Protocol of the Session on September 13, 2012

Anträge, wie ihn SPD und Grüne heute einbringen, wurde im Deutschen Bundestag regelmäßig, zuletzt zweimal im Jahr 2011, debattiert. Ich beziehe mich auf eine Debatte aus dem Jahre 2009. Damals wurden ähnliche Anträge der Linken und der Grünen eingebracht.

Ich habe mir einmal die Mühe gemacht, die Sitzungsprotokolle von damals genau durchzuarbeiten. Damals wurde unter anderem gesagt – Zitat –:

„Die Aufhebung von nachkonstitutionellen Urteilen nach §§ 175, 175 a Nr. 4 StGB würde massiven verfassungsrechtlichen Einwänden begegnen.“

Herr Kollege, lassen Sie eine Zwischenfrage von Herrn Klocke zu?

Ich möchte zunächst einmal die Zitate zu Ende führen.

„Aus dem in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG normierten Gewaltenteilungsprinzip folgt, dass jede der drei Staatsgewalten grundsätzlich verpflichtet ist, die von den beiden anderen Staatsgewalten erlassenen Akte anzuerkennen und als rechtsgültig zu behandeln.“

„Das den Verurteilungen zugrunde liegende Strafrecht nach 1945 … war gültig.“

Und letztes Zitat:

„Eine nachträgliche Rückwirkung der Gesetzesänderung wäre ein Präzedenzfall, verbunden mit dem Risiko, dass in Zukunft Reformen wegen der Gefahr von Entschädigungsleistungen in der Tendenz erschwert würden!“

Das hat Dr. Carl-Christian Dressel, ein Bundestagsabgeordneter der SPD-Fraktion, 2009 gesagt. Ich wiederhole: der SPD!

Wenn er noch möchte, kann er jetzt fragen.

Auch Herr Marsching möchte noch eine Zwischenfrage stellen. Die erste Zwischenfrage kommt aber von Herrn Klocke.

Danke, Herr Kamieth, dass Sie die Zwischenfrage zulassen.

Sie sprechen ja offenkundig gegen den Antrag. Ich weiß nicht, ob Ihnen Folgendes bekannt ist: Gestern hat der Hessische Landtag einen gleichlautenden Beschluss gefasst, zusätzlich mit einer Entschuldigung an die Verurteilten, eingebracht von der CDUFraktion und der FDP-Fraktion, unterstützt von Bündnis 90/Die Grünen und SPD. Ich frage Sie, wa

rum Sie sich nicht dem Verhalten im Hessischen Landtag anschließen und heute diesem Antrag zustimmen können.

Am Schluss meiner Rede werden Sie vielleicht eine Überraschung erleben.

(Zurufe von der SPD und den GRÜNEN: Ah!)

Herr Kamieth, es gibt noch den Wunsch nach einer Zwischenfrage von Herrn Marsching. Möchten Sie diese auch zulassen?

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich nicht zunächst das Ende hören möchte. Bis jetzt verwundert mich Ihre Argumentation. Mir sind die Parteifarben der letzten Jahre egal. Sie argumentieren, dass sämtliche Urteile nach 1945 verfassungskonform waren. Vor dem Hintergrund würde ich gerne von Ihnen wissen, ob die Rehabilitierung der Menschen, die vor 1945 verurteilt wurden, auch nicht hätte sein dürfen, weil damals die Urteile ja auch verfassungskonform waren.

(Beifall von den PIRATEN und den GRÜNEN)

Mit dieser Frage stellen Sie die Rechtsprechung der Bundesrepublik auf eine Stufe mit der Rechtsprechung im NS-Staat. Ich sehe da einen deutlichen Unterschied.

(Beifall von der CDU)

Im Übrigen: Die Argumentationen, die ich gebracht habe, waren bislang nur Zitate eines SPD-Kollegen aus dem Deutschen Bundestag. Lassen Sie mich zunächst zu Ende führen.

Ich möchte nämlich den zuständigen Minister Kutschaty zu den Argumenten, die ich eben gebracht habe, um eine Stellungnahme bitten. An diesen rechtsstaatlichen Grundsätzen kommt man nicht so ohne Weiteres vorbei.

Das zugrunde liegende Strafrecht war gültig. Die Urteile sind demnach rechtskräftig, auch wenn sie heute inhaltlich – damit bin ich bei Ihnen – nicht mehr ganz nachvollziehbar sind. Mir ist jedenfalls kein entsprechendes Rehabilitationsverfahren aufgrund von bundesdeutschen Urteilen bekannt. Wir leben in einem Rechtsstaat, und wir brauchen auch in der Zukunft für zukünftige Gesetzesänderungen Rechtssicherheit.

Meine Damen und Herren, mit dem erwähnten Antrag des Landes Berlin soll die Bundesregierung aufgefordert werden, Maßnahmen zur Rehabilitierung und Unterstützung vorzuschlagen. Wir hätten uns gefreut, wenn wir Parlamentarier durch eine

Überweisung in die Ausschüsse in diesen Prozess konstruktiv eingebunden worden wären. Da wir heute auf Wunsch der Antragsteller aber direkt über den Antrag abstimmen, ist uns das leider nicht möglich. Ich bedaure dies. Ich bedaure, dass Sie eine vertiefte Diskussion offensichtlich vermeiden wollen.

Ohne eigene Ideen einbringen zu können, wollen wir als CDU-Fraktion dem Antrag nicht zustimmen. Aufgrund der zu Beginn meiner Rede erwähnten besonderen Bedeutung und Wichtigkeit des Themas wollen wir allerdings auch nicht gegen den Antrag stimmen. Deswegen bleibt uns nur die Enthaltung. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von der CDU)

Vielen Dank, Herr Kollege Kamieth. – Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Wedel das Wort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! 1993/94 setzte die FDP in der schwarz-gelben Koalition und im Bundestag durch, dass der damalige § 175 des Strafgesetzbuches gestrichen wurde. Seinerzeit war es Frau Bundesministerin Leutheusser-Schnarrenberger,

die in der Plenardebatte aufzeigte, dass das 29. Strafrechtsänderungsgesetz – ich zitiere mit Erlaubnis des Präsidenten – „einen entscheidenden Beitrag zum Abbau von Vorurteilen und gesellschaftlichen Diskriminierungen gegenüber Homosexuellen“ leistet.

Es war längst überfällig, dass der sogenannte Schwulen-Paragraf endlich aus dem Strafgesetzbuch gestrichen wurde. Artikel 2 Abs. 1 des Grundgesetzes garantiert die freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seit Anfang der 80er-Jahre wiederholt entschieden, dass Strafgesetze, die einvernehmliche homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen für strafbar erklären, gegen das Recht auf die Privatsphäre aus Artikel 8 EMRK verstoßen.

Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich in den letzten Jahren immer wieder gegen eine Diskriminierung von Lesben und Schwulen ausgesprochen. Es hat klar festgestellt, dass das Privatleben selbstverständlich unter den Schutz des Artikels 2 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz fällt.

Den Antrag, über den wir heute debattieren, hat der Berliner Senat aufgrund eines einstimmigen Votums des Abgeordnetenhauses in den Bundesrat eingebracht. Meines Wissens ist die Ausschussberatung dort noch gar nicht abgeschlossen. Wir können daher nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass der Antrag in der vorliegenden Fassung tatsächlich Gegenstand der Abstimmung im Bundesrat wird.

Tatsächlich lässt der Antrag des Landes Berlin – trotz dessen ausführlicher Begründung – und infolgedessen auch der der heutigen Beratung zugrunde liegende Antrag von SPD und Grünen notwendige Differenzierungen vermissen.

Klargestellt werden muss, dass es selbstverständlich nur um solche Urteile gehen kann, in denen nicht aufgrund tateinheitlicher Begehung auch andere Straftatbestände verwirklicht worden sind und bei denen die Sachverhalte nicht den heute geltenden strafrechtlichen Bestimmungen unterfallen würden. Das dürfte vor allem viele Urteile betreffen, die bis 1969 aufgrund der nach 1945 fortgeltenden §§ 175, 175 a Strafgesetzbuch aus dem Jahre 1935 ergangen sind, da diesen Vorschriften ein gegenüber den späteren Fassungen des § 175 StGB besonderer Grad an Diskriminierung innewohnte.

Zudem setzt sich der Berliner Antrag nicht mit den anderen Fällen auseinander, in denen das Sittengesetz den Maßstab für die Strafrechtsordnung bildete. Denken wir beispielsweise an Ehebruch oder Kuppelei.

Meine Damen und Herren, eine Gesellschaft entwickelt sich in ihren moralischen Sichtweisen und Standpunkten weiter – und mit ihr das Recht, das sich eine Gesellschaft durch ihre Volksvertretungen gibt. Es ist gut, dass sich das Recht gerade bezüglich des ehemaligen § 175 StGB weiterentwickelt hat. Uns allen dürfte klar sein, dass das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen wie die von 1957 und auch die von 1973 heute nicht noch einmal so fällen würde.

Trotz dessen muss der Rechtsstaat im Umgang mit rechtskräftigen Urteilen Vorsicht walten lassen, um nicht in eine Rehabilitierungsspirale zu geraten. Eine Rehabilitierung von Verurteilten ist – nicht nur bei nachkonstitutionell ergangenen Urteilen – ein staatsrechtlich äußerst komplexer Vorgang, der eigentlich einer intensiveren Beratung bedürfte, als wir sie in einer knappen halben Stunde leisten können.

(Beifall von der FDP)

Der Rechtsstaat braucht Rechtssicherheit. Rechtssicherheit wird hergestellt durch Rechtskraft. Mit der Rechtskraft des Urteils ist das Verfahren abgeschlossen. Das gehört zum Grundverständnis des Rechtsstaates. Nicht umsonst ist eine Wiederaufnahme von Verfahren nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich. Eine Durchbrechung der

Rechtskraft im Wege einer nachträglichen Aufhebung von Urteilen durch den Gesetzgeber muss deshalb auch mit Blick auf die Gewaltenteilung die absolute Ausnahme sein.

Würden Sie eine Zwischenfrage zulassen?

Nein, möchte ich nicht. Dann komme ich nicht zum Ende. – Bislang ist dies nur zweimal geschehen, nämlich bei der Aufhebung von Urteilen der beiden deutschen Diktaturen.

Dennoch: Mit einer Rehabilitierung würde ein weiteres, aus heutiger Sicht unverständliches Kapitel der deutschen Rechtsgeschichte abgeschlossen. Man sollte den Mut haben, zu bekennen, dass mehr die Sittenpolizei als die konstitutiven Menschenrechte lange Jahre Vater des Gedankens waren.

(Beifall von der FDP)