Protocol of the Session on May 8, 2003

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir wollen eine funktionierende Demokratie, in der die Bürgerinnen und Bürger beteiligt und ihre Rechte gewahrt und gestärkt werden. Deshalb – das ist eine Forderung, bei der es noch unterschiedliche Meinungen im Konvent und auch bei uns in Deutschland gibt – möchten wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, dass diese Verfassung auch durch ein europaweites Referendum legitimiert wird.

Unser Ziel muss die Stärkung der demokratischen Legitimation sein. Dies setzt auch eine größtmögliche Transparenz der Institutionen voraus.

Europa muss repräsentative Demokratie und Zivilgesellschaft zugleich werden. Dazu müssen wir auch weiterhin – das wurde auch von den Kollegen betont, die vorher geredet haben – einen intensiven Dialog mit allen Bürgerinnen und Bürgern führen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Frage, welche Entscheidungen auf welcher Ebene getroffen werden, ist

sicherlich eine ganz entscheidende; denn es ist die entscheidende, ob wir es schaffen, für die Akzeptanz Europas bei den Bürgerinnen und Bürgern werben zu können. Die europäischen Institutionen müssen verständlicher werden. Dies dient auch der klaren Zuordnung von Verantwortung.

Damit nicht „arme“ Landtagsabgeordnete oder Ministerpräsidenten von aufgebrachten Betroffenen für Entscheidungen kritisiert werden, die europäische Kommissare zu verantworten haben – natürlich auch umgekehrt –, müssen die Zuständigkeiten und Kompetenzen der EU, der Staaten, der Regionen und der Kommunen klar geregelt werden.

Wichtig ist natürlich auch, dass dies so geregelt werden muss, ohne zu starr und unbeweglich sein zu müssen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Föderalismus – auch der wurde heute schon in der Debatte angesprochen – hat viel zu einer funktionierenden Demokratie in Deutschland beigetragen, nicht zuletzt zur Überwindung des fatalen Erbes eines zentralistisch totalitären Staats. Deswegen setzen wir uns auch in Europa für föderale Strukturen ein und führen eine Debatte in Europa über den Föderalismus und über den Wandel der Strukturen hin zu einer Europatauglichkeit.

Die Debatten müssen auch regional geführt werden; denn der Föderalismus ist, kann zumindest ein Instrument dafür sein, mithilfe dessen Mitbestimmung und Aufteilung von Verantwortung organisiert werden können. In der zu schaffenden Verfassung sollen deshalb auch – auch das ist schon erwähnt worden – insbesondere die großen Bedeutungen der Regionen und der Kommunen herausgestellt werden.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Regierungserklärung des Ministerpräsidenten hat einzelne Punkte angesprochen, die für die Länder und Regionen von Bedeutung sind und deren Durchsetzung wichtig und in Einzelfällen auch nicht so einfach ist. Vor allem von Bedeutung ist ein wirksames Mittel gegen Eingriffe in Länderkompetenzen. Als Stichwort nenne ich die Verletzung des Subsidiaritätsprinzips.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte im Weiteren die Zukunft der Strukturfonds erwähnen. Europa ist mehr als Strukturfonds, Europa ist mehr als Markt oder schnöder Mammon. Darin sind wir uns sicherlich einig. Herr Ministerpräsident, darin stimme ich Ihnen vollkommen zu. Europa soll insbesondere auch Integration und Zusammenführung der Menschen und ihrer durchaus unterschiedlichen kulturellen Identitäten sein.

Meine Damen und Herren, der Ministerpräsident hat auch auf das Kriegsende vor genau 58 Jahren Bezug genommen und seine Regierungserklärung sicherlich auch nicht zufällig auf den heutigen Tag terminiert. Aber die Integration und die Zusammenführung, die ich soeben als Instrument und Element einer langfristigen und dauerhaften Friedenssicherung in Europa erwähnt habe, darf eben nicht nur gefordert, sondern sie muss auch begleitet und gefördert werden. Förderung – da sollten

wir uns nichts vormachen – ist auch zunächst einmal die finanzielle Förderung. Da wir uns ein Europa der Bürgerinnen und Bürger und ein Europa der Regionen vorstellen, möchten wir, dass es auch nach der Erweiterung der Europäischen Union weitergeht mit der Förderung grenzüberschreitender Zusammenarbeit, grenzüberschreitender Kooperationsprojekte mit den Elsässern, mit den Lothringern, mit den Luxemburgern und mit den Belgiern im Rahmen der unterschiedlichen europäischen Förderprogramme. Dies ist losgelöst von klassischer Wirtschaftsförderung zu sehen und betrifft eine ganz andere Säule der europäischen Integration.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Chance und die Vielfalt der verschiedenen Kulturen und Lebenswelten zu wahren und diese weiter zu fördern, muss genutzt werden, ohne den Blick auf das zukünftige gemeinsame Europa zu verlieren. Welchen Beitrag können die Regionen in dieser Diskussion dazu leisten?

Ich denke, ein wichtiger Beitrag, wenn nicht der wichtigste in dieser Diskussion ist das Zusammenleben und das Zusammenfinden der von den verschiedenen Kulturen geprägten Menschen unter Wahrung der regionalen Identitäten. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, jede Region, jede Lebenswelt der Europäer ist einzigartig und besitzt im Vergleich zu anderen Regionen natürlich auch unterschiedliche Wünsche und Anforderungen. Diesen Anforderungen muss die Politik vor Ort auch in den Regionen gerecht werden können.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb ist oberstes Gebot der Stunde das Prinzip der Subsidiarität. Deshalb müssen auch unserer Ansicht nach Befugnisse an die Regionen, in Deutschland an die Bundesländer, abgegeben werden können. Nur so kann Bürgernähe gelebt, Europa den Bürgerinnen und Bürgern greifbar gemacht und dem Projekt Europa eine zukunftsfähige Chance gegeben werden.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir brauchen ein starkes Europa, ein Europa, das zu einer gerechten und solidarischen Globalisierung beiträgt und sich gemeinsam im Rahmen der Vereinten Nationen einbringt, um für weltweiten Frieden, weltweite Sicherheit und weltweite Stabilität zu sorgen. Meine Damen und Herren, die jüngere Geschichte hat deutlich gemacht, dass die Nationalstaaten nur noch sehr begrenzt in der Lage sind, den globalen Problemen und den globalen Herausforderungen wirkungsvoll zu begegnen. Nie zuvor war in der Geschichte der Europäischen Union Europa außenpolitisch so gespalten wie in der Irak-Frage. Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, deshalb muss uns allen klar sein, dass Europa nur durch eine Bündelung der europäischen Kräfte zu einer gemeinsamen Friedens- und Außenpolitik an einer neuen Weltordnung mitwirken kann. Eine gerechte Globalisierung, die Verhinderung gewaltsamer Konflikte, die weltweite Achtung der Menschenrechte, die Schaffung einer gerechten, solidarischen, ökologischen und nachhaltigen Weltwirtschaftsordnung, all das kann nur mit einer starken Europäischen Union im Rahmen der Vereinten Nationen gelingen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, für uns GRÜNE steht fest, die Chance und die Stärke der gemeinsamen europäischen Außenpolitik geht unmittelbar mit einer weiteren Stärkung, einer zivilen Konfliktbearbeitung und Konfliktvermeidung einher. Dazu muss Europa mit einer Stimme sprechen.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Frieden, Solidarität, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit sind die Grundwerte, denen wir uns gemeinsam verpflichtet fühlen müssen und - wie ich die Diskussion heute erlebt habe – auch gemeinsam verpflichtet fühlen. Dafür lohnt es sich, gemeinsam am zukünftigen Haus Europa zu bauen. Packen wir es weiterhin an!

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall des BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Ich begrüße eine weitere Gruppe von Schülerinnen und Schülern aus dem Gymnasium in Höhr-Grenzhausen. Meine Damen und Herren, herzlich willkommen!

(Beifall im Hause)

Für die FDP-Fraktion erteile ich Herrn Abgeordneten Dr. Geisen das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Nein zum Krieg, ja zur großen friedlichen Völkergemeinschaft: Das ist das Motto zum heutigen 58. Jahrestag nach Ende des Zweiten Weltkrieges!

(Beifall der FDP und der SPD)

Auch ich bin Kind und Zeitzeuge der Nachkriegszeit aus dem Gebiet der so genannten Roten Zone zwischen den Westwalltrümmern und den geschlossenen Grenzen der Nachbarn Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich. Dort, wo jahrhundertelang Kriege stattfanden und in meiner Kindheitszeit ein Gebiet der verbrannten Erde, also ein sinnlos und total zerstörtes Gebiet vorzufinden war, sind heute Dank der Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft blühende Landschaften ohne Grenzen. Es gibt dort ein Zusammenleben der Menschen verschiedener Nationalitäten in nie dagewesener Freundschaft und gegenseitigem Vertrauen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die nationalen politischen Entwicklungen der Gegenwart zeigen, wie notwendig ein starkes, in sich geschlossenes Europa ist. Nur ein starkes, in sich geschlossenes Europa kann eine angemessene Rolle in der Weltpolitik spielen. Wir wollen Frieden und Freiheit auf dem europäischen Kontinent langfristig gesichert wissen. Dazu brauchen wir neben einer gemeinsamen Wirtschaftspolitik eine gemeinsame

Außenpolitik, Sicherheitspolitik und eine gemeinsame Verteidigungspolitik. Wir brauchen eine gemeinsame Politik in den Bereichen der Polizei und der Strafjustiz, wir brauchen einheitliche Umweltstandards und eine verbesserte Sprachenkompetenz im Bildungsbereich. Dies ist unumgänglich.

(Beifall der FDP und der SPD)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, um diese großen Zielsetzungen zu erreichen, muss zunächst aber die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt werden. Ja, die EU muss für ihre Mitgliedstaaten und ihre Bürger an Bedeutung zunehmen. Sie muss attraktiver werden. Dies bedarf meines Erachtens noch folgender Voraussetzungen:

1. die Respektierung der geistig-religiösen und sittlichen Grundwerte aller Mitgliedsländer,

2. die Bewahrung der regionalen und nationalen Vielfalt und Identität,

(Beifall der FDP und der SPD)

3. die Schaffung einer klaren Kompetenzzuordnung unter Berücksichtigung des Solidaritätsprinzips, Dem okratie und Bürgernähe und Transparenz und Effizienz.

Das sind die wesentlichen Voraussetzungen.

Die Erfüllung dieser Zielsetzungen erfordert weniger Einmischung, weniger Verwaltung und weniger Bürokratie. Wir brauchen keinen Konvent, um einen Superstaat zu schaffen. Wir brauchen einen Konvent, um Reformvorschläge zu erarbeiten, die auch nach der Erweiterung die notwendige Handlungsfähigkeit gewährleisten.

Um dies zu erreichen sind für mich folgende Punkte von enormer Wichtigkeit:

Die Europäische Union muss offen und tolerant sein. Fremdenfeindlichkeit und Rassismus haben in ihr keinen Platz.

(Beifall bei FDP, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Verantwortung in der Welt muss von den Mitgliedsstaaten in gleichem Maße getragen werden. Wir brauchen internationale Freundschaft und Zusammenarbeit.

Die europäischen Grund- und Menschenrechte müssen in einer künftigen Verfassung klar genannt und ihre Rechtsverbindlichkeit garantiert werden. Dadurch kommt die Europäische Union näher an Bürger heran.

Die Aufgaben und Kompetenzen der Europäischen Union sind klarer als bisher festzulegen. Dort, wo die Mitgliedsstaaten für sich allein Aufgaben nicht mehr wirksam bewältigen können, muss die Europäische Union unter Respektierung gewachsener nationaler und regionaler Besonderheiten wirksam handeln können. Deshalb ist zu beachten, dass die Europäische Union mehr ist als ein großer Binnenmarkt.

Durch die Nutzung ihrer Instrumente können in der Umwelt- und Sozialpolitik Ziele erreicht werden, die einzelstaatlich im Zeitalter der globalen Weltwirtschaft scheitern müssen.

Bezugnehmend auf das Programm von Tampere sowie auf die Schlussfolgerungen des Vorsitzes anlässlich des Europäischen Rats von Sevilla muss eine gemeinsame Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten auch in den Bereichen Asyl und Einwanderung entwickelt werden. Dabei sind die Migrationsströme unter Wahrung des Rechts und in Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern der Migranten zu steuern und gegebenenfalls zu begrenzen.

Andere Aufgaben, etwa in der Agrarpolitik, könnten und sollten von der Europäischen Union auf die Mitgliedsstaaten und Regionen zurückverlagert werden, wenn dort größere Sachkenntnis, Praxisnähe oder mehr Bürgernähe vorhanden sind. Die gesetzlichen Vorgaben für die Agrarproduktion müssen harmonisiert werden, um Wettbewerbsverzerrungen im gemeinsamen Markt zu vermeiden. Dementsprechend sind auch Umweltschutzund Tierschutzauflagen auf möglichst hohem Niveau, das bei uns längst gilt, zu vereinheitlichen. In der Regionalpolitik muss der Handlungsspielraum der Regionen erweitert werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, gerade vor dem Hintergrund, dass die Europäische Union innerhalb der nächsten Jahre weiter wächst, ist Solidarität – dies nicht nur in finanzieller Hinsicht – ein unverzichtbarer Wert für alle beteiligten Staaten und Nationen.