Protocol of the Session on May 9, 2001

„Als Schulelternvertreterin einer Schule mit 123 geistig und mehrfach behinderten Kindern habe ich einen kleinen Einblick in die Familiensituation dieser Kinder. Ein Viertel von ihnen lebt bei allein erziehenden Müttern - verlassen von Vätern, die sich der Situation nicht mehr stellen wollten oder konnten. Viele dieser Frauen sind auf Sozialhilfe angewiesen... Oder - wenn sie berufstätig sind - müssen sie eine Pflegeperson haben, die bei einer Erkrankung das Kind betreuen kann... Normalerweise gehen die Kinder zur Schule, die in den meisten Fällen um 13:00 Uhr endet. Sie kommen nach Hause, in eine Isolation, die immer größer wird, je älter sie werden... Viele Eltern haben inzwischen aufgegeben,“

- weil sie die Isolation allein, insbesondere die Mütter, für die Kinder nicht mehr füllen können. Sie haben die Kinder in ein Heim, in eine Lebens- oder Wohngemeinschaft oder in eine Pflege- oder Adoptivfamilie gebracht, Gründe dafür gibt es viele. Frau Rosenbusch führt dann - dick unterstrichen - fort:

„Unsere Bitte deshalb an den Staat: Schafft den Familien und besonders den Müttern Entlastung! Richtet Ganztagsschulen ein, wie es nach dem Schulgesetz vorgesehen ist.“

Zu dieser Anmerkung braucht man nichts weiter zu erläutern. Ich unterstütze auch den zweiten Teil des Antrages ausdrücklich.

(Beifall bei BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, SPD und SSW)

Ich erteile das Wort der Frau Abgeordneten Spoorendonk.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit der geplanten Kindergelderhöhung des Bundes um 30 DM ab 1. Januar 2002 ist die notwendige Diskussion um eine finanzielle Entlastung der Familien und um bessere Rahmenbedingungen für die Kindererziehung wieder richtig in Gang gekommen. Dass die

(Anke Spoorendonk)

Bundesrepublik im Vergleich mit unseren europäischen Nachbarn eher schlecht abschneidet, wenn es um eine moderne Familienpolitik geht, ist leider eine Tatsache, die endlich die gebührende Beachtung findet.

In diesem Zusammenhang überbieten sich viele mit Vorschlägen für eine familien- und kinderfreundlichere Gesellschaft und mit im Chor sind jetzt auch CDU und FDP. Dabei wirft man nur so um sich mit ungedeckten Schecks. Man scheint vergessen zu haben, dass die Probleme nicht neu, sondern seit Jahrzehnten bekannt sind. Liebe Kolleginnen und Kollegen, es täte der Debatte gut, wenn zum Beispiel die ehemaligen Regierungsparteien dies auch einmal selbstkritisch anmerken würden.

(Beifall der Abgeordneten Lars Harms [SSW] und Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Richtig ist allerdings, dass wir endlich bessere Rahmenbedingungen für unsere Familien schaffen müssen, insbesondere auch, damit Frauen künftig nicht mehr vor die Wahl gestellt werden, sich entweder für eine berufliche Karriere oder für Kinder entscheiden zu müssen. Es müsste doch zu denken geben, dass Länder, in denen die Erwerbsquote von Frauen wesentlich höher liegt als in der Bundesrepublik, eine höhere Kinderzahl vorweisen können.

(Beifall der Abgeordneten Lars Harms [SSW], Dr. Johann Wadephul [CDU] und Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN])

Vor diesem Hintergrund steht der SSW der Intention des FDP-Antrages für mehr Ganztagsschulen in Schleswig-Holstein positiv gegenüber. Laut einer Pressemitteilung der Landesregierung gab es 1999 nur insgesamt 20 Ganztagsschulangebote in SchleswigHolstein. Seitdem hat sich einiges verbessert, unter anderem auch durch die Initiative für eine betreute Grundschule.

Auch die Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe soll jetzt verbessert werden. Vom langfristigen Ziel eines flächendeckenden Ausbaus der Ganztagsschule, wie es die Landesregierung 1999 formuliert hat, sind wir allerdings noch weit entfernt. Andere Bundesländer sind da schon weiter. Rheinland-Pfalz darauf ist schon hingewiesen worden - will jetzt jährlich 100 Millionen DM für die Einrichtung von Ganztagsschulen ausgeben und an zirka 300 Schulen ein Ganztagsangebot realisieren. Dabei soll dieses Angebot auf alle Schularten bedarfsgerecht und regional ausgewogen verteilt werden, das heißt, sowohl Grund-, Haupt- und Realschulen als auch Gymnasien und Ge

samtschulen sollen zu Ganztagsschulen ausgebaut werden.

(Unruhe - Glocke des Präsidenten)

Ich darf um etwas mehr Aufmerksamkeit bitten. Herr Abgeordneter Poppendiecker, ich habe einmal in der Geschäftsordnung nachgesehen: Das Schwatzen gehört nicht zu den guten parlamentarischen Übungen.

Die Argumente für die Einrichtung von Ganztagsschulen sind vielschichtig und scheinbar je nach eigenem Standpunkt verwendbar. Nicht nur die Erwerbstätigkeit von Frauen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sollen dadurch erleichtert werden. Es geht auch um ein intensiveres Lernen; denn sowohl leistungsschwächere als auch besonders begabte Schülerinnen und Schüler sollen gezielter unterstützt werden. Des Weiteren soll die Integration ausländischer Schülerinnen und Schüler durch die Ganztagsschule erleichtert werden.

Nicht zuletzt sollen die Hauptschulen, insbesondere solche mit schwierigem sozialen Umfeld, durch eine größere Anzahl von Ganztagsschulen gestärkt werden. In diese Richtung zielt auch der FDP-Antrag. Ich möchte allerdings davor warnen zu glauben, dass sich die Probleme der Schulart Hauptschule mit der Umwandlung zu Ganztagsschulen einfach in Luft auflösen; denn das entscheidende Problem bleibt ja, was mit den Kindern geschehen soll, wenn sie den ganzen Tag in der Schule verbringen sollen. Was ist also die Zielsetzung der Ganztagsschule? Ich möchte mich bei dem Kollegen de Jager dafür bedanken, dass er gerade diese Perspektive in seinem Redebeitrag aufgezeigt hat.

Es geht also um die Frage: Soll Schule vormittags nach herkömmlichem Muster gestrickt werden, während nachmittags die Jugendhilfe einspringt? Wie motiviert man überhaupt die Kinder und Jugendlichen, damit sie ein solches Angebot annehmen? Wer soll die Kinder betreuen, die Lehrerinnen und Lehrer, Sozialpädagogen oder nicht ausgebildetes Personal?

Darüber hinaus stellt sich die Frage: Was ist mit den bisherigen Initiativen im Bereich der betreuten Grundschule und wie soll es mit der Zusammenarbeit von Schule und Jugendhilfe weitergehen?

Wir müssen also erst einmal definieren, was wir wollen. Für den SSW ist es deshalb wichtig, dass die Landesregierung ein Konzept vorlegt, in dem dargelegt wird, wie sie sich den Ausbau der Ganztagsschulen inhaltlich und finanziell vorstellt. Aus unserer Sicht

(Anke Spoorendonk)

kann es nur darum gehen, den Ausbau der Ganztagsschulen in ein Gesamtkonzept der Schulentwicklung in Schleswig-Holstein einzubauen. Für uns bleibt es ein vorrangiges Ziel, die Schule als Ganzes zu verändern.

(Beifall bei SSW, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich erteile das Wort der Ministerin, Frau ErdsiekRave.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die ersten massiven Anstöße zur Einrichtung von Ganztagsschulen in Deutschland gab es 1968, und zwar nicht wie Sie wahrscheinlich meinen - durch die damaligen politischen Protagonisten, sondern durch den Deutschen Bildungsrat. Als Gründe wurden damals genannt: eine bessere Vorbereitung auf das Leben in der Gesellschaft, der Abbau ungleicher Bildungschancen, die Berufstätigkeit vieler Mütter, der Wunsch nach mehr zeitlicher Flexibilität bei der Unterrichtsplanung.

Die Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates stießen damals, insbesondere auf der konservativen Seite, auf eine - man muss wohl sagen - Mauer der Skepsis. Eine Betreuung außerhalb der Unterrichtszeiten galt als vornehmste Aufgabe der Familie; wenn man ehrlich ist, muss man sagen: der Mütter in Deutschland.

(Beifall der Abgeordneten Angelika Birk [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

In der Folge wurden Ganztagsschulen in Deutschland nicht einmal ansatzweise flächendeckend eingerichtet. Der Anteil der Ganztagsschulen an allen Schulen beträgt heute im Bundesdurchschnitt 3 %.

Einsame Rufer oder - man muss wohl besser sagen Ruferinnen waren in den darauf folgenden Jahrzehnten die Frauenbewegung - dies zu erwähnen, gehört zu einer ehrlichen Diskussion dazu

(Beifall bei SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN und SSW)

sowie die Frauenpolitikerinnen in SPD und FDP. Auch das muss offen gesagt werden. Frauenpolitikerinnen in der CDU, die dies forderten, gab es ebenfalls in zunehmender Zahl. Die Partei der SPD insgesamt auch das gehört zu einer ehrlichen Diskussion dazu forderte es auch nicht von Anfang an und umgesetzt wurde wenig, viel zu wenig.

Mittlerweile hat sich die Diskussion verändert. Sehr spät, nämlich nach nun fast 30 Jahren, ist auch die CDU dort angekommen, jedenfalls nach dem, was in den Landesparteitagsanträgen steht, was ja noch nicht heißt, dass die Mehrheit der Partei wirklich der gleichen Auffassung ist.

(Brita Schmitz-Hübsch [CDU]: Natürlich! - Weitere Zurufe von der CDU)

- Ich mache mir schon Sorgen hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz. Das schließt natürlich Ihre Kommunalpolitiker - insbesondere da steht der Beweis wirklich noch aus - ein.

(Unruhe - Zurufe von der CDU)

Ich hatte das Wort der Frau Ministerin erteilt.

Jedenfalls merkt man, dass Sie richtig stolz darauf sind, dass Sie da angekommen sind. Das finde ich gut.

Die gesellschaftlichen Veränderungen - darüber sind wir uns Gott sei Dank einig - fordern dazu heraus - man könnte fast sagen: sie zwingen uns dazu -, Schulkonzepte zu stärken, mit denen Kindern ein längerer, täglicher, verlässlicher, betreuter und gestalteter Aufenthalt in der Schule ermöglicht werden kann.

Ich möchte noch einmal klarstellen, um welche unterschiedlichen Konzepte es bisher jedenfalls geht, Konzepte, die nach meiner Auffassung veränderungsbedürftig und veränderungsfähig sind, die man auch miteinander verknüpfen kann. Es geht um die Ganztagsschule auf der einen und die Ganztagsangebote auf der anderen Seite, und zwar um Ganztagsangebote in Kooperation mit anderen Institutionen. Die rechtlichen Grundlagen für reine Ganztagsschulen, wie Sie sie favorisieren, Herr de Jager, sind im Schulgesetz beschrieben. Es handelt sich um Schulen mit verbindlichem Unterricht über den Tag verteilt, ein Schulkonzept, das ungefähr 10 % mehr Lehrerstellen erfordert und bei der dem Schulträger für das übrige Betreuungspersonal, für das Küchenpersonal, für die Sachkosten von Küchen und Essensräumen sowie für laufende Zuschüsse zum Essen sowie darüber hinaus für Schülertransportkosten dann verantwortlich ist, wenn das Angebot in der Fläche verteilt ist und auf Freiwilligkeit basiert.

Dieses Schulkonzept „Ganztagsschule“ hat sich flächendeckend nirgendwo in Deutschland durchgesetzt. Ob dies auf finanzielle oder auf ideologische Gründe zurückzuführen ist, lasse ich einfach einmal

(Ministerin Ute Erdsiek-Rave)

dahingestellt. Es wäre auch flächendeckend nicht bezahlbar, wie Heike Schmoll in einem Artikel in der „FAZ“ von gestern zutreffend analysierte. Sie sagte:

„Diese Kosten kann selbst dann kein Bundesland aufbringen, wenn die Eltern mit zur Kasse gebeten werden.“

Nun haben Sie, Herr de Jager, bei Ihren Beweggründen in - wie ich finde - bemerkenswerter Offenheit darauf hingewiesen, dass die Arbeitgeberseite dies massiv fordert. Die „FAZ“ - das sollten Sie wirklich einmal nachlesen - analysiert diesen Willen der Arbeitgeber allerdings etwas intelligenter - ich zitiere -:

„Die wiederbelebte Diskussion um die Ganztagsschule hat weniger bildungspolitische Gründe als gesellschaftliche und vor allem wirtschaftspolitische. Nicht umsonst hat sich der Arbeitgeberverband wiederholt für die Ganztagsschule eingesetzt,... um die Frauenarbeit zu fördern.“

Das ist der Hintergrund. Das muss man ehrlich sagen. Dagegen ist nicht von vornherein etwas einzuwenden.

(Dr. Ekkehard Klug [FDP]: Im Gegenteil!)