit den in der Rankingliste vor uns liegenden skandinavischen Staaten - Finnland, Schweden und Dänemark - mit ihren Einheitsschulen
bis zur Klasse neun den Ruf laut werden nach einer Reform unseres Bildungssystems in Richtung Gesamtschulen. Nun müssen wir feststellen, dass die skandinavischen Schulen die Einheitsschulen aus anderen Gründen vorhalten. Es sind vor allem die geografischen Bedingungen, die dünne Besiedlung und die riesigen Einzugsbereiche, die ein gegliedertes Schulwesen kaum zulassen. Die Ganztagsbetreuung der Schülerinnen und Schüler mit Beköstigung findet in Finnland und Schweden auch aus anderen Gründen statt.
Die Gesamtschulen sind aber auch aus diesem Grund Ganztagsbetreuung - zu ausgesprochenen Wunschschulen der Eltern geworden. Das machen die Anmeldezahlen sehr deutlich. Nach den Anmeldezahlen könnten wir in diesem Land 17 Gesamtschulen mehr gebrauchen. Dennoch ist der Weg zur Gründung einer Gesamtschule für den Schulträger ausgesprochen schwierig und mit vielerlei zu überwindenden Hürden versehen. Hier hat sich der Verfahrensweg in den vergangenen drei Jahrzehnten nicht geändert. Nach wie vor muss der Elternwille zum Besuch der Gesamtschule durch entsprechende schriftliche Dokumentation erklärt werden. Selbst unter solchen Voraussetzungen funktioniert der Gründungsvorgang nur, wenn sich nach den entsprechenden schulgesetzlichen Regelungen auch ein Schulträger findet. Dennoch haben wir in der letzten Zeit ein gestiegenes Interesse an der Gründung von Gesamtschulen zu verzeichnen. So wird mit Schuljahresbeginn 2003/2004 in Reinfeld eine siebenzügige kooperative Gesamtschule entstehen. Das ist schon die sechste im Kreis Stormarn.
Daneben prüfen die Gemeinden Tornesch und Kropp die Einrichtung einer kooperativen Gesamtschule. Die Stadt Bad Bramstedt prüft die Einrichtung einer integrierten Gesamtschule.
Der Stellenwert der Gesamtschule in SchleswigHolstein steigt stetig. Sie sind ein fester Bestandteil unseres Schulsystems geworden.
- Ich komme zum Schluss. - ´Die Gesamtschule wird ihre Position neben den dreigliedrigen Schulen in Zukunft ausbauen. Dies müssen auch konservative Bildungspolitiker zur Kenntnis nehmen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im November 1998 habe ich für einen Burgfrieden im Streit um die Schulform plädiert. Meine Forderung lautete damals wie heute: Statt sich in endlosen Streitigkeiten zwischen Gesamtschulbefürwortern und Anhängern des gegliederten Schulsystems zu verzetteln, sollte sich die Politik im Schulbereich auf ein wichtigeres Ziel konzentrieren, nämlich darauf, die Qualität der Bildung in den einzelnen Schularten und Schulen zu verbessern.
Meine Damen und Herren, diese von mir in SchleswigHolstein Ende 1998 erstmals in der Bildungspolitik vertretene Position hat in der Folgezeit manche Unterstützung erhalten, was mich sehr gefreut hat. Von Frau Erdsiek-Rave kam Unterstützung, aber in der Sache auch von Volker Rühe, dem damaligen Spitzenkandidaten der Union. Es hatte kurz vorher einen CDUProgrammentwurf gegeben, in dem noch von der eventuellen Schließung von Gesamtschulen im Falle eines Regierungswechsels die Rede war.
Machen wir weiter im Sinne dieses Burgfriedens! Wir sollten uns hier nicht wie bei den Grabenkämpfen früherer Jahre streiten.
Die Gesamtschulen stehen im Wettbewerb der Schularten. Dass es an den Gesamtschulen in unserem Land auch hier und da Probleme gibt, an denen gearbeitet werden muss, wird niemand ernsthaft bestreiten können. Allerdings wissen wir, dass es an manchen Schulen anderer Schularten auch Probleme gibt, an denen gearbeitet werden muss. So einfach ist die Sache. Es gibt nach wie vor trotz des Anstiegs der gymnasialempfohlenen Schüler an einzelnen der integrierten Gesamtschulen eine so starke Unterrepräsentanz dieser Gruppe von Schülern, dass es für die Arbeit an den dortigen Schulen schwierig wird.
Wir haben Probleme - das ist aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage, die ich unlängst gestellt habe, deutlich geworden - etwa in der Verteilung der Abiturfächer. Wenn zum Beispiel der Anteil der Schüler, die Französisch als Leistungskurs gewählt haben, an Gymnasien im dritten Kurshalbjahr 2000/2001 bei 5 % lag, bei den Gesamtschulen hingegen bei nur 0,6 %, dann sehen wir das Verhältnis im Bereich der zweiten Fremdsprache weit auseinander klafft. Ähnlich sieht es auch in den Naturwissenschaften aus, wenn an den Gymnasien knapp 6,5 % der angehenden Abiturienten Leistungskurse im Fach Physik wählen, an den Gesamtschulen aber nur zu 2,8 %, also weniger als die Hälfte.
Ich gebe Ihnen Recht, Frau Erdsiek-Rave, das Konzept der kooperativen Gesamtschule ist, wenn man denn eine Gesamtschule will, in vieler Hinsicht sehr viel attraktiver, weil es ja die Differenzierung in die einzelnen Schularten - Hauptschule, Realschule und Gymnasium - beibehält, beispielsweise in der kooperativen Gesamtschule Flensburg-Adelby, wo die Zusammenarbeit dann so eng miteinander verzahnt ist, dass der Wechsel von einer Schulart zur anderen leichter möglich ist. Das ist aus meiner Sicht ein durchaus interessantes Konzept.
Ich teile Ihre Einschätzung, dass die Ergebnisse der PISA-Studie vielleicht manche Eltern dazu bewogen haben, jetzt verstärkt an eine Anmeldung der Kinder an einer Gesamtschule zu denken. Das mag derzeit so sein, ich frage mich aber, ob es so bleiben wird, wenn Mitte des Jahres PISA - E, die Erweiterung für die Bundesländer - veröffentlicht werden wird. Wir wissen, dass die dann veröffentlichten Daten natürlich auch vor dem Hintergrund der Schulstrukturen in den einzelnen Bundesländern gelesen werden.
Ich nenne nur einen Punkt: In Sachsen gibt es keine einzige Gesamtschule beziehungsweise dort besuchen 0 % der Schüler Gesamtschulen; in Hessen sind es immerhin 47,5 % der Schüler. Die Schulstruktur ist inzwischen also von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich. Die Frage, ob die Einschätzung der Vorzüge des Gesamtschulmodells Mitte des Jahres noch genauso sein wird, sei also dahin gestellt.
Im Übrigen: Das dänische Schulwesen hat bei der Lesefähigkeit - das weiß Anke Spoorendonk sehr gut gerade einmal drei Plätze vor uns belegt. Bei den naturwissenschaftlichen Kenntnissen liegen die dänischen Schulen im Schnitt sogar noch zwei Plätze hinter den deutschen.
Die Grundaussage, ein Einheitsschulsystem sei prinzipiell besser, kann man gerade an den PISA-Daten das ist nun einmal so, wir haben es hier schon diskutiert - nicht ablesen, genauso wenig, wie daraus das Gegenteil hervorgeht, da es auch hervorragend funktionierende Gesamtschulsysteme in Skandinavien gibt.
Lassen Sie mich noch einen letzten Punkt nennen: Natürlich sind die Gesamtschulen in einem gewissen Umfang, Frau Kollegin Birk, auch Aufsteigerschulen; da gebe ich Ihnen Recht, nur können Sie dies eben nicht in absoluter Unterscheidung vom gegliederten Schulsystem wieder als ausschließlichen Vorzug der Gesamtschulen herausstellen.
Die Realschulen - um einmal dieses Beispiel zu nennen - sind in gleicher Weise Aufsteigerschulen; denn ein Fünftel der Realschulabsolventen besucht anschließend ein Fachgymnasium, erreicht also das Abitur oder die Fachhochschulreife. Auch das muss genannt werden.
Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir haben hier einen interessanten Bericht vorliegen, den wir schon angefordert hatten, bevor die ersten PISADaten vorlagen, der aber erst hier zur Debatte kam, nachdem wir schon etwas mehr über PISA wussten. Deshalb rufe ich auch PISA noch einmal in Erinnerung.
Die Chancen von Akademikerkindern, auf ein Gymnasium zu kommen, ist bei gleicher kognitiver Fähigkeit laut PISA 3,4-mal so groß wie bei Arbeiterkindern. Entscheidende Scharnierfunktionen für die Zurückstellungen haben häufig schon die Einschulungen und dann natürlich die Wahl der weiterführenden Schulen. Gleich kluge Kinder sind auf dem Gymnasium im Alter von 15 Jahren erheblich weiter - 59 Punkte mehr Lesekompetenz -, als wenn sie auf die Hauptschule gegangen wären.
Die Wahl der Gesamtschule erfolgt - auch das kann man für Schleswig-Holstein sagen - durchaus auch von Eltern aus bildungsferneren Schichten. Die Gesamtschule ist eine Aufsteigerschule. Ich will nicht in Abrede stellen, dass die Realschule dies zum Teil auch ist, aber unsere Kritik richtet sich ja gerade an den Anteil des Gymnasiums, an den Zug des Gymnasiums, weshalb wir hier leider häufig von einer Aussortieroder Absteigerschule sprechen müssen. Das ist eine Härte, die wir nicht wollen. Hier glauben wir, dass eine Schule für alle Kinder, so wie es beispielsweise in Finnland, aber auch anderen Ländern vorgesehen ist, der bessere Weg ist.
Nun aber zu den Ergebnissen hier: Die Gesamtschulen stehen in einem Wettbewerb. Sie sind nicht die eine Schule für alle Kinder, weil sie sich natürlich auch an den Leistungskriterien und im Schulalltag auch an dem 45-Stunden-Takt messen müssen wie alle anderen Schulformen auch. Es wird also immer noch das gegliederte Schulsystem zum Maßstab für den Erfolg der Gesamtschule genommen statt umgekehrt.
Wenn wir das als gegeben akzeptieren, ist es doch erfreulich zu sehen, dass immerhin 5 % der Kinder, die eine Hauptschulempfehlung hatten, aber auf die Gesamtschule kamen, das Abitur abgelegt haben.
Auch 48 % der Schüler mit Realschulempfehlung haben das Abitur abgelegt. Wir müssen uns über die Funktion der Grundschulgutachten noch einmal gründlich unterhalten; denn es kann nicht sein, dass sie als das Heilige gelten, wie es gerade von Herrn de Jager noch einmal deutlich vorgeführt wurde.
Meine Sorge ist, dass es, wenn die Grundschulgutachten für verbindlich erklärt werden, wie die CDU es will, zu einem Ansturm auf Gesamtschulen kommt, dem wir im Augenblick natürlich überhaupt nicht Rechnung tragen können.