Protocol of the Session on November 15, 2006

Sehr geehrte Frau Präsidentin!

(Fortgesetzt Zurufe – Glocke)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal bin ich als Sozial- und Arbeitsminister froh, dass der Landtag von Nordrhein-Westfalen über eine Frage diskutiert, die Millionen von Menschen in diesem Land bewegt.

(Beifall von der CDU – Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Ja!)

Wir haben Untersuchungen, dass ein Drittel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Das sind über 8 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland.

(Sylvia Löhrmann [GRÜNE]: Und warum ha- ben Sie dann keine Regierungserklärung abgegeben? Warum mussten wir erst eine Aktuelle Stunde beantragen?)

Wir haben Untersuchungen darüber, dass die Menschen bei den großen Konzernen heute die meiste Angst haben. Weniger Angst haben die bei den familiengeführten Unternehmen.

(Zuruf von Carina Gödecke [SPD])

Deswegen ist erst einmal eine Politik der Landesregierung gerade für diesen Wirtschaftsbereich auch eine richtige Politik für Arbeitnehmer.

(Reiner Priggen [GRÜNE]: Ladenöffnungs- gesetz! – Norbert Römer [SPD]: LEG- Verkauf!)

Dass sich die Menschen bei den Konzernen nicht mehr wohlfühlen, machen die Beispiele BenQ und Allianz in Nordrhein-Westfalen – trotz höchster Gewinne auch bei Siemens – sehr deutlich.

(Zuruf von den GRÜNEN)

Ich glaube, dass in dieser Situation schon eine Debatte notwendig ist, ob unsere sozialen Sicherungssysteme in dieser globalisierten Welt wirklich

noch den Sicherheitsinteressen von gut ausgebildeten und fleißigen Menschen entsprechen – und gerade von Menschen, die über Jahrzehnte Solidarität als Steuer- und Beitragszahler für diesen Staat und seine Sozialkassen geleistet haben.

(Beifall von CDU und FDP)

Dann kommt man zu einer zweiten Frage: Wie es denn, wenn jemand arbeitslos wird? Ein Mensch in Nordrhein-Westfalen, der arbeitslos wird und unter 25 Jahre alt ist, findet im Schnitt nach 4,6 Monaten wieder eine Arbeit. Bei einem Menschen, der zwischen 25 und 50 Jahren ist, ist das nach 11,6 Monaten der Fall. Wer zwischen 50 und 55 Jahren alt ist, findet erst nach 17,2 Monaten eine neue Arbeit, und wer 55 Jahre und älter ist, erst nach 22 Monaten.

(Ralf Jäger [SPD]: Das ist Statistik- Jonglage!)

Das zeigt, dass die Welt zurzeit auf dem Arbeitsmarkt so ist: Je älter jemand ist, desto schwieriger ist es, eine Brücke aus der Arbeitslosigkeit in eine neue sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu finden.

(Johannes Remmel [GRÜNE]: Das ist eine Binsenweisheit! – Weitere Zurufe von der SPD)

Deswegen ist der Vorschlag, der in die politische Debatte unseres Landes eingefügt wurde, denjenigen, der über viele Jahre Beiträge geleistet und Solidarität gegenüber anderen, dem Staat und seinen Sozialversicherungen erwiesen hat, ein Stück weit länger schützen als denjenigen, der das nicht getan hat, ein mir sehr sympathischer Gedanke.

(Zuruf von Ralf Jäger [SPD])

Wer dann behauptet, die Arbeitslosenversicherung sei immer nur eine Risikoversicherung gewesen, der irrt. Wir haben nämlich in der Arbeitslosenversicherung immer Menschen abgesichert und Beiträge zahlen lassen – zum Beispiel die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes –, die bei weitem nicht ein solches Arbeitsplatzverlustrisiko tragen wie die Kolleginnen und Kollegen, die in der Bauwirtschaft ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen müssen. Wir haben nie risikoabhängige Beiträge – etwa nach Branchen unterschiedlich – gehabt. Deswegen ist dieser Vorschlag richtig.

Unserem Vorschlag gegenüber wird der Vorwurf erhoben, dadurch würde Frühverrentung gefördert. Wissen Sie eigentlich, worüber Sie reden? – Die 58er-Regelung läuft Ende 2007 aus. Die Möglichkeit, mit 55 Jahren in Altersteilzeit zu gehen,

läuft Ende 2009 aus. Wann kann man in Deutschland eigentlich noch in Rente gehen?

Lassen Sie mich Ihnen ein konkretes Beispiel geben: Ein im Dezember 1948 geborener Mann möchte heute vorzeitig in den Ruhestand gehen. Es gibt für ihn nicht mehr viele Möglichkeiten. Die Rente wegen Arbeitslosigkeit kann unser Mann frühestens ab 63 Jahren in Anspruch nehmen, dann aber mit einem Rentenabschlag von 7,2 %.

Altersrente für langjährig Versicherte kann er erst ab 62 Jahren mit einem Rentenabschlag von 9 % in Anspruch nehmen.

Es ist ja politisch richtig, dass der gesamte Vorruhestand ab nächstes Jahr vorbei ist. In einer Debatte darüber, wie ich mich vor Hartz rette, wenn ich in höherem Alter arbeitslos werde, aber nicht einmal mehr die Möglichkeit habe, mit Abschlägen in Rente zu gehen – was ich für richtig halte –, wird noch ein ganz anderer Druck entstehen, als wir ihn heute haben.

(Beifall von CDU und FDP)

Ich möchte Sie bitten, dass wir diese Diskussion sehr ernst nehmen. Es gibt auch Untersuchungen darüber, dass nur noch etwa 10 % der Menschen Vertrauen in Politiker haben. Das trifft uns im Übrigen alle. Aber wenn man derart über die Ängste der Menschen und ihre realen Lebenssituation hinweggeht, wie es hier aus parteipolitischen Gründen SPD und Grüne getan haben, muss man sich nicht wundern, dass die Situation in diesem Lande so erbärmlich geworden ist!

(Beifall von CDU und FDP – Rainer Schmelt- zer [SPD]: Unverschämt!)

Der Vorwurf wird erhoben, das gehe verwaltungstechnisch nicht.

(Ralf Jäger [SPD]: Heuchlerpolonaise!)

Ich lache mich kaputt: Sind Sie so weit von der Lebenswirklichkeit entfernt, dass Sie keine Rentenbescheide mehr kennen? In einem Rentenbescheid können Sie die gesamte Erwerbsbiografie eines Menschen auf drei oder vier Seiten abbilden. Jedes Mitglied der Arbeitslosenversicherung ist Mitglied der Rentenversicherung; anders geht es gar nicht. Somit kann Herr Weise eine Vereinbarung mit der Deutschen Rentenversicherung treffen, um die Daten abzugleichen. Denn seine Computersysteme funktionieren bis heute noch nicht. So sieht die Wahrheit in der Umsetzung der Administration von Hartz aus!

(Rainer Schmeltzer [SPD]: Halbe Wahrheit!)

Noch etwas: Dieser Antrag enthält darüber hinaus zwei wesentliche Elemente, über die Sie mit uns reden sollten. Ich war damals Mitglied des Bundestages und kritisiere es nicht: Die Rentenformeln, die das bewirken, sind alle beschlossen. Wenn jemand durchschnittlich verdient – das besagen diese Rentenformeln –, ein ganz normales Angestellten- beziehungsweise Arbeitnehmergehalt hat, muss er im Monat etwa 50 € sparen, um dann, wenn er in 25 oder 30 Jahren in Rente geht, die gleiche Kaufkraft zu haben wie die jetzige Rentnergeneration nach einer dementsprechenden Erwerbsbiografie.

Und wenn die Leute mit 50 oder 55 Jahren in Hartz kommen, lassen wir ihnen ganze 16.250 € für die Alterssicherung. Das entspricht einer Zusatzrente von 87 €!

(Bodo Wißen [SPD]: Ihr wart doch dabei!)

Das haben wir immer kritisiert. Und wenn man jetzt einsieht, dass es so ist, lasst uns doch den Betrag auf – wie wir es vorschlagen – 700 € erhöhen. Das entspricht einer Zusatzrente von 280 €. Das ist doch nichts Übertriebenes!

(Beifall von CDU und FDP)

Wollen Sie als Sozialdemokraten denn dafür stehen, dass wir die Leute bei den Brüchen, die im Leben immer häufiger passieren, immer wieder arm machen? Wollen Sie dafür wirklich stehen? Glauben Sie, dass Sie das vor Ihren Mitgliedern, Ihren Wählern und den Bürgern in NordrheinWestfalen verantworten können? Glauben Sie das wirklich?

(Lebhafter Beifall von CDU und FDP)

Nehmen wir einen anderen Punkt unseres Antrags: Es gibt in diesem Land Menschen, die nur deshalb bei Hartz sind, weil sie ein Kind bekommen haben. Ihr Einkommen, das sie im ersten Arbeitsmarkt erzielen, reicht beispielsweise für den Unterhalt einer alleinerziehenden Mutter. Nur weil sie ein Kind bekommen hat, muss diese Mutter in Hartz. Weil sie in Hartz ist, muss sie zu einer Behörde gehen, wo sie sagen muss, wie groß ihre Wohnung ist und ob sie mit jemandem zusammenlebt.

Das ist in einem Abhängigkeitssystem, das sich an Bedürftigkeit orientiert, alles in Ordnung. Aber nur weil jemand ein Kind hat, in ein solches System zu kommen, obwohl er selber leistet und auf dem ersten Arbeitsmarkt Geld verdient, ist schlicht und ergreifend nicht richtig. Deswegen ist unser Vorschlag richtig, einen Kindergeldzuschlag einzuführen, der funktioniert und diesen betroffenen

Menschen die Behördengänge über die Entwicklung der Grundsicherung erspart.

Deswegen wäre es sinnvoll, wenn Sie sich mit uns daran beteiligen. Sie sollten aus dem Arbeitnehmerland Nordrhein-Westfalen, das immer für das Soziale in der Bundesrepublik Deutschland gestanden hat, nicht ein Land mit einem Grabenkrieg machen, sondern sich mit uns dafür einsetzen, die Lebensbedingungen von real existierenden Menschen in diesem Land so zu verändern, wie wir es in der Tendenz vorschlagen! – Schönen Dank.

(Lang anhaltender Beifall von CDU und FDP)

Danke schön, Herr Minister Laumann. – Für die SPD spricht nun Frau Kraft. Bitte schön.

(Volkmar Klein [CDU]: Es ist schon alles ge- sagt worden! – Zurufe von SPD und GRÜ- NEN – Unruhe – Glocke)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist schon alles gesagt, ruft der Kollege Klein hier hinein. Nur ist das Problem: Es ist nichts zum Thema gesagt worden, Herr Kollege Klein.

(Beifall von SPD und GRÜNEN)

Es ist schon interessant: Die Art, wie Sie hier Politik machen, zeigt, dass Sie immer noch nicht in der Regierung angekommen sind.