Er ist nämlich Wirtschaftswissenschaftler und nicht Bildungsforscher. Er hat hinterher einschränkend gesagt, eventuell könnten für ungefähr 20 % der Kinder - das habe ich hier; das können Sie nachlesen psychosoziale Entwicklungsprobleme bestanden haben, die könnten eventuell einen Nutzen daraus haben, dass sie ein Jahr wiederholt haben, die anderen nicht. Er hat das sehr stark eingeschränkt. - So viel zu der wissenschaftlichen Anerkennung der von Ihnen angeführten Studie. Die ist gleich null.
(Beifall bei den GRÜNEN - Joachim Albrecht [CDU]: Was nicht in Ihr Welt- bild passt, kann nicht gut sein!)
Frau Pfeiffer, ich möchte Ihnen noch einmal sagen, warum das Sitzenbleiben nicht irgendeine ideologische Frage, sondern ganz klar eine Kostenfrage und eine Frage der Verplemperung von Lebenszeit ist. Wenn 30 % aller Schülerinnen und Schüler in Niedersachsen ein Jahr zu lange in die Schule gehen - Sie kämpfen hier doch wie die Verrückten für das Abitur nach zwölf Jahren -, dann kostet das unglaublich viel Geld, nämlich ungefähr 80 Millionen Euro pro Jahr, und es verplempert ein Jahr Lebenszeit dieser Schülerinnen und Schüler. Das, was Sie wollen, ist kontraproduktiv. Sie müssen endlich etwas Neues anfangen.
Herr Schwarz, noch ein Wort zu Ihnen. Sie haben gesagt, unsere Pädagogik sei leistungsfeindlich. Leistung muss Spaß machen und macht Spaß - Herr Schwarz, das müssten Sie als Pädagoge wissen -; die kann man nicht nur mit Druck erzeugen, die macht man mit gutem Unterricht.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe in meiner Rede zu Beginn gesagt, dies ist ein emotional hoch besetztes Thema. Wir merken gerade wieder, dass das so ist.
Ich habe aber auch gesagt, dass wir uns bemühen sollten, das sehr sachlich und mit großer Nüchternheit anzugehen. Vielleicht können wir wieder dahin zurückfinden. Denn ich fände es wirklich wichtig, wenn es uns gelänge, darüber zu diskutieren, uns auszutauschen und dann vielleicht auch gemeinsam zu beschließen, Modellversuche durchzuführen. Die würden uns dann eine Antwort auf die Fragen geben: Wie ist es mit dem Sinn und Nutzen des Sitzenbleibens? Ist es nicht so, dass individuelle Förderung statt Sitzenbleiben die Kinder weiterbringt? Ich hielte es für einen besseren Weg, wir würden uns hier in dieser Weise weiter mit dem Thema auseinander setzen und nicht wieder zu solchen Gemeinplätzen kommen wie Frau Körtner, die von der Gesamtschule als Einheitsschule spricht. Das bringt uns alle nicht weiter.
Lassen Sie uns doch gemeinsam diskutieren und überlegen. Die CDU-Fraktionen in anderen Landesparlamenten schaffen das ja auch. In Schleswig-Holstein ist die CDU damit einverstanden, das Sitzenbleiben zu reduzieren, und in NordrheinWestfalen können die Schulen im Rahmen der selbstständigen Schule das Sitzenbleiben auch abschaffen.
(David McAllister [CDU]: Das wird jetzt aber auch Zeit! - Klaus-Peter Bachmann [SPD]: Ein Erfahrungsträ- ger!)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ja, Herr Kollege, ein Erfahrungsträger. Ich wäre aber auch nicht früher Kultusminister geworden, wenn mir das eine Jahr erspart geblieben wäre.
Meine Damen und Herren, der Opposition scheinen manchmal die Themen auszugehen. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit kommt immer wieder das alte Thema auf die Tagesordnung: Schule ohne Sitzenbleiben. So war es auch jetzt wieder, vielleicht noch mit dem Zufall behaftet, dass im September in Deutschland Bundestagswahlen stattfanden. Da bot sich an, das Thema wieder einmal zu spielen.
Als Erste wartete Anfang September mit diesem Thema einmal wieder Frau Erdsiek-Rave auf, die bis zum Frühling dieses Jahres in SchleswigHolstein sozialdemokratische Kultusministerin war, Frau Kollegin Eckel. Bei einem solchen Vorstoß interessiert man sich dann ja auch dann ein wenig für die statistischen Wahrheiten. SchleswigHolstein - ich wiederhole: bis vor kurzem eine sozialdemokratische Kultusministerin -, hatte in der Tat den höchsten Sitzenbleiberwert in ganz Deutschland. Ich bin einverstanden, dass dort Handlungsbedarf besteht; das ist in Ordnung. Schließlich muss es darum gehen, die Quote der Sitzenbleiber zu senken. Das wollen wir in Niedersachsen auch.
Als im September diese Thematik wieder gespielt wurde, war interessant, wie die Bürger darauf reagiert haben. Es gab etliche Gutachten und Befragungen, manchmal spontane Befragungen, manchmal auch Statistiken über längere Zeiträume. Die Ergebnisse einer Befragung der Braunschweiger Zeitung deckten sich z. B. mit den Werten, die hier auch andere kundgetan haben: 72 % der Bürger waren der Meinung, das Sitzenbleiben könne durchaus eine sinnvolle pädagogische Maßnahme sein. Das sollten wir uns alle einmal vor Augen führen, und das möchte ich vor allem auch denen sagen, die solche Forderungen
in ihre Anträge schreiben. Manchmal haben vielleicht Zeitungsleser, also ganz normale Bürgerinnen und Bürger, mehr pädagogischen Sachverstand als diejenigen, die scheinbar genau wissen, wie es sein müsste.
Während Sie, meine Damen und Herren - ich spreche jetzt die Grünen an -, das Sitzenbleiben als bloße organisatorische Maßnahme ohne positiven Aspekt geißeln, sehen die Menschen im Lande es erheblich differenzierter. Das ist auch notwendig, denn die Gründe für das Wiederholen eines Schuljahres sind vielfältig. Sie reichen von der zu geringen Anstrengung über fehlende Unterstützung und Probleme im persönlichen Umfeld bis hin zur Überforderung. Ich betone an dieser Stelle ausdrücklich: Die Wiederholung einer Klasse ist nicht das Ziel des Unterrichts. Ziel ist, dass alle Schülerinnen und Schüler bis zum Ende eines Schuljahres einen bestimmten Wissensstand erreichen und festgesetzte Kompetenzen erwerben, die ein erfolgreiches Weiterlernen möglich machen. Ziel ist die Versetzung, aber, bitte sehr, ausgestattet mit dem notwendigen Basiswissen, sodass im nächstfolgenden Schuljahr die erfolgreiche Mitarbeit gewährleistet ist. Wir tun doch den Schülerinnen und Schülern keinen Gefallen, wenn wir sie versetzen, obwohl sie, aus welchen Gründen auch immer, das Klassenziel nicht erreicht haben, und sie in der nächsten Klasse weiterwursteln lassen.
Aus der Auswertung der Schulleistungsuntersuchung und aus der Diskussion um die Bildungsstandards wissen wir: Ein gut strukturierter Unterricht, der intelligentes Wissen anlegt, ist die Basis für anschlussfähiges Lernen. Ob dieser Prozess erfolgreich verläuft, hängt u. a. von der Bereitschaft und der Fähigkeit der Lernenden, aber auch von der Gestaltung des Unterrichts durch die Lehrkräfte ab. Sie müssen den Prozess beobachtend begleiten und, wenn es nötig ist, individuelle Fördermaßnahmen einleiten. Das ist nicht nur einfach so daher gesprochen, sondern ich glaube, die Botschaft dieser Tage in unserem Schulwesen in Deutschland und anderswo ist die individuelle Förderung. Das müssen wir können, das müssen wir beherrschen, das müssen wir forcieren - dann kommen wir auch zu günstigeren Werten.
Nur in den Fällen, in denen trotz dieser begleitenden unterstützenden Maßnahmen der nötige Wissensaufbau und die gewünschte Ausprägung der erwarteten Kompetenz nicht erreicht werden, stellt die Versetzungskonferenz am Ende eines Schuljahres fest: Die Voraussetzungen für eine erfolg
reiche Mitarbeit im folgenden Schuljahr sind nicht gegeben. Der Lernprozess wurde nicht erfolgreich abgeschlossen. Die Wiederholung ist aber die Chance zum Erfolg. Genau an der Stelle ist dann auch die Nichtversetzung die richtige Maßnahme.
Meine Damen und Herren, auch wenn die Nichtversetzung im ersten Moment für die betroffenen Schülerinnen und Schüler oft als persönliche Härte empfunden wird, ist sie trotzdem eine Fördermaßnahme. Sie hat dasselbe Ziel wie jede andere Förderung auch, nämlich Schülerinnen und Schülern die nötige Basis zum erfolgreichen und nachhaltigen Weiterlernen zu vermitteln; das sagte ich schon. Wer wie die Opposition behauptet, das Sitzenbleiben untergrabe nachhaltig das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und schade dem Selbstwertgefühl, ist meines Erachtens zu kurzsichtig. Wie sollen Schülerinnen und Schüler denn Neues lernen, wenn ihnen die notwendigen Grundlagen fehlen? Der Misserfolg ist vorprogrammiert und damit auch der Motivationsverlust, die fehlende Lernbereitschaft und im Ergebnis ein beschädigtes Selbstwertgefühl.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, meinen, an dieser Stelle zum wiederholten Mal die PISA-Studie bemühen zu müssen, hilft das auch hier in der Sache nicht weiter, denn Sie konstruieren Zusammenhänge, die es so nicht gibt und die so noch nicht untersucht wurden. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Sie allen Ernstes das japanische Schulsystem mit seinen Nachhilfeschulen übernehmen wollen. Und dass die Rahmenbedingungen in Finnland ganz andere sind als bei uns, sollte inzwischen auch bei Ihnen bekannt sein.
Dass kein Zusammenhang zwischen dem PISARanking und der Zahl der Wiederholer herzustellen ist, zeigt folgendes Beispiel: Die OECD hat im Rahmen einer länderweiten Studie die Jahrgänge der 15-Jährigen untersucht und gefragt: Wer ist an irgendeiner Stelle seiner schulischen Laufbahn schon einmal sitzen geblieben? Die Anteile der Wiederholer bei den 15-Jährigen liegen laut OECD-Studie 2004 in Deutschland bei 23,1 %, in unseren europäischen Nachbarländern Belgien bei 32,5 %, in den Niederlanden bei 30,9 %, in Frankreich sogar bei 42,3 % und in Norwegen bei fast null Prozent. Im PISA-Ranking haben Belgien, die Niederlande und Frankreich, also Länder mit höherer Nichtversetzungsquote, erheblich besser als Deutschland abgeschnitten, Norwegen aber erheblich schlechter, obwohl es dort kaum Wie
derholer gibt. Daraus können Sie nicht den Schluss ziehen, ein bestimmter Mechanismus führe zur Besserung der Verhältnisse.
Ähnlich zweifelhaft ist der von verschiedenen Rednerinnen und Rednern angesprochen Spareffekt, den Sie sich durch den Verzicht auf das Sitzenbleiben erhoffen. Die SPD spricht von 100 Millionen Euro, die Grünen von 80 Millionen Euro. Wir können diese Zahlen nicht verifizieren. Ich weiß auch nicht, aufgrund welcher Datenbasis Sie sie ermittelt haben. Ich gebe einfach einmal ein vielleicht etwas abstruses Beispiel zu bedenken: eine Schule ohne Sitzenbleiben, 100 % der Eltern melden ihre Kinder nach Klasse 4 zum Gymnasium an, und wir ziehen das bis Klasse 12 durch. Dann hätten wir einen gewissen Erkenntniswert über die Kostenfolgen.
Es ist doch nicht möglich, in jeder Phase eines schulischen Lebens die jungen Leute unabhängig von der Schulform bis kurz vor den Abschluss durchzuschieben und dann plötzlich festzustellen, dass die Kriterien für den Abschluss nicht erfüllt werden. Denken Sie doch an die Probleme, die wir heute schon im Bereich der beruflichen Bildung mit den Schulabgängern ohne Abschluss haben. Ich erinnere an die Vollzeitangebote, an den Ressourcenbedarf und anderes, wodurch Kosten ohne Ende entstehen. Was nützt es denn den jungen Leuten, wenn wir sie ohne die ausreichende Wissensbasis nur irgendwie ins Leben entlassen? Damit verursachen wir Kosten ohne Ende, wir tragen die Probleme auf dem Rücken dieser jungen Leute aus. Solche Rechenmodelle taugen überhaupt nicht, um ein bestimmtes Ergebnis zu produzieren.
Wir brauchen auch keinen Modellversuch „Schule ohne Sitzenbleiben“, denn ich glaube, dass wir mit vielen Einzelmaßnahmen gerade hier im Land Niedersachsen schon ein gutes Stück weiter sind. Unsere Schulen arbeiten bereits mit Förderkonzepten für leistungsschwache und leistungsstarke Schülerinnen und Schüler. Wir erproben in einer Pilotphase die Dokumentation der individuellen Lernentwicklung, bevor sie dann verpflichtend in allen Schulen umgesetzt wird. Die Sprachförderung vor der Einschulung, die Möglichkeit des län
geren Verbleibs in der Eingangsstufe, die sozialpädagogische Unterstützung vor allem in der Hauptschule, aber auch anderswo, und die Möglichkeit der Nachprüfung sind wichtige Elemente, um die Zahl der Wiederholer wirksam zu reduzieren.
Wir verbessern die Unterrichtsqualität u. a. auch durch die Orientierung an Bildungsstandards und Kerncurricula. In ganz Deutschland gibt es Bemühungen in diesem Bereich; denn wir wollen ja alle miteinander besser werden. Dazu zählt auch, Abschlussfähigkeit zu vermitteln und Nichtabschlussquoten und Sitzenbleiberquoten nach unten zu fahren. Sie aber ganz auf Null zu fahren, ist, glaube ich, nicht realistisch.
Wir geben den Schulen in diesem großen Zusammenhang ja auch mehr Eigenverantwortung und Freiräume, um eine gezielte Förderung zu ermöglichen. Wir bauen die Schulinspektion - ein wichtiges Instrument auch in dem Zusammenhang - auf und werden auch über dieses Unterstützungssystem die Schulen entsprechend begleiten. Ich sage es jetzt am Ende noch einmal: Unser Ziel ist es, die Zahl der Wiederholer durch eine Vielzahl von Maßnahmen deutlich zu senken. Wir wollen, dass alle Schülerinnen und Schüler mit einer tragfähigen Grundlage in das jeweils neue Schuljahr starten. Dafür brauchen wir keine überflüssigen Modellversuche, sondern konkretes Handeln zum Wohle unserer Schülerinnen und Schüler. - Ich danke Ihnen.
Herzlichen Dank. - Frau Körtner, Sie haben um zusätzliche Redezeit nach § 71 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung gebeten. Ich gebe Ihnen drei Minuten.
Frau Kollegin Korter, die taz ist in der Tat eine aus vielerlei Gründen bemerkenswerte Zeitung. Aber ich denke, sie kann nicht für sich in Anspruch nehmen, immer ausgewogen zu berichten. Das wird zumindest unterschiedlich beurteilt.
Das RWI ist ein renommiertes Institut. Es hat im Jahr 2004 diese Studie herausgebracht, die im Übrigen, liebe Kollegin Korter, auch in eine evaluierte Studie der Universität Berlin eingeflossen ist. Meinem Fraktionsvorsitzenden liegt diese Studie gerade in englischer Fassung vor; er ist des Englischen so mächtig, dass er sie Ihnen auch noch einmal vortragen kann.
Wissen Sie, was das Bezeichnende bei Ihnen ist? Sie nehmen sich immer wieder irgendwoher einen Bildungsforscher, einen Pädagogen und eine Aussage vor und tragen dies dann hier vor. Ich beziehe mich aber auf evaluierte Studien,
d. h. wissenschaftlich fundierte. Davon gibt es nicht nur eine einzige. - Wir wissen natürlich, dass wir Sie von Ihrem schulischen Weltbild nicht abbringen können. Da wären alle Bemühungen umsonst; das müssen wir konstatieren. Liebe Kollegin Eckel, wir setzen uns doch gerne sachgerecht und gar nicht einmal emotional mit Ihnen aus der Opposition auseinander.
Lassen Sie mich noch einmal zu dieser Kostenfrage kommen. An sich ist die Kollegin Pfeiffer schon hinreichend darauf eingegangen. Das ist reine Augenwischerei, was Sie hier an Zahlen vorgetragen haben.
Die Abschaffung des Sitzenbleibens entlastet den Steuerzahler keineswegs; denn es entstehen Folgekosten. Die Schüler, die sich an den Leistungsvergleichen in irgendeiner Form vorbei mogeln und durch sämtliche Raster von Bildungsstandards fallen, machen am Ende ihrer Schullaufbahn oft miserable Abschlüsse oder bedauerlicherweise oft gar keine Abschlüsse. Dann sind die gesellschaftlichen Folgen mit Geld allein überhaupt nicht aufzuwiegen.
Ich denke, Frau Korter, Sie werden in den anderen Landesparlamenten bei Ihren Fraktionskollegen einmal nachfragen. Überall werden diese alle Jahre wieder in allen Landesparlamenten vorgetragenen Anträge abgelehnt, und das aus guten und sachgerechten Gründen.