Protocol of the Session on May 16, 2002

Die Fraktionen haben vereinbart, dass jetzt Tagesordnungspunkt 37 aufgerufen wird. Wir können einen Stundentagesordnungspunkt nicht mehr aufrufen; das ist nicht mehr möglich.

(Heinz Maurus [CDU]: Wo ist denn der In- nenminister? - Unruhe)

Meine Damen und Herren, wir können uns in dieser Situation nur helfen, wenn wir jetzt Tagesordnungspunkte ohne Aussprache aufrufen. - Herr Abgeordneter Kayenburg!

Die Tagesordnungspunkte ohne Aussprache sind erledigt. Meine Fraktion schlägt vor, dem Vorschlag des Kollegen Hay zu folgen und Tagesordnungspunkt 30 Entwicklung der Gesamtschulen - vorzuziehen.

Man scheint sich darauf verständigt zu haben. Ich stelle Tagesordnungspunkt 37 zunächst zurück und rufe erst einmal Tagesordnungspunkt 30 auf:

Entwicklung und Perspektiven der Gesamtschulen in Schleswig-Holstein

Landtagsbeschluss vom 13. Dezember 2001 Drucksache 15/1422

Bericht der Landesregierung Drucksache 15/1660

Zur Berichterstattung erteile ich jetzt der Frau Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur das Wort.

(Claus Ehlers [CDU]: Gesamtschulen haben keine Perspektive! - Heinz Maurus [CDU]: Jetzt ist der Innenminister da!)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege, es tut mir Leid, aber nun kommen Sie doch eine Minute zu spät.

(Heiterkeit und Beifall bei CDU und FDP)

Meine Damen und Herren, eigentlich sprechen die Schlagzeilen schon für sich. Ich zitiere: „Riesenrun auf die IGS“ - „Holsteinischer Courier“ vom 27. Februar - oder „PISA-Studie löst Ansturm auf Lübecks Gesamtschulen aus“ „LN“ vom 2. März -; und das waren keineswegs Sonderfälle, die ich hier zitiere. Landesweit übersteigt in diesem Jahr erstmals die Nachfrage nach Gesamtschulplätzen die vorhandenen Kapazitäten um ungefähr 50 %. Bisher waren es 40 %. In diesem Schuljahr besuchen rund 16.400 Schülerinnen und Schüler eine der 23 Gesamtschulen. Das sind 8 %. Mit 4.628 Schülern liegt die Zahl der Anmeldungen für das kommende Schuljahr um 438 höher als im letzten Jahr. Das sind die absoluten Zahlen.

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

Auffallend ist die 50-prozentige Steigerung bei den gymnasialempfohlenen Schülerinnen und Schülern, deren Anteil in den Eingangsklassen sich damit auf 21 % erhöht hat. Ich finde, das ist eine positive Entwicklung. Das gestiegene Elterninteresse an Gesamtschulplätzen spiegelt sich auch bei den Schulträgern wider. Kropp und Tornesch - Bad Bramstedt hat inzwischen anders entschieden - sind interessiert an der Einrichtung von Gesamtschulen. Ich füge hinzu: von kooperativen Gesamtschulen. Das scheint ein neuer Trend zu sein. In Reinfeld nimmt bereits im nächsten Jahr eine neue kooperative Gesamtschule ihren Betrieb auf. Es ist so, Gesamtschulen sind aus pädagogischer Sicht für viele Eltern attraktiv, sie sind es aber auch aus schulplanerischer Sicht dann, wenn es um einen effizienten Lehrereinsatz und eine effiziente Schulraumnutzung geht. Ich sehe das so, wenn ich mir das Beispiel Kropp ansehe oder eben andere Initiativen zur Errichtung von kooperativen Gesamtschulen: Man möchte einen Standort erhalten und man möchte gerne ein gymnasiales Angebot auch da, wo es für ein eigenständiges Gymnasium nicht reicht. Dies ist legitim und nachvollziehbar, und deswegen denke ich, dass sich der Trend zu kooperativen Gesamtschulinitiativen noch verstärken wird.

Bei der Elternentscheidung spielt offenbar auch gerade seit Veröffentlichung des PISA-Berichts das ausgezeichnete Abschneiden von Ländern mit integrierten Schulsystemen eine Rolle. Das lesen die Eltern, das nehmen sie wahr und dementsprechend glauben sie ihre Kinder dort gut aufgehoben.

Meine Damen und Herren, Schulen sind generell keine festen Systeme, sie müssen flexible Lernorte sein, und ich meine das im Doppelsinne, also Orte, an denen man lernt, und Orte, die selbst lernen und sich weiter entwickeln. Diese Dynamik - das muss man wirklich anerkennend und lobend feststellen - gilt für Gesamtschulen ganz besonders. Die Bereitschaft zum Beispiel, sich an Modellversuchen oder innovativen Entwicklungen zu beteiligen, ist an Gesamtschulen ganz besonders ausgeprägt. Die guten Ergebnisse wirken sich dann auch auf Qualität, Standard und Erfolg des Unterrichts aus. Wir werden in anderem Zusammenhang noch darüber sprechen. Der ganzheitliche Bildungsbegriff führt zu einer sehr engagierten Elternbeteiligung. Auch das ist gesamtschultypisch. Es ist natürlich nicht so, dass das an anderen Schulen nicht der Fall wäre, aber das Elternengagement ist an den Gesamtschulen besonders hoch, übrigens auch in ganz praktischen Fragen, etwa dem Betreiben von Cafeterien und Mittagstischen und anderen Angeboten im Rahmen des Ganztagsbetriebes.

17 von 23 Gesamtschulen sind Ganztagsschulen. Dabei geht es den Eltern oft nicht nur um den Betreu

ungsaspekt, sondern auch um besondere Förderkonzepte. Die Schüler steigen ohne Sitzenbleiben auf. Eine entsprechende Diagnostik führt zur angemessenen Eingruppierung in das sehr ausdifferenzierte System.

Die umfangreiche Datenerhebung des vorgelegten Berichts macht deutlich, dass die Arbeit der Gesamtschulen keineswegs stattfindet in einer Art konkurrenzfreiem Schonraum. Das ist nicht der Fall, im Gegenteil, nach wie vor ist diese Schulform einem hohen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt.

(Zuruf des Abgeordneten Martin Kayenburg [CDU])

- Ja, natürlich, das wirkt sich im Grunde auch positiv aus, Herr Kayenburg. Das wirkt sich auf die Arbeit dort positiv aus, deswegen können sich die Gesamtschulen auch ohne Scheu dem gegliederten Schulsystem stellen. Die Leistungen können mithalten mit denen des dreigliedrigen Systems. Wenn Sie sich etwa die Ergebnisse der PISA-Studie ansehen, gibt es auch im dreigliedrigen System sehr viel Überschneidungen zwischen den Leistungen im oberen Segment der Realschulen und im unteren Segment der Gymnasien. Es gibt also sehr viel Überschneidung innerhalb der Systeme. Ich glaube, die einfachen Vorstellungen, die wir uns früher gemacht haben, müssen wir ein Stück revidieren.

Die Schulversagerquote an den Gesamtschulen ist sehr gering, und das offene System von Leistungsdifferenzierung führt zur erwünschten Durchlässigkeit. 30 % verbessern ihre Abschlüsse gegenüber dem Grundschulgutachten.

(Beifall der Abgeordneten Renate Gröpel [SPD])

Ich muss aber dazu sagen, Frau Kollegin, diese Verbesserung der Abschlüsse gegenüber der Prognose gilt auch in den anderen Schularten. Daraus kann man den Schluss ziehen, es gibt an der Gesamtschule nichts geschenkt. Auch an dieser Gesamtschule findet Verbesserung statt.

(Glocke des Präsidenten)

- Herr Präsident, ich komme zum Schluss.

Auch beim Abitur bewegt sich das Leistungsspektrum, so will ich es formulieren, in derselben Bandbreite wie bei den Gymnasien. Für das Niveau der Grund- und Leistungskurse gilt dies auch. Es gibt umfangreiche Kooperationen zwischen den Oberstufen. Ich finde, das sollte noch zunehmen. Ich glaube, man kann als Fazit sagen, die Gesamtschulen können sich heute nicht nur selbstbewusst präsentieren, sondern sie stel

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

len insgesamt auch eine Bereicherung unseres Schulsystems dar.

(Beifall bei der SPD)

Ich danke der Frau Ministerin für den Bericht und eröffne jetzt die Aussprache und erteile zunächst das Wort Herrn Abgeordneten de Jager.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Problem mit PISA ist, dass man jedes Argument daraus herleiten kann und im Regelfall auch das genaue Gegenteil. Die Grünen haben sich vorgenommen, als Antwort auf die PISA-Studie nun ausgerechnet den Ausbau des Gesamtschulwesens in Schleswig-Holstein zu fordern. Das ist der Hintergrund dieses Berichts, dafür wollten sie offenbar passendes Datenmaterial haben.

(Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Den Bericht haben wir schon vor PISA gefordert!)

Mit diesem Bericht verhält es sich so wie mit der PISA-Studie, man kann alles daraus ableiten, eben auch das genaue Gegenteil. Der Bericht führt zum Beispiel an, dass es 40 % mehr Anmeldungen als Plätze an Gesamtschulen in Schleswig-Holstein gibt. Die Grünen werten das als Indiz für die große Attraktivität und den Erfolg der Gesamtschulen in Schleswig-Holstein. Zunächst gilt es aber festzuhalten, dass diese große Nachfrage bei weitem nicht flächendekkend besteht, sondern nur an einzelnen Gesamtschulen. Der Bewerberandrang unterscheidet sich von Schule zu Schule ganz erheblich. Es ist zwar richtig, dass etwa die Geschwister-Prenski-Schule in Lübeck drei Mal so viele Bewerber hat, wie sie aufnehmen kann, oder die IGS in Neumünster-Brachenfeld, die doppelt so viele Bewerber wie zur Verfügung stehende Plätze hat. Da gibt es aber auch Schulen wie Barsbüttel, wo es genauso viele angemeldete wie aufgenommene Schüler gibt. Von einem Bewerberandrang ist dort nicht zu sprechen, und ziemlich ähnlich ist das Bild auch in Trappenkamp, zumal die Anmeldezahlen allein noch gar kein Indikator an sich sind. Ein Schuh wird erst draus, wenn man die Anmeldezahlen ins Verhältnis zu den Schulartempfehlungen für die angemeldeten Schüler setzt und mit der Schulart der abgelehnten Schülerinnen und Schüler vergleicht. Dann ergibt sich ein ganz anderes Bild, zum Beispiel bei der bereits zitierten Geschwister-Prenski-Schule. Dort haben sich laut Kleiner Anfrage der Kollegin Eisenberg vom 1. September vergangenen Jahres, Drucksache 1217, im Schuljahr 2001/2002 zwar 144 Schüler mit Haupt

schulabschluss angemeldet - das entspricht einem Anteil von 44 % -, aufgenommen wurden allerdings nur 29, und das entspricht einem Anteil von 29,6 %. Hingegen haben 41 Schüler eine Gymnasialempfehlung, also 12,5 %, aufgenommen wurden aber nur 32, was einem prozentualen Anteil der aufgenommenen Schüler von 32,7 % entspricht. Zusammenfassend ist als Trend zu beobachten, einen Bewerberüberhang an Gesamtschulen gibt es vor allem bei Schülerinnen und Schülern mit einer Hauptschul- beziehungsweise einer Realschulempfehlung.

Das bringt mich zu der von den Gesamtschulen selbst als Anspruch erhobenen Drittelung der Schulartempfehlung. Annähernd erreicht wird diese nur bei den Gesamtschulen mit einem Bewerberüberhang, bei den anderen nicht. Zum Beispiel Barsbüttel: 55 % der im Schuljahr 2001/2002 aufgenommenen Schülerinnen und Schüler hatten eine Hauptschulempfehlung, lediglich 4,5 % eine Gymnasialempfehlung; oder Norderstedt: 58 % eine Hauptschulempfehlung, nur 4 % eine Gymnasialempfehlung; in Trappenkamp und in anderen Gesamtschulen findet sich ein ganz ähnliches Bild. Als Fazit kann man deshalb feststellen, dass Gesamtschulen insbesondere bei Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern attraktiv sind, die hoffen, an einer Gesamtschule einen Schulabschluss erreichen zu können, der über der eigenen Schulartempfehlung liegt.

(Monika Heinold [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN]: Ist das verwerflich?)

Das ist eine Hoffnung, die sich übrigens auch oft erfüllt. So haben im landesweiten Schnitt laut Bericht 18 % der Gesamtschüler bei ihrer Einschulung eine Gymnasialempfehlung, aber 27 % machen das Abitur. Das passt nicht zusammen. Dagegen haben bei der Einschulung 35 % eine Hauptschulempfehlung, aber nur 28 % machen tatsächlich einen Hauptschulabschluss. Ähnlich verhält es sich bei den Realschülern. Die Grünen ziehen daraus die bemerkenswerte Schlussfolgerung, dass 43 % der Grundschulgutachten falsch sind und dass man den Erfolg der Gesamtschulen daran erkennen kann, dass 30 % der Kinder einen höheren Abschluss erreichen als ursprünglich gedacht. Das ist Logik nach PISA.

(Beifall des Abgeordneten Martin Kayenburg [CDU])

Wir ziehen haargenau den Umkehrschluss daraus. Für uns bestätigen diese Zahlen die schlimmsten Befürchtungen. Sie sind ein weiterer Grund, weshalb wir nicht nur Vergleichsarbeiten fordern, sondern auch zentrale Abschlussprüfungen für alle weiterführenden Schularten.

(Beifall bei der CDU)

(Jost de Jager)

Es bleibt abzuwarten, ob diese Zahlen unter der Vorgabe der zentralen Prüfung tatsächlich Bestand haben werden. Die Aussagefähigkeit dieser Zahlen lässt sich nur mit echten Zulassungsvergleichen nach klaren Leistungskriterien einschätzen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich in der Kürze der verbliebenen Redezeit noch einen anderen Aspekt ansprechen. Wer wie die Grünen die Ausweitung des Gesamtschulangebots fordert, der muss immer auch an die Kosten denken. Eine Neugründung von Gesamtschulen belastet vor allem die kommunalen Haushalte in beträchtlicher Höhe. Als Beispiel dafür sei auf die rapide Kostenentwicklung der Gesamtschule in Pansdorf verwiesen. Der ursprünglich angesetzte Kostenrahmen von 15 Millionen bis 25 Millionen DM hat sich mittlerweile in einen Voranschlag von 23 Millionen € verwandelt. Das muss natürlich überwiegend vom Kreis bezahlt werden, immerhin 8 Millionen € aber auch vom Land.

Lassen Sie mich zum Schluss einen weiteren Gedanken hinzufügen: Wir brauchen auch deshalb keine neuen Gesamtschulen in Schleswig-Holstein, weil wir als CDU-Fraktion auch den Gemeinden davon abraten, die gern vor Ort ein eigenes Gymnasium oder eine eigene Realschule hätten. Das möchte ich in Bezug auf das anmerken, Frau Erdsiek-Rave, was Sie zu Kropp gesagt haben.

(Glocke des Präsidenten)

- Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. - Die Gefahr, dass die Schulen leer stehen, wenn sie fertig sind, ist zu groß. Deshalb sagen wir aus schulpolitischen wie aus demografischen Gründen Nein zu weiteren Gesamtschulen.

(Beifall bei der CDU)

Ich erteile dem Herrn Abgeordneten Höppner das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Schuljahr 2001/2002 haben Eltern für 352 Kindern an der Gesamtschule in Brachenfeld Aufnahme beantragt. Das sind rund 200 mehr, als die Schule aufnehmen konnte. An der Geschwister-Prenski-Schule in Lübeck konnten im Jahre 2001 bei 328 Anmeldungen 98 Schülerinnen und Schüler aufgenommen werden. Für dieses Schuljahr haben sich an dieser Lübecker Gesamtschule mehr als 420 Schülerinnen und Schüler um Aufnahme beworben.