Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben heute einen Antrag der Piraten bekommen, der seinem Inhalt nach unser parlamentarisches System umdrehen will. Weg von der Kultur der Bevormundung, meine ich, seien wir schon lange. Aber dass Gesetze notwendig sind, halten wir auch weiterhin für richtig.
Jetzt taucht die Frage auf, ob man Ihrem Antrag entsprechen soll, bei Verfassungsänderungen neben der Zustimmung einer Mehrheit von zwei Dritteln im Landtag auch die Annahme durch Volksentscheid mit der Mehrheit der abgegebenen Stimmen vorzusehen.
Ich weiß nicht, ob Sie sich einmal die Zeit genommen haben, nachzusehen, wie viele Verfassungsänderungen es in Nordrhein-Westfalen seit 1949 gegeben hat. Es waren 20. Der Aufwand für einen Volksentscheid ist in etwa so groß wie der bei einer Landtagswahl. Glauben Sie denn, dass Sie neben den Landtagswahlen, wo wir schon permanent sinkende Beteiligungen haben, dann bei Volksentscheiden noch eine akzeptable Mehrheit an die Wahlurnen bekommen?
Es gibt die nächste Frage: Haben Sie sich einmal angeguckt, was denn in diesen Verfassungen geändert wurde? Ich will es ja nicht lächerlich machen, aber bei der einfachsten Änderung – das war eine – wurde lediglich das Wort „Rechnungsjahr“ durch das Wort „Haushaltsjahr“ ersetzt. Wollen Sie dazu einen Volksentscheid?
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Piraten, es hat seit 1949 in Nordrhein-Westfalen noch keinen einzigen Volksentscheid gegeben. Warum? Weil immer dann, wenn es ein Volksbegehren gab, es auch angenommen wurde. Es war nicht erforderlich.
Wenn Sie sich für Volksentscheide aussprechen, betrachten Sie – neben dem, was Herr Körfges zu Ihrem Antrag gesagt hat – bitte noch einen anderen Punkt. Sie beantragen im System der parlamentarischen Demokratie, dass zwei Drittel des Plenums zustimmen. Sie wollen also 66 % Beteiligung derje
nigen, die in Wahlen in dieses Parlament gewählt worden sind. Im Volksentscheid wollen Sie aber nur eine einfache Mehrheit. Die Volksentscheide sind übrigens schon deshalb umstritten, weil gesagt wird: 15 % Beteiligung der Wahlberechtigten ist zu viel; ihr müsst das heruntersetzen, weil ihr 15 % gar nicht hinbekommt. – Jetzt müssen Sie mir diesen Widerspruch einmal erklären. Im Parlament sollen 66 % der Gewählten zustimmen, während Sie im Volksentscheid eine einfache Mehrheit für ausreichend halten.
Hier ist es meines Erachtens erforderlich, dass Sie sich mit uns gemeinsam – oder auch alleine – einmal Gedanken machen, welche Staatsform Sie wollen. Wollen Sie eine direkte Demokratie? Dann wünsche ich viel Spaß; denn dann schicken Sie wahrscheinlich jeden Samstag oder Sonntag Menschen in diesem Land zur Wahlurne. Oder sagen Sie, dass wir bei der parlamentarischen Demokratie bleiben und es den Menschen durch eine Veränderung beim Volksbegehren ermöglichen, das anzugreifen oder zu ändern, was als wichtig angesehen wird?
Wir sind doch in breiter Front dabei, gemeinsam zu überlegen, wie man beim Volksbegehren noch eine Erleichterung vornehmen kann. Im Wahlkampf haben wir alle dazu Stellung genommen. Nach den Sommerferien werden wir hier auch gemeinsame Anträge stellen, denke ich.
Das ist meine große Bitte. Ihr Antrag ist ja verständlich und in der Konsequenz für uns auch noch nachvollziehbar, liebe Kolleginnen und Kollegen. Nur zustimmen werden wir ihm kaum.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Bürgerinnen und Bürger in NRW wollen mehr Demokratie“, heißt es in der Problembeschreibung des von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurfs, liebe Piratenfraktion. So weit, so gut. Wahrscheinlich haben – das würde ich jetzt einmal vermuten – aus genau diesem Grund die Bürgerinnen und Bürger am 13. Mai dieses Jahres hier in Nordrhein-Westfalen zwei Parteien in die Regierung gewählt, die sich in diesem Bereich unheimlich viel vorgenommen haben und in der letzten Wahlperiode – das haben Sie eben geflissentlich unter den Tisch fallen lassen – auch viel erreicht haben.
erleichtert. Wie die Kolleginnen und Kollegen, die das begleitet haben, wissen, war auch das kein ganz einfacher Prozess. Wir haben Bürgerbegehren und Bürgerentscheide erleichtert. Wir haben die Stichwahl wiedereingeführt. Wir haben die Möglichkeit zur Abwahl von Oberbürgermeisterinnen und Oberbürgermeistern geschaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das sind Fortschritte. Wir haben uns aber auch viel vorgenommen. Hans-Willi Körfges hat eben schon einige Punkte angesprochen. Natürlich müssen wir an das Quorum bei den Volksbegehren herangehen. Wir haben auch die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre wieder auf der Agenda stehen. Außerdem haben wir uns vorgenommen, den neuen Stil, Betroffene zu Beteiligten zu machen, den wir mit der Minderheitsregierung in den letzten 20 Monaten etablieren konnten, fortzusetzen, das Ganze mit den Chancen des digitalen Wandels zusammenzubringen und Open Government in Nordrhein-Westfalen Wirklichkeit werden zu lassen.
Insofern halte ich Nordrhein-Westfalen schon für ein Land, das die große demokratische Revolution nicht so dringend braucht, wie das in dem Redebeitrag des Kollegen von der Piratenfraktion anklang.
Ich gebe durchaus zu, dass wir einige Punkte haben, an denen wir weiter arbeiten wollen. Allerdings frage ich mich schon, ob eine verbindliche Volksabstimmung über jede Verfassungsänderung in Nordrhein-Westfalen tatsächlich die große demokratische Revolution ist, als die Sie sie hier eben präsentiert haben.
Ich will Verfassungsänderungen noch ein bisschen einordnen; Herr Biesenbach hat auch schon einiges dazu gesagt. Eine Verfassungsänderung ist etwas, was es nicht einfach so gibt. Das macht man auch nicht einfach so hier in diesem Parlament. Viele Verfassungsänderungen bilden große gesellschaftliche Diskussionen ab. Erinnern Sie sich bitte beispielsweise an die Aufnahme des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen in die Verfassung. Da haben wir es nicht mit einer Idee zu tun, die irgendwelche Menschen in irgendwelchen Parlamenten sich ausgedacht haben, sondern mit der Abbildung von teilweise jahrzehntelangen gesellschaftlichen Debatten, die sich dann in einer Verfassungsänderung niederschlagen.
Weil Verfassungsänderungen etwas Besonderes sind, gibt es auch die besonderen Regelungen, die bereits angesprochen worden sind; denn Änderungen der Verfassung sollen übergreifend über die politischen Lagergrenzen erfolgen, damit die Verfassung einen langen und dauerhaften Bestand hat.
Ich will aber auf etwas eingehen, was mich deutlich mehr beschäftigt. Das sind die großen Linien und nicht alleine diese Frage der Volksabstimmung über eine Verfassungsänderung. Da haben wir als regie
rungstragende Fraktionen im Koalitionsvertrag den richtigen Weg vorgeschlagen. Wir wollen nämlich eine Verfassungskommission einführen, in der wir intensiv diskutieren wollen: Wie schaffen wir es, mehr Demokratie in Nordrhein-Westfalen zu verwirklichen – mit den vielen Punkten, die wir in der Vergangenheit schon diskutiert haben? Wie schaffen wir es, auch unser Parlament für die Zukunft fit zu machen und es zukunftsfest aufzustellen?
Herr Biesenbach, ich sehe es übrigens nicht so, dass direkte Demokratie und repräsentative Demokratie zwingende Gegensätze sein müssen. Direkte Demokratie ist aus unserer Sicht nach wie vor eine sinnvolle, wirkungsvolle, wirkmächtige Ergänzung zur repräsentativen Demokratie. Deshalb fördern wir sie auch.
Welchen Veränderungsbedarf gibt es bei unserer Verfassung im 21. Jahrhundert, in dem wir leben? Ich sehe da einige Eckpunkte, an denen wir gemeinsam arbeiten können. Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Welt, in der wir heute leben, eine andere ist als die Welt im Juni 1950, als die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen durch Volksentscheid angenommen wurde.
Wir haben das große Glück, in einem vernetzten, vereinten und friedlichen Europa leben zu dürfen. Im Zuge dieser europäischen Einigung gibt es eine ganz neue Rolle für die Nationalstaaten, aber auch für die Länder. Ich glaube, dass es diese großen Linien sind, die wir hier als Landtag und als Land Nordrhein-Westfalen gestalten müssen. Unsere Rolle wird es sein, die Diskussion zu führen, bei der es darum geht, unsere Rolle in einem vereinten und friedlichen Europa neu zu definieren und uns für das 21. Jahrhundert fit zu machen.
Ich bin überzeugt, das geht nicht mit der Brechstange, sondern nur auf der Basis einer sehr vernünftigen Debatte, an der sich viele beteiligen. Da wird dann sicherlich auch das Vorhaben, das Sie heute auf den Tisch gelegt haben, eine Rolle spielen. Diese Debatte wollen wir gemeinsam führen. Dazu haben wir uns bereits alle gegenseitig eingeladen. Ich hoffe, dass wir dann auch alle gemeinsam daran arbeiten. – Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Bolte. – Als nächster Redner kündigt die FDP Herrn Wedel an. Herr Wedel, auch Sie reden das erste Mal. Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrer Jungfernrede. Wir freuen uns auf Ihren Beitrag.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Piraten haben angekündigt, die Sommerpause für eine Einarbeitung in die The
men nutzen zu wollen. Da wundert es schon, dass man davor noch schnell drei sehr grundlegende Reformen aufruft: den Verfassungsschutz in die Polizeibehörden integrieren – undenkbar! –, das Kommunalwahlgesetz entscheidend ändern – darüber wurde gestern hier diskutiert – und schließlich die Voraussetzungen und Hürden für eine Änderung der Landesverfassung erhöhen – darüber sprechen wir nun hier.
Die Einbindung der Bürger in das Verfahren der Verfassungsänderung ist in den deutschen Verfassungen sehr unterschiedlich geregelt. Die Landesverfassungen von 14 Bundesländern gehen den Weg so oder so ähnlich wie derzeit Art. 69 Abs. 2 der nordrhein-westfälischen Landesverfassung. Eine Verfassungsänderung erfordert eine Zweidrittelmehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Parlaments. Zur Erschwerung der Verfassungsänderung ist also nicht nur eine erhöhte Mehrheit von Zweidritteln, sondern auch eine andere Bezugsgröße, nämlich nicht nur der anwesenden Mitglieder, sondern der der gesetzlichen Mitgliederzahl, festgeschrieben. Auch das Grundgesetz fordert dies in Art. 79, wobei zusätzlich Zweidrittel der Stimmen im Bundesrat notwendig sind.
In NRW kann die Verfassung nach Art. 69 Abs. 3 alternativ auch durch Volksentscheid geändert werden. Repräsentative und direkte Demokratie finden in NRW also nebeneinander statt.
Die Landesverfassung von Berlin schreibt nur bei Verfassungsänderungen, die die Bestimmungen über die Volksgesetzgebung betreffen, zusätzlich zur Zweidrittelmehrheit des Parlaments eine Volksabstimmung vor.
Ein obligatorisches Verfassungsreferendum für jede Verfassungsänderung wird alleine von zwei Landesverfassungen gefordert.
Hessen lässt dabei indes eine absolute Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Parlaments ausreichen, bevor der Volksentscheid mit einfacher Mehrheit der Abstimmenden zu erfolgen hat.
Allein Bayern fordert sowohl eine Zweidrittelmehrheit der Mitglieder des Landtags als auch zusätzlich einen Volksentscheid.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn die Piraten der nordrhein-westfälischen Verfassung die Lederhose überziehen wollen, müssen die Fragen erlaubt sein: Warum zu diesem Zeitpunkt? Warum isoliert, wo verschiedene weitere Verfassungsänderungen durch eine Verfassungskommission vorgesehen sind? Und insbesondere: Was spricht inhaltlich dafür, und welche Gegenargumente gibt es, warum außer Bayern kein anderes Bundesland es derzeit so macht?
Erstens. Wenn Ihr Gesetz die erforderliche Mehrheit finden würde, würde dies dazu führen, dass die Bürger in naher Zukunft über die beabsichtigte Absenkung des Quorums für Volksentscheide per zusätzlichen Volksentscheid selbst abstimmen müssten. Die Notwendigkeit, höhere Hürden vor der Beratung der avisierten Veränderungen zu den Art. 67 a und 68 der Landesverfassung zu beschließen, erschließt sich mir nicht.
Zweitens. Direkte Demokratie als Instrument unmittelbarer politischer Einflussnahme ist auch für die FDP wichtig. Ein Blick in die Gesetzesmaterialien des Art. 69 offenbart indes die komplexe und kontroverse Entstehungsgeschichte. Dies macht deutlich: Eine solch gravierende Änderung der Voraussetzungen für Verfassungsänderungen gehört in eine Verfassungskommission, in der die Fraktionen erst gemeinsam beraten und dann gegebenenfalls einen inhaltlich ausgereiften Gesetzentwurf gemeinsam einbringen.
Drittens. Sie haben einen Gesetzentwurf zu Art. 69 der Landesverfassung eilig vorgelegt, der fehlerhaft ist, weil er nicht bedenkt, dass der darin unverändert belassene Abs. 3 Satz 1 in Verbindung mit dem neuen Abs. 2 keinen Sinn machen würde. Denn nach gescheiterter Mehrheit im Parlamentsbeschluss oder Volksentscheid wäre die darin vorgesehene Möglichkeit zu einem gegebenenfalls weiteren Volksentscheid – noch dazu mit besonderem Quorum mit qualifizierter Mehrheit – kaum vermittelbar.
Viertens. Die bayerische Lösung hat Schwächen. Nicht nur, dass die kumulativen Hürden für Verfassungsänderungen extrem hoch sind, sondern in der Vergangenheit wurden in Bayern mehrere Verfassungsänderungen gleichzeitig im Rahmen eines einheitlichen Gesetzesbeschlusses des Landtags zu Volksabstimmungen vorgelegt, sogenannte Koppelungen. Der bayrische Verfassungsgerichtshof hat dies ausdrücklich zugelassen, da die Zweidrittelmehrheit im Parlament Kompromisse zwischen den Landtagsfraktionen erfordere und bei Entkoppelung der Regelungsgegenstände der nachgeschaltete Volksentscheid diesem Kompromiss nicht entsprechen könnte. Der Bürger stimmt dort also in der Regel über ein Gesamtpaket an Verfassungsänderungen ab.
Die FDP ist der Ansicht, dass wir gut beraten sind, diese grundlegende und komplexe Thematik in der Verfassungskommission fraktionsübergreifend ausführlich zu beraten.