Protocol of the Session on May 8, 2003

(Beifall der CDU)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, deswegen ist meine herzliche Bitte: Wenn etwa jetzt davon die Rede ist, dass wir ein Frühwarnsystem brauchen für den Fall, dass der Grundsatz der Subsidiarität aus unserer Sicht zum Beispiel durch Institutionen der EU verletzt wird, dürfen nicht nur die Landesregierungen bestimmte Mittel in die Hand bekommen, um im Rahmen eines solchen Frühwarnsystems rechtzeitig und vor der Entscheidung intervenieren zu können.

Wir reklamieren als Parlamente ebenfalls diesen Anspruch. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist nichts, was die Europäische Union für uns regeln kann, sondern das ist etwas, was wir ausschließlich innerstaatlich, wir Deutsche unter uns, miteinander ausmachen müssen. Dann schließt sich ein bisschen der Kreis zu diesem Konvent der Landtage, weil das einer der Punkte ist, wo wir uns parteiübergreifend, länderübergreifend verständigen müssen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, das ist meine herzliche Bitte. Diese Europäische Union, so wichtig und gut und erfolgversprechend dieser Konventsprozess sich angelassen hat, muss im Inneren nachträglich mehr als bisher parlamentarisiert werden. Das ist mein Plädoyer. Darauf möchte ich unsere Aufmerksamkeit lenken.

(Beifall bei CDU, SPD und FDP)

Für die SPD-Fraktion erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Schiffmann das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Böhr, ich stimme Ihnen zu, dass dieser Prozess auch im innerstaatlichen Bereich parlamentarisiert werden muss. Nur wird das gewaltige Anforderungen an uns, an die Parlamente in Deutschland stellen. Die Frage, wie das tatsächlich zu bewerkstelligen sein wird, ist die andere Frage.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Ministerpräs ident Beck hat zu Recht anlässlich des heutigen 58. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs auf die in der europäischen Geschichte beispiellose friedenspolitische Leistung der europäischen Integration hingewiesen. Wenn heute jemand von Europa spricht, meint er in der Regel damit die Europäische Union als Raum des Friedens und des Wohlstands, die als gegenwärtiges

Stadium das friedliche Zusammenleben und das Zusammenarbeiten und das Zusammenwirtschaften der meisten Staaten und Völker dieses einst heillos zerstrittenen Kontinents ermöglicht.

Mit der Erweiterung um die zehn neuen Staaten zum 1. Mai 2004 und ihrem jetzt beginnenden Vorlauf tritt die Europäische Union in ein völlig neues Stadium ein, ein Stadium mit vielen Chancen, aber auch vielen Risiken. Die Risiken liegen in der Möglichkeit der Überspannung und Überforderung der Institutionen der Union und ihrer politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Möglichkeiten, im Verlust von Handlungsfähigkeit und der Fähigkeit zur notwendigen weiteren Vertiefung. Dieser mögliche Verlust des inneren Zusammenhalts der Union angesichts auch der Spannweite der politischen und kulturellen Tradition, Erfahrung und des riesigen Wohlstandsgefälles, insbesondere zu den neuen Staaten, könnte das bisher Erreichte wieder gefährden.

Die Chancen der Erweiterung bestehen nicht nur in der politischen und wirtschaftlichen Befriedung des Kontinents, sondern gerade auch im globalen Wettbewerb, in der Größe der neuen Union, dem geographischen Raum, der Zahl der 480.000 Millionen Einwohner und der wirtschaftlichen Möglichkeiten des Binnenmarkts, eigentlich auch in der möglichen politischen Stärke in der internationalen Politik und nicht nur in der globalen Wirtschaftspolitik von WTO, GATT und GATS, allerdings nur, wenn es gelingt, effektive Entscheidungsstrukturen und eine auch bei 25 oder 27 Staaten funktionierende europäische Entscheidungskultur zu entwickeln.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Europäische Union wird – das erscheint sicher – aus dem kaum nachvollziehbaren Dickicht vieler Verträge und noch mehr Vertragsänderungen befreit und eine Verfassung erhalten, keine einfache, aber doch eine lesbare und für die Bürger verständliche Verfassung. Die Grundforderung, die auch der rheinland-pfälzische Landtag in seiner Entschließung zum Europäischen Rat von Laeken und zum Europäischen Konvent im November 2001 aufgestellt hat, war die nach größerer Handlungsfähigkeit und Bürgernähe auch und gerade bei 25 Mitgliedsstaaten. Unsere Forderung war, dass also die künftige europäische Verfassung Mängel der bisherigen Konstruktionen der Institutionen, der Machtverteilung zwischen Ihnen und der eingesetzten Rechtsinstrumente beseitigen sollte. Darüber hinaus sollten die Entscheidungsprozesse für die Bürger transparenter und stärker demokratisch legitimiert werden.

Nach den heftigen Turbulenzen der letzten Wochen durch die einseitig auf eine Stärkung und Voranstellung des Rates und damit der Staaten und der intergouvernementalen Methode abzielenden Vorschläge von Konventspräsident Giscard d‘ Eastaing scheint mit den am 23. April vorgelegten Vorschlägen des Konventspräsidiums eine Lösung in Sicht, die den Anliegen der Stärkung der Handlungsfähigkeit, der Transparenz und von mehr Demokratie zwar nicht in dem Umfang, wie von uns zu Beginn gefordert, aber doch durchaus Rechnung trägt.

Nicht nur aus der auch interessengebundenen Sicht der Nationalstaaten, der Regionen und der Kommunen war unsere Forderung nach einer deutlichen Kompetenzab

grenzung, nach effektiverer Verankerung der Prinzipien von Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit ganz zentral. Die meisten Bürger Europas – Herr Ministerpräsident, Sie haben zu Recht darauf hingewiesen – haben zu Recht eine starke Abneigung gegen eine europäische Zentrale, die ihnen den Eindruck vermittelt, als wolle sie alles und alles möglichst umfassend und einheitlich regeln, und dann auch noch insbesondere von den Regionen und Kommunen das Ganze mit einem gewaltigen Aufwand an zusätzlicher Bürokratie und Kosten umsetzen und verwalten lassen. Dieser allumfassende Anspruch wäre geeignet, die viel zitierte Vielfalt in der Einheit zu zerstören und damit den produktiven Wettlauf der Ideen und Lösungen zu unterbinden. Hier sind beim gegenwärtigen Stand der Beratungen des Konvents doch die größten Fragezeichen angebracht, nicht weil Vorschläge im Raum stehen, die neue Zuständigkeiten der Union vorschlagen, beispielsweise in der Außenund Sicherheitspolitik, im Bereich der Inneren Sicherheit, der justiziellen Zusammenarbeit und der Asyl- und Einwanderungspolitik, oder auch – sehr umstritten – der Wirtschaftspolitik; denn aus unserer Sicht sind das zum überwiegenden Teil bisher versäumte notwendige Konsequenzen aus der grundsätzlichen Entscheidung für eine politische Union, für eine Wirtschafts- und Währungsunion, für den Binnenmarkt und für die Freizügigkeit des Verkehrs von Menschen, Waren, Kapital und Dienstleistung, Dinge, die bei den früheren Regierungskonferenzen versäumt worden sind.

(Beifall bei der SPD)

Bei all diesen Zuständigkeiten gibt es noch Probleme bei der Abgrenzung nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Was auf der anderen Seite fehlt, sind wirkliche Zuständigkeiten, die die eigentlich notwendige Ergänzung der Wirtschaftsunion um Elemente einer Europäischen Sozialunion ermöglichen könnten.

Im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip bereitet nicht nur der gegenwärtige Vorschlag zu den ausschließlichen Zuständigkeiten der Union ganz erhebliche Probleme, sondern auch vor allem die Kategorie der geteilten Zuständigkeiten und der ergänzenden Tätigkeiten sowie die nicht ganz beseitigte Binnenmarktharmonisierungskompetenz. Herr Ministerpräsident, Sie haben zu Recht auf dieses Einfallstor für eine Kompetenzkompetenz der Europäischen Union hingewiesen. Das sind Einfallstore für eine immer stärkere Expansion in die Kompetenzen der Nationalstaaten, insbesondere auch der Regionen.

Deshalb muss noch klarer als bisher im Entwurf zu Artikel 8 der Verfassung festgelegt werden, dass neue Zuständigkeiten der Union nur auf dem Weg der begrenzten Einzelermächtigung beschlossen werden können. Entgegen der Anregung und Empfehlung der Plenardebatte des Konvents Anfang Februar spielt mittlerweile die regionale und lokale Dimension im gegenwärtigen Stand der Verfassungsdebatte nur eine ziemlich untergeordnete Rolle. Der Entwurf des Subsidiaritätsprotokolls bezieht zwar den Ausschuss der Regionen mit in das Frühwarnsystem ein und räumt ihm ein Klagerecht in Fragen der Subsidiarität ein, gibt ihm aber keinen Organstatus, bezieht die Regionen und Kommunen auch nicht in die Verpflichtung der Kommission zum regelm äßigen Dialog ein, ebenso auch die Wirtschaftspartner

und die Sozialpartner. Die gegenwärtigen Entwürfe verweisen bei den Zielen in Artikel 3 der Verfassung an keiner Stelle auf die Sicherung der regionalen und kulturellen Vielfalt hin.

Die Frage, die hier angesprochen worden ist, eines eigenständigen Einspruchsrechts oder gar Klagerechts des Bundesrats und damit – Herr Kollege Böhr, Sie haben das angesprochen – die Rolle der Länderparlamente in diesen Prozess, sind Dinge, bei denen ich denke, dass das durchaus im Rahmen des vorgelegten Protokolls in innerstaatlichem Recht gelöst werden kann.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, dass die gewachsene und bewährte Struktur der Dienste von allgemeinem wirtschaftlichen öffentlichen Interesse, also der Daseinsvorsorge auf der regionalen und kommunalen Ebene, die einen Grundpfeiler des europäischen Sozialmodells darstellt, nicht abgesichert werden soll, berührt die grundsätzliche Frage, ob das neue Europa der 25 auch ein s oziales Europa sein soll.

Europa – das haben Sie auch betont, Herr Ministerpräsident – ist aus unserer Sicht mehr als nur ein Binnenmarkt mit politischem Überbau zur Regelung von Märkten und Handelsströmen.

Das größer werdende Europa muss sich deshalb zur Stärkung des inneren Zusammenhalts aich als Wertegemeinschaft definieren. Achtung der Menschenwürde und der Menschenrechte, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität, die in Artikel 2 des Verfassungsentwurfs als grundlegende Werte beschrieben werden, können nicht nur die Grundlagen des Handelns der erweiterten Union sein, sondern sollten auch wesentliche Kriterien bei der Beurteilung künftiger Beitrittskandidaten sein.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die nächsten Wochen der Arbeit des Europäischen Verfassungskonvents werden noch spannend und vielleicht auch aufregend werden. Nur wenn es gelingt, ein breit getragenes Ergebnis zu präsentieren und eine breite europäische Öffentlichkeit für diesen Verfassungsentwurf zu mobilisieren, bestehen Chancen, dass Europa nach den Beratungen der Regierungskonferenz dann eine Verfassung erhält, die die Handlungsfähigkeit des Europas der 25 stärkt und diesem Europa wirkliches politisches Gewicht verleiht und dabei die nationale und regionale Vielfalt respektiert und sichert.

Vielen Dank.

(Beifall der SPD und der FDP)

Auf der Zuschauertribüne begrüße ich Schülerinnen und Schüler der Realschule Schweich. Seien Sie herzlich willkommen im Landtag!

(Beifall im Hause)

Das Wort hat Herr Abgeordneter Wiechmann.

Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal eine ganz kurze Vorbemerkung. Ich finde es tut gut, heute diese Debatte zu führen. Es tut gut, weil es nicht ganz so viele Punkte gibt, bei denen wir in so großen Grundlinien einer Meinung sind.

In der Europapolitik aber sind wir es. Das freut mich, und deswegen bedanke ich mich im Voraus bei allen, die an dieser Debatte teilgenommen haben und noch teilnehmen werden, für die wirklich große Übereinstimmung, die wir in diesem Hause haben.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, Robert Schuman, sicherlich einer der Väter der europäischen Idee – den Sie auch schon erwähnt haben, Herr Ministerpräsident –, hat bereits 1963 mit äußerster Klarheit gesagt: „Wir müssen das geeinte Europa nicht nur im Interesse der freien Völker errichten, sondern auch, um die Völker Osteuropas in diese Gemeinschaft aufnehmen zu können, wenn sie, von den Zwängen, unter denen sie leiden, befreit, um ihren Beitritt und unsere moralische Unterstützung nachsuchen werden. Wir schulden ihnen das Vorbild des einigen, brüderlichen Europa.“

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, das ist sicherlich nicht meine Wortwahl.

(Zuruf der Abg. Frau Grützmacher, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte aber trotzdem sagen, dass das ein Zeichen für die Vision ist, die schon damals die Väter und Mütter der europäischen Idee und der europäischen Integrationsidee aufgezeigt haben.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, deswegen ist es auch wichtig für uns, heute festzuhalten, Europa ist unsere gemeinsame Zukunft. Das ist gut so. Diese Zukunft gilt es heute zu gestalten.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und vereinzelt bei der SPD)

Die europäische Integration hat unserem Kontinent die längste Friedensperiode seiner Geschichte beschert.

Die wirtschaftliche Integration hat zu einem enormen Wohlstandsgewinn in allen Teilen der EU beigetragen, und die vielfältigen Möglichkeiten des Arbeitens, Reisens und der kulturelle Austausch sind ein Gewinn für jeden Einzelnen von uns.

Für die Menschen ist Europa – im positiven Sinn – normal geworden. Vielleicht ist gerade deshalb hier und heute diese Regierungserklärung und die Aussprache darüber in der gerade stattfindenden Europawoche wichtig, um sich noch einmal der Errungenschaften der Europäischen Union auch öffentlich bewusst zu werden.

Meine Damen und Herren, Europa hat im letzten halben Jahrhundert viel erreicht, ist aber natürlich noch lange nicht am Ziel. Durch die Erweiterung um zehn Staaten wird die historische Teilung von Europa in Ost und West endgültig überwunden.

Die Erweiterung ist eine große Chance für uns alle, für die Menschen in den Beitrittsstaaten ebenso wie für uns, die Menschen im alten Europa. Man kann aktuell ganz stolz darauf sein, sich so nennen zu dürfen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Meine Damen und Herren, die neuen Mitglieder haben enorme Anpassungsleistungen hinter sich, aber auch noch viele vor sich. Die Menschen dort haben unsere volle Unterstützung verdient, schließlich kann es sich niemand aussuchen und niemand kann etwas dafür, auf welcher Seite des ehemaligen „Eisernen Vorhangs“ er oder sie geboren wurde.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, neben der Erweiterung ist die Erarbeitung eines Verfassungsvertrags das bedeutendste Projekt der Europäischen Union, gerade in der heutigen Zeit. Die Verfassung soll und wird die Europäische Union weiter integrieren und sie demokratischer, transparenter und effizienter machen. Davon bin ich felsenfest überzeugt.

Diese Verfassung darf nicht nur eine Union der Völker und Staaten, sondern sie muss vor allem auch eine Union der Bürgerinnen und Bürger begründen.

Herr Ministerpräsident Beck, vielleicht einen Satz zur Grundrechtscharta, weil Sie sie erwähnt haben. Wir vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN unterstützen Sie vehement in Ihrer Forderung, die Grundrechtscharta rechtsverbindlich in die Verfassung aufzunehmen, und zwar – da haben Sie vollkommen Recht – an herausgehobener Stelle und nicht irgendwo in einem Anhang oder einem Protokoll, wie es aktuell im Konvent diskutiert wird.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir wollen eine funktionierende Demokratie, in der die Bürgerinnen und Bürger beteiligt und ihre Rechte gewahrt und gestärkt werden. Deshalb – das ist eine Forderung, bei der es noch unterschiedliche Meinungen im Konvent und auch bei uns in Deutschland gibt – möchten wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dass diese Verfassung auch durch ein europaweites Referendum legitimiert wird.