Protocol of the Session on November 9, 2016

(Beifall bei Dr. Alexander Wolf AfD)

Viele Kritiker des Flüchtlingsdeals mit der Türkei haben im Vorfeld befürchtet, dass sich die Bundesregierung damit von der Türkei abhängig macht, und nun sehen wir, dass diese Kritiker recht behalten haben. Die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin baut auf diesem Deal auf, also darauf, ob Herr Erdogan mitmacht oder ob er das eben nicht tut. Damit ist die Kanzlerin erpressbar geworden und das erklärt wohl auch ihre zurückhaltende Kritik.

Nicht, dass ich hier falsch verstanden werde: Den Flüchtlingsdeal mit der Türkei sollten wir nicht aufkündigen, aber wir brauchen einen alternativen Plan für den Fall, dass er von Erdogan gekündigt wird, was er mehrfach angedroht hat. Es ist daher gemeinsame Aufgabe der Europäer, ihre Außengrenzen zu schützen. Dabei dürfen wir auch Griechenland nicht länger allein lassen; auch Deutschland muss seinen Teil dazu beitragen, dass Griechenland personell und materiell in der Lage ist, seine Grenzen, die gleichzeitig die Außengrenzen der EU sind, besser zu kontrollieren. Das würde uns weniger stark abhängig machen von der Türkei.

Und auch das will ich klar sagen: Natürlich müssen wir eng mit der Türkei zusammenarbeiten. Sie ist NATO-Partner, ihre geografische Lage zwischen der EU und Syrien macht sie zu einem zentralen Akteur in der Flüchtlingskrise. Deshalb halte ich gute Beziehungen zwischen der Türkei und der EU für unglaublich wichtig. Die Türkei ist ein schwieriger Partner, das wissen wir, aber gerade in diesen Zeiten ist es in unserem Interesse, eng mit ihr zusammenzuarbeiten. Doch Mitglied der EU kann die Türkei derzeit nicht werden. Die Beitrittsverhandlungen mit der EU müssen deshalb gestoppt werden. Ein Land, in dem universell geltende Menschenrechte mit Füßen getreten werden, das über die Wiedereinführung der Todesstrafe nachdenkt, ein solches Land kann nicht Mitglied der EU werden, und so ehrlich müssen wir alle sein.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Was wir stattdessen brauchen, ist ein sachlicher Dialog über eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Es gibt viele Themen, bei denen eine gute und respektvolle Zusammenarbeit möglich und auch notwendig ist. Das ist Energie, Terrorismusbekämp

fung, Sicherheitspolitik, das sind Umweltfragen, Fragen der Forschung und Entwicklung. Und das funktioniert auch abseits der EU-Beitrittsverhandlungen, die derzeit nur in eine Sackgasse führen.

Es ist gut, dass wir als Demokraten in Hamburg die Türkei unter Erdogan auf ihrem Weg in eine Präsidialdiktatur kritisieren und uns solidarisch mit den verhafteten Abgeordneten zeigen. Noch wichtiger aber ist es, dass die Verantwortlichen die entsprechenden Konsequenzen für den Umgang mit der Türkei ziehen. Dafür werben wir Freie Demokraten. – Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP)

Herr Dr. Wolf von der AfD-Fraktion bekommt das Wort.

Sehr geehrtes Präsidium, liebe Kollegen! Heute, am 9. November, fiel vor 27 Jahren die Berliner Mauer. Da rieselt es einem durchaus den Rücken herunter, wenn wir hier heute über Demokratie und Meinungsfreiheit sprechen. "Erdogan beseitigt die Demokratie – Solidarität mit verfolgten Abgeordneten und Demokrat_innen auch in Hamburg!", so das von der LINKEN angemeldete Thema. Auch wir von der AfD-Fraktion, das schicke ich vorweg, unterstützen diese Forderung.

(Beifall bei der AfD)

Als vor wenigen Wochen im Oktober auf Einladung des Kollegen Gözay von den GRÜNEN zwei Abgeordnete der größten Oppositionspartei, der CHP, hier zu Gast waren, war es für mich als Vorsitzenden des Europaausschusses natürlich selbstverständlich, mich mit ihnen zu treffen, um uns so gemeinsam aus erster Hand ein runderes, vollständigeres Bild über die Ereignisse in der Türkei zu machen. Dabei muss man durchaus genauer hinsehen: Nicht jeder Gegner Erdogans ist deshalb auch ein Demokrat und unser Freund, ich nenne als Beispiel Gülen und die PKK, die vom deutschen Verfassungsschutz mit rund 13 000 Mitgliedern als größte ausländerextremistische Organisation in Deutschland gewertet wird. Und: Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden gehören nicht auf unsere Straßen. Wir können und wollen nicht die Konflikte des Nahen Ostens zu uns importieren, auf unseren Straßen gewalttätig austragen lassen.

Doch zurück zur Türkei. Die Ereignisse der letzten Wochen zeigen in der Tat dramatische Züge; das wurde schon mehrfach angesprochen. Die rasante Fahrt in Richtung einer islamisch geprägten Diktatur beschleunigt sich. Zehntausende Polizisten, Lehrer, Professoren, Richter und Beamte sind inzwischen entlassen, kritische Journalisten werden unter Druck gesetzt, sämtliche kurdischen Sender sind verboten, Zehntausende Personen ohne Urteil

(Katja Suding)

inhaftiert. Mit anderen Worten: Die Medien sind gleichgeschaltet, Parlament und Regierung stehen unter dem Joch des neuen Sultans, der wenige Jahre vor seinem Amtsantritt als Präsident ein Kampfgedicht zitierte, in dem es heißt: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette sind unsere Bajonette."

Und was tut der Westen? Was tut Brüssel, was tut Berlin? Auch das klang vereinzelt schon an: Anstatt energisch dagegen aufzutreten, plädieren die Verantwortlichen in Brüssel für ein erneutes Bekenntnis zu einem "Weiter so", zu den Beitrittsverhandlungen mit der EU, so Juncker. Das muss man sich einmal vorstellen; mehr demütige Unterwerfung geht wohl nicht. Und das offizielle Berlin hält sich zurück aus Sorge, dass die Türkei sonst den Flüchtlingspakt womöglich aufkündigt, bei dem sich Merkel – viel mehr als nötig und als klug – von Ankara abhängig gemacht hat.

(Beifall bei der AfD)

Eintreten für Menschenrechte und Zivilcourage nur dann, wenn es opportunistisch ins Bild passt, das ist unaufrichtig und das ist nicht unsere Vorstellung von Redlichkeit und Aufrichtigkeit. Erdogan ist ein demokratieferner Machtpolitiker, dem man durch entschiedenes Auftreten in die Schranken weisen muss.

(Beifall bei der AfD)

Auf einen anderen Aspekt muss ich hier noch eingehen, ein Aspekt, der in der bisherigen Debatte zu kurz gekommen ist, obwohl er unmittelbar zum Thema gehört. Die gegenwärtige Entwicklung in der Türkei ist aus einem weiteren Grund besorgniserregend. Sie ist ein Warnsignal, gerade weil sie sich in der Türkei abspielt, die als Beispiel einer erfolgreichen Entwicklung in Richtung eines westlichen Staates galt – so schien es bislang jedenfalls. Die Entwicklung dort zeigt nun, dass trotz einer seit 100 Jahren staatlich gewollten und geförderten Entwicklung die islamische Prägung doch so stark ist, dass der neue Sultan mit radikal-islamischen Ansätzen seine Macht zu sichern und die Mehrheit des Volkes hinter sich zu scharen hofft und damit, so sieht es aus, Erfolg hat. Das heißt nichts anderes – und das macht mir Sorge –, als dass trotz einer fast 100-jährigen laizistischen Tradition des Versuchs der Trennung von Staat und Islam seit Atatürk diese jahrzehntelange Entwicklung beiseite gewischt wird und der Islam wieder politisch zum Tragen kommt und sich durchsetzt. Das, was Europa heute ausmacht, eine freiheitliche Werteordnung in der Tradition von Athen und Rom, Christentum und Aufklärung, ist dort leider nicht verwurzelt, und ohne diese Verwurzelungen schlummert der Islam und kann jederzeit politisch aktiv werden.

Ich komme zum Schluss: Wir sollten daher die Illusion einer Aufnahme der Türkei in die EU aufgeben. Dieser Islam gehört nicht zu Deutschland

(Glocke)

und die Türkei gehört nicht zu Europa und nicht in die EU. – Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD)

Meine Damen und Herren, das Wort bekommt der Abgeordnete Dr. Flocken.

(Dr. Andreas Dressel SPD: Der fehlt uns jetzt gerade noch!)

Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Volksvertreter! Wenn wir uns hier in fast allen Dingen einig sind …

(Glocke)

Verzeihung. – Meine Damen und Herren! Ich habe das Wort Herrn Dr. Flocken gegeben und nur ihm. – Fahren Sie bitte fort.

Wir sind uns in fast allen Dingen einig, wenn ich diese Reden höre. Dann fragt man sich natürlich: Warum muss man es diskutieren? Der Grund dafür ist, dass diese Bündnisverflechtung – strategisch, militärisch, politisch – zwischen Deutschland und der Türkei sehr stark ist und vor allen Dingen auch eine Tradition hat, sodass Ihre Partei, Frau Boeddinghaus, zu Recht vor knapp zwei Jahren das spöttische Wort "Nibelungentreue" in diesem Zusammenhang in den parlamentarischen Sprachgebrauch eingeführt hat.

Wie hat sich die Situation verändert? Deutschland ist heute wie vor beiden Weltkriegen wirtschaftlich stark. Es ist von seinen Nachbarn, den kleinen besonders, aber auch den großen, gefürchtet wegen seiner Politik und in Europa isoliert – im Augenblick mehr als vor den Weltkriegen; damals haben wenigstens noch Österreich-Ungarn und Italien zu Deutschland gehalten.

(Dirk Kienscherf SPD: Das hat aber auch nichts genützt!)

Es gibt in Berlin damals wie heute keine ernstzunehmende parlamentarische Opposition.

Wie sieht es in der Türkei aus? Damals: Der sogenannte kranke Mann am Bosporus hatte die faktische Kontrolle über das Osmanische Reich weitgehend verloren. Der Nachfolger als Herrscher sprach dann von dem verwesenden Kadaver, der die Türkei zugrunde gerichtet hat. Heute: Eine wirtschaftliche Dynamik, gebrochen nur vor ein, zwei Jahren durch den politischen Amoklauf, territorial

(Dr. Alexander Wolf)

auf das Kernland reduziert, allerdings mit Eroberungsansprüchen auf die griechischen Inseln, auf Teile des Irak, zum Teil auch auf die Krim, und Fantasien von einem Riesenreich, das von Mitteleuropa bis Xinjiang in China reicht.

Und was ist mit den Herrschern? Damals Kaiser Wilhelm, der in England als der missratende Sohn der königlichen Familie galt. Heute an der Spitze der deutschen Regierung eine Frau, über die der gewählte amerikanische Präsident "she is mad" sagt. Dasselbe sagen die Parlamentarier der englischen Regierungspartei von ihr; Putin ist ein bisschen vornehmer, der denkt es halt nur. Und in der Türkei ist ein Mann an der Regierung, der weltweit als Witzfigur gilt.

Jetzt, Frau Boeddinghaus, könnten Sie sich eigentlich überlegen, dass Sie doch jeden als Verbündeten hätten, egal, ob man säkular eingestellt ist, ob man Demokrat ist in erster Linie, ob man Menschenrechtler ist, ob man libertär ist, ob man links denkt, ob man europäischer Patriot ist oder patriotischer Deutscher, ob man Pazifist ist oder Antifaschist: Alle müssen doch zu Ihnen halten. Warum können Sie dann Ihren Verbündeten von den kurdischen Parteien nicht ein bisschen Manieren beibringen? Wieso können Sie ihnen nicht erklären, dass man in Deutschland anders demonstriert, als sie sich das vorstellen, dass man eben nicht große Kreuzungen blockiert, dass man die Funktion des Hauptbahnhofs nicht unterbricht und dass man nicht in Parteizentralen eindringt, Politiker durch die Gegend zerrt und an den eigenen Füßen aus dem Fenster hängt? Das müssten Sie Ihren Leuten doch beibringen können. Ich sage es in etwas anderen Worten, im Prinzip hat es Herr Trepoll schon gesagt. Vor allen Dingen: Die religiösen Konflikte, aber auch die politischen Konflikte aus der ganzen Welt dürfen wir auf unseren Straßen nicht dulden, und das muss diesen Leuten klargemacht werden. Wer diese Konflikte nach Deutschland, auf den Rathausmarkt und auf unsere Straßen hineintragen will, der gehört nicht nach Deutschland. – Vielen Dank.

(Urs Tabbert SPD: Pegida auch nicht!)

Dann bekommt das Wort Herr Schumacher von der SPD-Fraktion.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Ja, wir haben hier ein Thema, das man auch in der Hamburgischen Bürgerschaft besprechen sollte. Es geht um Rechte von Abgeordneten in der Türkei, und wir sind frei gewählte Abgeordnete und es steht uns gut an, sachlich und kühl darüber zu diskutieren. Ich war schon ein bisschen überrascht, dass der von mir geschätzte Kollege Trepoll die Debatte kurzzeitig ein bisschen für die Profilsuche der CDU nutzen wollte. Ich finde, das braucht diese Debatte nicht.

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der LINKEN – Anna-Elisabeth von Treuenfels- Frowein FDP: Böse, böse, böse!)

Seit dem 21. Juli gilt der von Staatspräsident Erdogan verhängte Ausnahmezustand in der Türkei. Erdogan regiert mit Dekreten, die sofort Gesetzeskraft haben und unanfechtbar sind. Die Verfassung der Türkei erlaubt keine Klagen gegen diese Erlasse. Erdogan liebäugelt darüber hinaus mit der Wiedereinführung der Todesstrafe, wohlwissend, dass der EU-Beitrittsprozess damit beendet wäre oder zumindest ausgesetzt werden würde. Seit dem gescheiterten Putsch wurden 100 000 Beamte, Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Vertreter anderer Berufsgruppen suspendiert oder entlassen. Die sogenannte massive Säuberung ist allem Anschein nach auf politische und nicht etwa auf sicherheitsrelevante Motive zurückzuführen. Die Razzien gegen Mitarbeiter und die Festnahme des Chefredakteurs und weiterer Journalisten der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" sind in höchstem Maße alarmierend.

(Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und der LINKEN)

Gleiches gilt für die Festnahme führender Oppositionspolitiker der prokurdischen Partei HDP, der zweitgrößten Oppositionspartei im türkischen Parlament, die von mehr als 5 Millionen Türken gewählt wurde.

Die SPD-Fraktion steht an der Seite der Demokratinnen und Demokraten in der Türkei.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Wir stehen an der Seite der Journalisten und Journalistinnen, denen die Ausübung ihrer für die Demokratie unerlässlichen Arbeit durch die Einschränkung der Pressefreiheit verunmöglicht wird, und an der Seite unserer türkischen Kolleginnen und Kollegen, der demokratisch gewählten Abgeordneten im Parlament.

(Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

Es kann leider keinen Zweifel geben: Mit den Angriffen auf Pressefreiheit, Demokratie und Rechtsstaat entfernt sich die Türkei weiter von Europa. Das ist darüber hinaus eine hochgefährliche Entwicklung in einem wichtigen NATO-Mitgliedsstaat. In der Analyse – das haben wir heute auch gesehen – sind wir in wesentlichen Punkten einer Meinung. Die Frage ist aber, wie wir damit umgehen wollen. Ich denke, Frank-Walter Steinmeier, unser Außenminister, hat recht, wenn wer sagt, es sei jetzt an den Verantwortlichen in der Türkei, sich darüber klar zu werden, welchen Weg ihr Land gehen will und was das bedeutet für die Beziehung zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Oder, um es deutlicher auszudrücken, als es der Außenminister tun kann: Erdogans Politik hat die EU-Mitgliedschaft in weite Ferne gerückt. Sollte es