Außerdem müssen mehr Kursleiter für diese Kurse qualifiziert werden. Die Aus- und Fortbildung der Kursleiter muss gesichert werden. Es muss eine Berufsausbildung zum Alphabetisierungs- und Grundbildungspädagogen erfolgen.
Meine Damen und Herren, es reicht eben nicht aus, den Dialog zu intensivieren, wie im CDUAntrag geschrieben ist, oder um Verständnis zu werben, wie Frau Vockert gerade gesagt hat. Vielmehr muss sich mit Nachdruck für Maßnahmen eingesetzt werden. Daher darf man es nicht bei den fünf regionalen Grundbildungszentren in Braunschweig, Hannover, Lüneburg, Oldenburg
und Osnabrück belassen, sondern muss man auch z. B. den Südosten des Landes, also den Bereich um Göttingen, mit bedenken. Wir brauchen hier ein wirklich flächendeckendes Modell, meine Damen und Herren.
Von der Agentur für Erwachsenenbildung und Weiterbildung und vom Landesverband der Volkshochschulen ist hierfür ja auch ein Konzept entwickelt worden. Doch wenn dieses Konzept von den Grundbildungszentren umgesetzt werden soll, dann müssen diese auch mit ausreichend Mitteln ausgestattet werden. Das Konzept sieht vor, niedrigschwellige Angebote bei bildungsfernen und lernungewohnten Personen im Sinne einer aufsuchenden Bildungsarbeit auszubauen. Durch direkte Werbung im Rahmen von Netzwerkarbeit sollen Betroffene erreicht werden. Arbeitsplatzorientierte Weiterbildungsangebote sollen geschaffen werden. Erfahrungen mit Grundbildung im Rahmen betrieblicher Weiterbildung liegen vor.
Es soll auch mit regionalen Jobcentern zusammengearbeitet werden. Dabei muss man allerdings sehen, dass mit der Arbeitsagentur in der Frage der Förderfähigkeit von Grundbildungskursen derzeit noch mit Schwierigkeiten zu kämpfen ist. In dieser Hinsicht bedarf es also noch einiger Klärungen.
Außerdem sollen neue Formen der Zielgruppenansprache und der Öffentlichkeitsarbeit entwickelt werden.
Das alles sind hehre Ziele, die auch richtig sind, meine Damen und Herren. Aber das können die Grundbildungszentren, die gebildet worden sind, mit dem Etat von 24 000 Euro pro Jahr flächendeckend einfach nicht leisten. Da muss mehr Butter bei die Fische, meine Damen und Herren!
Auch für die zentrale Koordinierung müssen wir ausreichend Mittel zur Verfügung stellen. Wir könnten uns vorstellen, dafür eine Stelle beim Landesverband der Volkshochschulen einzurichten. Neben den Volkshochschulen sollten auch den Landeseinrichtungen der Erwachsenenbildung gesondert Mittel zur Verfügung gestellt werden, damit sie in diesem Sektor mehr Maßnahmen ergreifen können.
Das alles haben wir in unserem Änderungsantrag in der Drs. 16/5000 formuliert. Die entsprechenden Vorschläge hatten wir zuvor in die Ausschussberatungen eingebracht, aber CDU und FDP hielten die Verbesserung ihres eigenen Antrages in diesem Sinne leider für nicht nötig. Das bedauern wir sehr.
Deshalb und weil wir weitergehende Forderungen haben, werden wir für unseren Antrag und gegen den Antrag der Mehrheitsfraktionen stimmen. Es ist leider anzunehmen, dass sich die Mehrheit durchsetzt. Daher werden unsere Forderungen erst ab dem 20. Januar nächsten Jahres umgesetzt werden können.
Die nächste Wortmeldung kommt von Frau Dr. Heinen-Kljajić für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor. Ich erteile Ihnen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Frau Vockert, die Entscheidung, die Angebote im Bereich der Grundbildung aufzustocken, war längst überfällig; darin sind wir uns sicherlich alle einig. Die Einrichtungen der Erwachsenenbildung - aber eben nicht nur die, sondern auch andere - weisen schon lange darauf hin, dass das Angebot die Nachfrage längst nicht mehr bedienen kann. Von daher war es auch durchaus sinnvoll, dass die KMK den Grundbildungspakt geschlossen hat.
Jetzt kommt es aber darauf an, wie das Ganze umgesetzt wird. Ihr Antrag, Frau Vockert, beschreibt hier aber leider nur das, was für Niedersachsen schon beschlossen und umgesetzt ist, nämlich die Einrichtung von fünf regionalen Grundbildungszentren. Dazu, wie es nach dieser Pilotphase weitergehen soll, also was jenseits dieser Zentren passieren soll, ist in Ihrem Antrag jedoch nichts zu finden. Streng genommen war Ihr Antrag also schon erledigt, bevor wir ihn heute beschließen werden.
Darüber hinaus stört uns an dem Antrag die Fixierung auf die Volkshochschulen. Frau Vockert, Sie verweisen in Ihrem Antrag darauf, dass die Volkshochschulen im Bereich der Grundbildung jede Menge Erfahrungen haben. Das bestreitet auch niemand. Aber diese Bewertung können auch andere Einrichtungen der Erwachsenenbildung für sich in Anspruch nehmen. Daher wäre es sinnvoll gewesen, wenn Sie in dem Antrag zumindest ein paar Worte darüber verloren hätten, wie diese anderen Einrichtungen der Erwachsenenbildung künftig eingebunden werden sollen, zumal manche wie beispielsweise „Arbeit und Leben“ oder das
Bildungswerk ver.di einen deutlich besseren Zugang zu der Zielgruppe haben, eben weil sie den engeren Kontakt zu den Betrieben haben, in denen wir sie finden.
Gänzlich fehlt in Ihrem Antrag im Übrigen die aufsuchende Beratung. Diesen Aspekt hatte ich bei der ersten Beratung im Ausschuss angesprochen. Gerade die Klientel mit Grundbildungsdefiziten - Sie sprachen soeben zu Recht den Aspekt der Scham an - ist ja nicht unbedingt aus eigenem Antrieb unterwegs, Bildungsberatung oder die Volkshochschule aufzusuchen. Daher fordern wir seit Langem, dass die vom Land geförderte Bildungsberatung aufgestockt und ausgeweitet wird, um auch Angebote wie die aufsuchende Beratung verstärkt anbieten zu können. Ich meine, an dieser Stelle würde so etwas Sinn machen.
Bei der Grundbildung geht es darum, nicht nur hinsichtlich der Lesekompetenz, sondern auch im Übrigen das Bildungsniveau der Sekundarstufe I zu erreichen. Auch insofern bleibt der Antrag hinter der Herausforderung zurück.
Meine Damen und Herren, so notwendig es ist, Angebote vorzuhalten, die die Defizite der Schulausbildung ausgleichen, so dringlich ist es aber natürlich auch, das Schulsystem zu reformieren; denn nicht die Erwachsenen mit Leseschwäche oder ohne Schulabschluss haben versagt, sondern das Bildungssystem hat versagt.
Die PISA-Studien zeigen, dass Deutschland nicht nur in Sachen Lesekompetenz weit abgehängt ist. Niedersachsen hat sich zwar inzwischen von den Kellerplätzen ins untere Mittelfeld vorgearbeitet, aber bei der Lesekompetenz liegen wir immer noch auf Platz 12. Wir haben eine Schulabbrecherquote von 7,4 %, und in den Förderschulen verlassen traurigerweise 75,6 % der Schülerinnen und Schüler die Schule ohne Abschluss. Ich finde, das ist beschämend.
Warum spreche ich das Thema Schule jetzt überhaupt an? - Ich spreche es an, weil natürlich gilt, dass wir Angebote auch für diejenigen machen müssen, die jetzt nicht mehr im Schulsystem sind. Aber solange Sie sich einer Schulreform verweigern, perpetuieren Sie das Problem der mangelnden Grundbildung. Daher finde ich, gehört an dieser Stelle auch dieser Aspekt angesprochen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verstecken ist ein lustiges Spiel für Kinder. Aber Verstecken ist bittere Realität für erwachsene Analphabeten. Ich finde, unser Antrag kommt genau zu rechten Zeit; denn wie viele Analphabeten es wirklich gibt, ist erst seit jüngster Zeit bekannt: 7,5 Millionen in Deutschland. Von den 8 Millionen Einwohnern in Niedersachsen ist das ungefähr ein Zehntel. Das sind etwa 750 000 Menschen, die sich verstecken. Sie verstecken und schämen sich.
Analphabeten auszumachen und sie anzusprechen, ist genau deswegen so schwierig. Aber es ist genau deswegen auch so wichtig; denn uns allen muss daran liegen, sie aus dieser Lage zu befreien. Sie brauchen gezielte Bildungsangebote. Sie wollen einerseits unentdeckt bleiben. Aber wenn ich an eine Betroffene denke, dann schlussfolgere ich nur eines: Sie wollen diese Bildungslücke schließen.
Ich habe eine Veranstaltung bei der Volkshochschule in Braunschweig besucht, wo eine Frau mit Migrationshintergrund saß. Sie war erwachsen. Sie konnte inzwischen lesen und schreiben, wollte aber anonym bleiben und wollte auch keine Fotos von sich. Sie konnte sich früher nicht selbst informieren, also auch nicht über Printmedien und auch nicht über irgendwelche Angebote, die man für das tägliche Leben braucht. Sie schilderte, was ihr aber ganz besonders fehlte: Sie konnte ihre Kinder bei den Hausaufgaben nicht unterstützen. Sie konnte den Kindern nicht vorlesen. Sie trug ihr Problem damit nämlich in die nächste Generation. Das war das, was dieser Mutter richtig weh tat.
Das ist ein Problem, und das ist nicht das Problem der deutschen Schulen. Sie hat übrigens lesen und schreiben gelernt, und das Angebot der Volkshochschule erreichte sie. Happy End!
Ohne Lese- und Schreibkenntnisse sind nämlich auch Konflikte im Alltag vorprogrammiert. Wie soll man eine Fahrkarte am Automaten kaufen können? Oder viel wichtiger: Wie informiert man sich als Wähler? Wie nimmt man am Leben der Gesellschaft teil?
Einen ganz anderen Aspekt sprach Herr Wulf vorhin kurz an, ohne ihn zu Ende zu führen, nämlich den Arbeitsalltag. Man kann als Analphabet keine
Betriebsanweisungen und keine Sicherheitsanweisungen lesen. Man kann sie dann auch nicht anwenden. Das kann durchaus sicherheitsrelevante Auswirkungen haben. Praktisch veranlagte Menschen können sich beruflich nicht weiterentwickeln. Sie sagen nichts, sie verstecken sich.
Das Interesse am Lesen muss frühzeitig geweckt werden. Wer lesen kann, hat es in der Schule leichter. Auch Mathematik erschließt sich mit Lesen: Eingekleidete Aufgaben werden dann lösbar. Ich erwähne das an dieser Stelle nur noch einmal wegen unserer erfolgreichen MINT-Initiative.
Stimmen Sie also bitte diesem Antrag zu. Ich finde, er kommt zur rechten Zeit und spricht genau das richtige Thema an. Weg mit diesem Tabu - hin zur Alphabetisierung!
Die nächste Wortmeldung kommt von Herrn Perli von der Fraktion DIE LINKE. Sie haben das Wort, Herr Perli.
Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fehlende Grundbildung und Analphabetismus sind auch im hoch industrialisierten Deutschland keine Randerscheinung, sondern ein Problem in der Mitte der Gesellschaft. Es gibt 7,5 Millionen funktionale Analphabeten im Alter von 18 bis 64 Jahren, also Menschen, die beim Lesen längerer Texte gravierende Verständnisschwierigkeiten haben.
Das dokumentiert in erschreckender Art und Weise, dass unser Bildungssystem millionenfach daran scheitert, Menschen elementarste Kompetenzen zu vermitteln.
Die vorliegenden Anträge zeugen von Problembewusstsein, aber sie gehen kaum über eine Willensbekundung hinaus. Eine aktive, zielgerichtete und nachhaltige Problemlösung wird nicht in Angriff genommen.
Der Antrag von CDU und FDP enthält Punkte, die die Landesregierung sowieso schon beschlossen und verkündet hat, z. B. die Einrichtung und Unterstützung von Grundbildungszentren. Dazu brauchen wir Ihren Antrag nicht. Ebenso trägt Niedersachsen den gemeinsamen Grundbildungspakt
von Bund, Ländern und der Zivilgesellschaft bereits mit. Ihr Antrag ist überholt und plakativ. Dabei wären größere Anstrengungen dringend geboten.
Auf Basis der bundesweiten Zahlen geht die Landesregierung von einer dreiviertel Million funktionaler Analphabeten in Niedersachsen aus. 750 000 Betroffene! Gleichzeitig haben wir 9 000 Menschen in den Alphabetisierungskursen, also 1,2 %.
Meine Damen und Herren, mit ein paar Grundbildungszentren mehr kann man dieses Problem nicht lösen. Das muss angesichts dieser Dimension allen Beteiligten klar sein. Die Vereinten Nationen haben für die Weltalphabetisierungsdekade bis 2012 das Ziel beschlossen, die Zahl der funktionalen Analphabeten zu halbieren. Mit einem solch mickrigen Angebot, wie Sie es hier auf den Weg bringen, wird Niedersachsen an diesem Ziel auch in den nächsten zehn Jahren scheitern - leider.
Das gilt auch für den Antrag der SPD, der zwar konkreter ist als jener der CDU und der FDP, aber auch ihr Antrag hat zwei Haken. Erstens ist die Zahl von bundesweit 100 000 Alpha-Kurs-Plätzen wenig ambitioniert. Zweitens halten wir eine einschlägige Berufsausbildung zum Alphabetisierungs- und Grundbildungspädagogen für zu speziell und ihre Einsetzbarkeit für arg begrenzt. Großbritannien hingegen, meine Damen und Herren, hat landesweit 3,6 Milliarden Euro in Alphabetisierungskurse gesteckt. Davon sind wir hier weit entfernt.
Die Linke will Angebote in der Fläche aufbauen, gemeinsam mit Gewerkschaften, Verbänden und Vereinen jeder Couleur an einem Klima arbeiten, das den Betroffenen Mut macht, ohne Angst und ohne Scham die Angebote wahrzunehmen. Für viele von ihnen war der Besuch von Bildungseinrichtungen mit frustrierenden und teilweise auch erniedrigenden Erfahrungen verbunden. Deshalb ist es sehr wichtig, dass die Lehrkräfte in der Erwachsenenbildung und in den Volkshochschulen für die gute und wichtige Arbeit, die sie leisten, endlich ordentlich entlohnt werden.