Zahlreiche Kommunen und Bundesländer haben mit einer regelmäßigen Berichterstattung über die Entwicklung sozialer Benachteiligung und Ausgrenzung in ihrem Verwaltungsgebiet begonnen. Vielerorts ist ein Sozialoder Armutsbericht zu einer festen Einrichtung geworden. Neben den Gebietskörperschaften publizierten Verbände der Freien Wohlfahrtspflege auf örtlicher, Landes- und Bundesebene sowie die Kirchen eigene Armuts- und Sozialberichte. Auch die SPD-geführte Bundesregierung hat in ihrem Koalitionsvertrag eine Armuts- und Reichtumsberichterstattung aufgenommen.
Meine Damen und Herren, die nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes ist jetzt in Arbeit. Damit ist ein Projekt auf den Weg gebracht, das von der alten Bundesregierung stets mit dem Hinweis verweigert wurde, dass Armut in der Bundesrepublik ja kein Problem sei, weil der Sozialstaat Armut verhindert beziehungsweise mildert. Doch auch Hilfen des Sozialamtes, die vor kurzem noch als soziale Hängematte diffamiert wurden, kaschieren nur reale Armut. Angesichts der rund 50.800 Hilfeempfänger am Jahresende 1998, von denen 19.300 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren und 12.700 Frauen und Männer im Alter von 18 bis 29 Jahren waren, bin ich deshalb anderer Meinung.
Armut hat sich im Verlauf der letzten Jahre von der klassischen Fallgruppe „alte Menschen“ auf „junge Menschen“ verlagert. Armut ist jünger geworden. Das Durchschnittsalter der Sozialhilfeempfänger ist in unserem Bundesland mit 33 Jahren bei laufender Hilfe zum Lebensunterhalt bundesweit am niedrigsten. Am weitaus stärksten sind inzwischen Kinder und Jugendliche betroffen. Das außergewöhnlich hohe Sozialhilferisiko der jüngeren Bevölkerung wird außerdem in den altersbezogenen Empfängerquoten deutlich. Demnach sind Kinder unter 3 Jahren und im Alter von 3 bis 6 Jahren sowie junge Frauen von 18 bis 29 Jahren extrem häufig auf Sozialhilfe
angewiesen. Nach Darstellung der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände und einiger Wohlfahrtsverbände sind etwa sieben Prozent aller Privathaushalte in Deutschland – in Mecklenburg-Vorpommern sogar neun bis zehn Prozent – überschuldet. Bundesweit davon betroffen sind vor allem Geschiedene, Alleinerziehende und junge Familien.
Die nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung wird die Datengrundlage für politische Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut in Deutschland liefern. Dass sie auch Informationen zum Reichtum unserer Gesellschaft enthalten wird, halte ich für selbstverständlich, da Armut und Reichtum untrennbar zusammenspielen. Für die Erhebung einer nationalen Armuts- und Reichtumsberichterstattung, die in den Koalitionsverträgen auf Bundes- und Landesebene aufgenommen wurde, ist eine Verknüpfung der Ebenen Kommune, Land, Bund Voraussetzung. Darüber hinaus wäre es wünschenswert, wenn auch der europäische Vergleich mit bedacht werden könnte.
Die nationale Armuts- und Reichtumsberichterstattung sowie die von uns auf Landesebene im Koalitionsvertrag benannte sollen kein Zahlengrab werden, sondern eine Berichterstattung gewährleisten, die über die Lebenslagen der Betroffenen zuverlässig und regelmäßig Auskunft gibt. Deswegen muss die Armutsberichterstattung auf eine qualifizierte Datengrundlage mit einem aussagefähigen Indikatorentableau für die kleinräumige Analyse von Lebenswelten zurückgreifen können. Für die Erstellung der Indikatoren wird jedoch zunächst ein effektives Verfahren benötigt.
Wenn man sich allein die Antwort der Landesregierung auf Drucksache 2/3299 zur Armut bei Kindern und Jugendlichen ansieht, werden die Probleme bei der Erfassung von Daten deutlich. Weder liegen der Landesregierung Daten vor, wie viele Familien gleichzeitig Leistungen nach dem KJHG und dem BSHG erhalten, noch wie hoch die Zahl der Kinder und Jugendlichen zwischen 12 und 18 Jahren ist, die Sozialhilfe beziehen, weil der Unterhalt gar nicht oder unzureichend gezahlt wird. Weiterhin gibt es keine Daten, wie viele Kinder trotz Unterhaltsvorschuss Sozialhilfe beziehen.
Wie ich schon in der Debatte zu den Sozialdaten erwähnte, bleibt der Forschung somit nur der Weg über Umfrageergebnisse, wie zum Beispiel die alle drei Jahre stattfindende Einkommens- und Verbraucherstatistik, in die aber die Bezieher von monatlichen Einnahmen von mehr als 35.000 DM gar nicht erst einbezogen werden. Auf der Basis von Umfrageergebnissen kann man jedoch keine sinnvolle Armuts- und Reichtumsberichterstattung gründen.
Auch der Mikrozensus in Mecklenburg-Vorpommern macht bei 6.000 DM Monatsfamiliennettoeinkommen mit der Differenzierung Schluss, zumindest in der Veröffentlichung im Statistischen Jahrbuch. Zwar haben circa 5,2 Prozent unserer Haushalte dieses Einkommen, aber wie viele davon über 10.000 DM oder 20.000 DM Einkommen verfügen, bleibt unklar. Klar ist nur, dass 12,3 Prozent unter 1.400 DM haben, also mehr als doppelt so viele wie Verdiener mit 6.000 DM.
Trotz des überwiegenden Einvernehmens über die mit einer Armuts- und Reichtumsberichterstattung verbundenen Ziele und Aufgaben bestehen über Methodik und Vorgehensweise verschiedene Auffassungen. Schon der Begriff „Armut“ selbst, seine Definition und der Umgang
sowie die Reichweite einer Berichterstattung über Armut werden kontrovers diskutiert. Weder die Sozialwissenschaftler noch die Sozialpolitiker können sich auf ein einheitliches Verständnis der Begriffe und eine annähernd exakte Begrenzung des Themengebietes Armut, soziale Benachteiligung und soziale Ausgrenzung beziehen. Selbst Definitionen, die sich weitgehend durchgesetzt haben, erweisen sich für eine empirische Analyse als nur begrenzt geeignet.
Der lückenhafte Zustand vorhandener Statistiken, zum Beispiel bei der Einkommens- und Vermögensstatistik, schränkt die Möglichkeiten, zu empirisch gesicherten Erkenntnissen zu gelangen, zusätzlich ein. So sagte die damalige Kultusministerin Marquardt anlässlich der 2. Schweriner Wissenschaftstage zum Thema „Armut – die Herausforderung“ sehr zutreffend: „Es wird nicht reichen, die Armut in ,relative‘ oder ,absolute‘, in ,verdeckte‘ und ,bekämpfte‘ oder in ,prekären Wohlstand‘ zu differenzieren. Auch eine Typologie von ,Armutskarrieren’, so erhellend die Daten sind, bleibt noch in dem wichtigen und unerläßlichen Bereich der Vorklärungen. Wie sich der Umgang mit dem Phänomen Armut künftig gestalten soll, das ist die eigentliche Kulturfrage, die vor uns steht. Sie steht vor uns, weil soziale Solidarität keine naturwüchsige Selbstverständlichkeit ist.“
Meine Damen und Herren, um den von mir benannten Missstand auszuräumen, wird ein Verfahren benötigt, wie und welche Indikatoren zu erfassen sind. Vor einer Analyse und dem Ableiten von Konsequenzen muss eine sinnvolle Erfassung erfolgen. Zunächst muss geklärt werden, welche Daten auf Grundlage welcher Indikatoren im Lande erstellt werden. Eine Vergleichbarkeit anscheinend gleicher Statistiken ist sonst häufig aufgrund unterschiedlicher Indikatoren nicht möglich. Zudem sollten die Indikatoren der Armuts- und Reichtumsberichterstattung Mecklenburg-Vorpommerns und die des Bundes aufeinander abgestimmt sein, so dass auch hier eine Vergleichbarkeit möglich ist. Denn was nützt uns ein Bericht, wenn wir die darin enthaltenen Daten mit nichts vergleichen können?
Gleiches ist übrigens auch über die nationale Armutsberichterstattung zu sagen, denn diese soll sich an die Systematik und Methodik schon vorhandener Armutsberichterstattungen auf Ebene der Kommunen und der Länder anlehnen. Das gegenseitige Abgleichen der Verfahren ermöglicht effektives Arbeiten mit den Berichterstattungen.
Meine Damen und Herren, aus den vorgenannten Gründen bitte ich um Zustimmung zu dem Ihnen vorliegenden Antrag. – Danke.
Im Ältestenrat wurde eine Aussprache mit einer Dauer von 45 Minuten vereinbart. Ich sehe und höre keinen Widerspruch, dann ist das so beschlossen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Armuts- und Reichtumsberichterstattung ist ein Thema, das schon seit Jahren in der
Bundesrepublik Deutschland diskutiert wird und auch in Mecklenburg-Vorpommern. Die Wohlfahrtsverbände haben sie in besonderer Weise immer wieder angemahnt, aber auch die Kirchen haben diese Berichterstattung als ein wichtiges Element betrachtet.
Das Entscheidende, so scheint es mir aber, ist, dass wir hier heute eigentlich viel zu früh über die Dinge diskutieren, denn ich hätte mir eher gewünscht, dass man so etwas in den Ausschüssen diskutiert hätte, um das Parlament von diesen peinlichen Dingen erst einmal freizuhalten.
Denn immerhin meine ich schon, dass es angezeigt ist, in Ausschüssen darüber zu reden, welche Daten, Strukturen, Berichte und Datenlagen zu den einzelnen Dingen aufgerufen werden sollen.
Fakt ist eins: Wir haben über 55.000 Sozialhilfeempfänger. Das ist völlig richtig. Nur ist der Maßstab, Sozialhilfeempfänger zu sein, der einzige Maßstab. Die nächste Frage ist dann: Sind nicht auch Rentner oder in besonderer Weise Frauen, die 800 DM Rente bekommen, genauso dazuzurechnen? Also über die Datenlage muss man diskutieren.
Ich halte es allerdings nicht für richtig, dass man heute wieder den Landtag mit einem Sachstandsbericht befasst, der ein Verfahren klären soll, und anschließend noch Indikatoren festlegt. Auf der anderen Seite wissen wir alle, dass derzeitig in Berlin auf Bundesebene Gleiches passiert. Also will ich auch davor warnen, dass man jetzt in Aktionismus verfällt, um sich gegenseitig hier sozusagen den Rang abzulaufen.
Meine Damen und Herren, das Thema ist wichtig, allerdings halten wir die Art und Weise der Koalitionäre für wenig geeignet,
hier und heute die Dinge auf den Weg zu bringen, denn es muss letzten Endes gesellschaftlicher Wille sein, Armutsstrukturen abzubauen,
nicht zu verstärken. Und Auffangbecken für sozialistische Träumereien wollen wir natürlich auch nicht zulassen. Meine Damen und Herren, die CDU-Fraktion wird diesen Antrag ablehnen.
(Beifall bei einzelnen Abgeordneten der CDU – Dr. Arnold Schoenenburg, PDS: Aha! – Dr. Margret Seemann, SPD: Gibt es auch Gründe dafür? – Angelika Gramkow, PDS: Es könnten ja auch Tatsachen ans Licht kommen.)
Ich habe mir vorhin, bevor Sie gesprochen haben, Herr Glawe, einen kleinen Zettel hingelegt und wollte ein paar
Nur, es ist so schwer, jetzt darauf etwas zu erwidern, weil der Sinn Ihrer Worte, der bleibt mir irgendwie unerschlossen.
Ja, ich will ja nachdenken. Ich will mich gerne mit Ihnen auseinander setzen. Was Frau Schnoor sagte, halte ich ja für durchaus respektabel. Wir wollen uns doch sachlich auseinander setzen im Interesse der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Und wenn Sie sagen – seit Jahren in der BRD oder, beim Nachlesen ist mir aufgefallen, seit 1968, auch mit Verabschiedung eines Beschlusses im Bundestag, ist eine Armuts- und Reichtumsberichterstattung gefordert worden –, wenn Sie hier wortwörtlich sagen:
„Fakt ist eins: Sie haben“ – mit Adresse an uns – „55.000 Sozialhilfeempfänger …“, das Schicksal dieser Menschen geht uns doch alle an und sollte uns alle umtreiben. Das ist hier eine Zuweisung von Ergebnissen der Politik der Opposition an die Regierungsparteien, die halte ich einfach für unakzeptabel und das muss ich aufs Schärfste zurückweisen.
Sehr geehrte Damen und Herren, seit biblischer Zeit spielen die Phänomene Armut und Reichtum eine Rolle im Zusammenleben der Menschen. So heißt es zum Beispiel in der Heiligen Schrift, Lukas 18, 25: „Eher kommt ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in Gottes neue Welt.“ Und in der Bergpredigt wird gesagt: „Behandelt die Menschen so, wie ihr selbst von ihnen behandelt werden wollt …“ Matthäus 7, 12. Zwei Aussagen, die beweisen, dass seit jeher Reichtum durchaus als etwas nicht Seligmachendes gilt und Solidarität etwas zutiefst Mitmenschliches ist. Weder in biblischer Vorzeit noch heute sind Armut und Reichtum etwas, was einer Naturgewalt gleichkommt. Armut und Reichtum sind zwei Seiten einer Medaille,
Frau Dr. Seemann sagte es bereits. Sie haben ihre Ursachen in der Ökonomie der gesellschaftlichen Verhältnisse, also in der Art und Weise, wie Waren und Dienstleistungen produziert, ausgetauscht und verteilt werden. Insofern ist für die PDS die Erarbeitung eines Armuts- und Reichtumsberichtes kein Dokument zur Darstellung der sozialen Situation schlechthin. Es ist ein Dokument, das gesellschaftliche Zusammenhänge auf die Situation bezogen offenbart. Es ist kein Papier, das lediglich für moralische Appelle und sittliche Entrüstung genutzt werden soll.