Protocol of the Session on July 18, 2012

(Beifall bei der LINKEN)

Normal ist bisher ein Stundenhonorar von vielleicht 18 Euro ohne soziale Absicherung. Wir brauchen stattdessen Arbeitsplätze mit Perspektive, mit sozialer Absicherung und mit einem Einkommen, von

dem man leben kann. Aus all diesen Gründen sagen wir Ja zu mehr und besserer Grundbildung, aber Nein zum Schaufensterantrag von CDU und FDP.

(Beifall bei der LINKEN)

Für die Landesregierung spricht jetzt Frau Ministerin Professorin Wanka. Bitte sehr, Sie haben das Wort.

Vielen Dank. - Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als die eben mehrfach erwähnte leo.-Studie herauskam, war der Schock zweifach: Alle wussten, dass es in Deutschland funktionalen Analphabetismus gibt, aber der erste Schock war die Größenordnung, nämlich 14 %. Der zweite Schock war, dass es nicht so war, wie man immer dachte, nämlich dass Leute mit Migrationshintergrund oder ältere Leute betroffen sind - vielleicht hat der Krieg oder etwas anderes eine Rolle gespielt -, sondern dass auch sehr viele junge Leute betroffen sind, also junge Leute, die unser Schulsystem durchlaufen haben, und trotzdem Analphabeten sind.

Ich kann es auch nicht auf das Thema „Wir brauchen die Grundbildung wegen der Fachkräftesituation“ reduzieren; denn diese funktionalen Analphabeten haben oft als Fachkräfte gearbeitet. Zum Beispiel der eine Mann, von dem Frau Vockert berichtet hat. Er hat 36 Jahre lang als Tischler gearbeitet. Er ist hoch qualifiziert. Natürlich ist der Fachkräfteaspekt wichtig. Aber auch der individuelle Aspekt ist für die Betroffenen wichtig. So hat sich dieser Analphabet mit 55 Jahren geoutet - zur Verwunderung aller Kollegen: „Du doch nicht!“ - und hat dann diese Alphabetisierungskurse besucht. Jetzt liest er. Er sagt: Das ist wie ein zweites Leben. - Ein Aspekt für ihn war - das klingt jetzt ein bisschen lächerlich, klang aber ganz glaubwürdig -, dass er jetzt essen kann, was er will. Im Lokal hat er vorher immer gesagt, dass er das nimmt, was der Kollege bestellt hat, weil er keine Speisekarte lesen konnte. Auch um solche elementaren Dinge geht es! Das heißt, es geht auch um das individuelle Lebensgefühl, um das Ermöglichen.

In Niedersachsen - auch das wurde schon erwähnt - sind bisher Jahr für Jahr 1 Million Euro ausgegeben worden. Die Zahl der Menschen, die man erreicht, ist viel zu niedrig. Dass sie viel zu

niedrig ist, liegt nicht am Geld, sondern an der Schamgrenze und an der Schwierigkeit, diese Menschen zu erreichen.

Nach der Studie kamen die intensiven und sehr schnellen Bemühungen von Bund und KMK: die Nationale Strategie für Alphabetisierung und Grundbildung. Herr Wulf, Sie haben gerade gesagt, das alles sei Ihnen viel zu unkonkret. - Vielleicht haben Sie einen gewissen Einfluss auf die SPD-Kollegen unter den Kultusministern. Herr Lange - Herr Althusmann war damals Präsident - hat damals verhandelt. Wir wollten es sehr viel konkreter. Das haben die anderen aber herausgestrichen. Also leben wir jetzt mit dem, was auf dem Papier steht.

Auf dem Papier steht als erster Aspekt, Grundbildungszentren einzurichten. Nun schauen Sie sich mal in der Bundesrepublik Deutschland um: Wo haben wir jetzt Grundbildungszentren? - Die haben wir on top zu der 1 Million Euro sofort eingerichtet und natürlich sofort mit einer Anschubfinanzierung versehen. Wir richten die Zentren nicht nur ein und schieben sie an, um sie dann nicht kontinuierlich weiterzubetreiben. Die Finanzierung - das werden wir in einem Vertrag mit der Erwachsenenbildung ganz klar machen - wird also ausgeweitet. Dieses Geld kommt zusätzlich. Das ist fest verabredet.

Ich finde es schon ein bisschen schamlos, Herr Perli, wenn Sie hier sagen: Das ist alles unsinnig! 125 000 Euro - was ist das schon? - Dieser Betrag dient nur dem Anschub der Grundbildungszentren.

Ihre Partei regiert jetzt in einem Land mit, in dem ich viele Jahre war: in Brandenburg. Da gibt man für das gesamte Thema einschließlich aller Kurse 50 000 Euro aus.

(Victor Perli [LINKE]: Das haben Sie gut vorbereitet, Frau Wanka! - Hans- Henning Adler [LINKE]: Da waren Sie ja zuständig!)

Angesichts dessen sollten Sie sehr bescheiden sein. Es ist Ihr Finanzminister, der dafür sorgt, dass dort nicht ordentlich Geld dafür ausgegeben wird.

Ich glaube, dass wir die Möglichkeiten der Grundbildungszentren unterschätzen. Diese Zentren betreiben nicht selbst die Alphabetisierung, sondern bilden die Unterrichtenden weiter und sind Ansprechpartner z. B. für Leiter von Betrieben. Wir müssen über diesen Weg an die Menschen herankommen. Wie soll man sie sonst erreichen? - Wir haben es nicht nur mit Scham, sondern auch mit

Unkenntnis zu tun. Die Grundbildungszentren sind da sozusagen Angelpunkte.

Frau Heinen-Kljajić, Sie sprachen die Bildungsberatung an. Wir wollen die Bildungsberatungsstellen, die wir haben, weiterführen. Aber das allein ist nicht die Lösung.

Im Rahmen der Europäischen Union wird es mit den ab 2014 geltenden Programmen möglich sein, dass Niedersachsen ESF-Mittel für den Grundbildungsbereich und insbesondere für den Förderschwerpunkt „Bildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen gegen die soziale Vererbung des Analphabetismus“ einsetzt. Das wird ein zentraler Punkt sein, für den wir Gelder bereitstellen werden. Denn der Analphabetismus ist zum Teil vererbbar; er ist zum Teil ein Teufelskreis.

Meine Damen und Herren, Niedersachsen hat im Vergleich aller Bundesländer im Hinblick darauf, was bisher gegen Analphabetismus getan wurde, eine sehr gute Position. Mit unserer schnellen Reaktion auf die nationale Strategie liegen wir weit vorn. Bei diesem Thema ist nicht das Geld entscheidend. Entscheidend ist, die richtigen Möglichkeiten und Wege zu finden. Das sollten wir gemeinsam wollen. Wir sollten dieses Thema nicht parteipolitisch verhackstücken.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Wir sind am Ende der Beratung.

Wir kommen zur Abstimmung.

Der auf Annahme in einer geänderten Fassung zielende Änderungsantrag entfernt sich inhaltlich vom ursprünglichen Antrag. Wir stimmen daher zunächst über diesen Änderungsantrag ab. Falls er abgelehnt wird, stimmen wir anschließend über die Beschlussempfehlung ab.

Wer dem Änderungsantrag der Fraktion der SPD in der Drs. 16/5000 zustimmen will, den bitte ums Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Dem Änderungsantrag wurde nicht gefolgt.

Wir kommen daher zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses.

Wer der Beschlussempfehlung des Ausschusses folgen und damit dem Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP in der Drs. 16/4286 unverändert

annehmen will, den bitte um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Das Erste war die Mehrheit. Der Beschlussempfehlung des Ausschusses ist gefolgt worden.

Wir verlassen diesen Tagesordnungspunkt und ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:

Abschließende Beratung: Das Recht auf Unversehrtheit gilt auch für intersexuelle Menschen - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 16/4442 - Beschlussempfehlung des Ausschusses für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration - Drs. 16/4990

Der Ausschuss empfiehlt Ihnen, den Antrag in geänderter Fassung anzunehmen.

Eine Berichterstattung ist nicht vorgesehen.

Wir treten in die Beratung ein. Für die SPDFraktion hat sich Frau Tiemann zu Wort gemeldet. Ich erteile Ihnen das Wort.

(Vizepräsidentin Astrid Vockert über- nimmt den Vorsitz)

Danke. - Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als intersexuell werden Menschen bezeichnet, die zwischen oder mit zwei Geschlechtern leben. Als Synonyme werden Begriffe wie „Hermaphroditen“, „Zwitter“ und „Androgyne“ verwendet.

In der Natur gibt es Pflanzen und Tiere, die sowohl über das männliche als auch über das weibliche Geschlecht verfügen. Nur bei uns Menschen erscheint es uns etwas merkwürdig, wenn eine eindeutige Geschlechtszuordnung nicht vorgenommen werden kann.

Laut einer Studie werden in Deutschland pro Jahr zwischen 150 und 340 Kinder geboren, die als intersexuell bezeichnet und klassifiziert werden. Die Gesamtzahl der Betroffenen mit schwerwiegenden Abweichungen der Geschlechtsentwicklung liegt nach Angaben der Bundesregierung zwischen 8 000 und 10 000. Der Verband der Intersexuellen spricht allerdings von 100 000 betroffenen Menschen.

Intersexualität ist für die Eltern und für die Kinder ein sehr schwieriges Thema. Gesellschaftlich wird es meistens totgeschwiegen - thematisch ein Tabu, körperlich ein Stigma.

Wenn nach der Geburt schon anhand der äußeren Geschlechtsmerkmale Intersexualität sichtbar ist, werden die meisten Kinder operiert. Die Eltern legen dann zusammen mit den Ärzten das Geschlecht fest. Da es in vielen Fällen chirurgisch einfacher ist, wird oft entschieden, diese Kinder zu Mädchen zu operieren. Wenn diese Entscheidung falsch war, ist es oft unmöglich, diese Operation rückgängig zu machen.

Meine Damen und Herren, es ist unbedingt nötig, die Angehörigen der beteiligten Gesundheitsberufe weiterzubilden, damit sie sich dieser Spezifika annehmen können.

(Beifall bei der SPD)

Einer Umfrage zufolge leiden fast zwei Drittel der intersexuellen Menschen an einer sehr hohen psychischen Belastung. Das verwundert nicht. Ähnlich sieht es bei den Eltern aus. Die Beratungs-, Begleitungs- und Betreuungsangebote in Niedersachsen müssen intensiviert werden.

Der Deutsche Ethikrat hat Anfang dieses Jahres eine Stellungnahme zum Thema Intersexualität erarbeitet. In vielen Punkten decken sich die Erkenntnisse des Ethikrates mit unserem Antrag. Zum Beispiel fordern wir, die Krankenakten nach Operationen länger aufzubewahren und die Beratung zu verbessern.

Meine Damen und Herren, für uns haben alle Menschen, egal welchen Geschlechtes, das Recht auf Unversehrtheit.

(Beifall bei der SPD)

Sie haben auch das Recht auf eine gesetzliche Anerkennung ihres Geschlechtes. Zurzeit gibt es nur zwei Möglichkeiten. Das heißt, diese Menschen sind, rein rechtlich betrachtet, gar nicht vorhanden. Dies verstößt in unseren Augen gegen das Grundgesetz.

(Beifall bei der SPD und Zustimmung von Miriam Staudte [GRÜNE])

Intersexuelle Menschen sind im Raster unserer gerechten und sozialen Ordnung bisher schlicht und ergreifend nicht vorgesehen. Das wollen und das müssen wir ändern. Darauf zielt der vorliegende Antrag.

Wir haben uns in diesem Hause schon 2009 mit dieser Thematik auseinandergesetzt. In dem damaligen Antrag der Linken ging es im Wesentlichen um das Personenstandsrecht. Vor drei Jah

ren ist es uns nicht gelungen, Einigkeit herzustellen.