Zweites Motiv: Viele Kommentatoren, die wir alle seit Freitag gelesen haben, schreiben, die Briten hätten die Zuwanderungspolitik von Angela Merkel abgewählt. Auf jeden Fall ist die Zuwanderung eine wesentliche Ursache der EU-Verdrossenheit in vielen Ländern, nicht nur in Großbritannien.
Allerdings hat Angela Merkel dabei nicht für und nicht mit Europa gehandelt, sondern gegen Europa im Alleingang.
Deshalb trägt sie persönlich ein großes Maß an Verantwortung für den Brexit und mit ihr die Parteien, die sie stützen, also CDU und SPD.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Deutschland ist ein global vernetztes Land, Hamburg eine besonders global vernetzte Metropole. Die internationale wirtschaftliche Vernetzung muss politisch begleitet werden, und dabei geht es vor allem um faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Volkswirtschaften. Die EU bemüht sich auf vielen Ebenen darum. Die europäische Integration war und bleibt nach Auffassung des Senats Garant für Frieden, Demokratie und Wohlstand in Europa.
Die Europäische Union stellt sicher, dass die europäische Stimme und die europäischen Werte in der Weltgemeinschaft Gehör finden. Vor diesem Hintergrund bedauert der Senat den Ausgang des Referendums in Großbritannien. Wir hätten uns einen anderen Ausgang gewünscht, respektieren aber das Votum des britischen Volkes. Die Auswirkungen der Entscheidung sind derzeit, das will ich deutlich sagen, weder politisch noch wirtschaftlich abzuschätzen. Das gilt auf internationaler, auf europäischer und auch auf Hamburger Ebene. Auf der einen Seite profitiert Hamburg als Handelsmetropole unzweifelhaft von der Europäischen Union, vom Handel mit Großbritannien und tritt daher traditionell für offene Grenzen und den Abbau von Handelshemmnissen ein. Das gilt umso mehr, als dass Großbritannien einer der wichtigsten Handelspartner für Hamburg ist. Es liegt in unserem wirtschaftlichen Interesse, möglichst gute Handelsbeziehungen zu Großbritannien aufrechterhalten zu können. Die Briten stehen wie wir in der Tradition liberaler Wirtschafts- und Handelspolitik. Das geht, besonders auf Hamburg bezogen, zurück bis ins 13. Jahrhundert, wo erste, intensive Handelsbeziehungen mit London und Großbritannien aufgebaut wurden.
Auf der anderen Seite ist für die Wirtschaft nichts schädlicher als Unsicherheit. Wir haben daher, das will ich deutlich betonen, nicht viel Zeit. Für alle Beteiligten wäre es gut, möglichst schnell Klarheit über die nächsten Schritte zu erlangen. Es geht jetzt nicht darum, beleidigt auf das Votum in allen Belangen zu reagieren. Denken wir auch an die 16 Millionen Briten, die sich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen haben. Aber der Rest Europas hat natürlich das Recht, möglichst bald zu erfahren, wie sich die Briten die weiteren Schritte aus ihrer Sicht vorstellen.
Übrigens möchte ich eines auch an dieser Stelle gern erwähnen. Wenn in Großbritannien die Türen geschlossen werden, dann ist in Hamburg das Tor zur Welt weiter weit geöffnet.
Sollten Unternehmen jetzt einen neuen Standort auf dem europäischen Festland suchen, sie sind herzlich willkommen, wir bieten Alternativen.
Hamburg ist attraktiv und ein starker Standort, unsere Wirtschaftsförderung steht bereit, wenn Firmen auf uns zukommen wollen. Wir sehen dieser Tage, dass Europa und seine Institutionen hinterfragt werden. Das ist das gute Recht der Europäerinnen und Europäer. Es mahnt uns aber auch, darüber nachzudenken, wie Europa sich wandeln muss, um stark und geeint zu bleiben. Gelegentlich kann man den Eindruck gewinnen, dass mehr über Grenzen als über das gute Miteinander zwischen den Staaten und Völkern geredet wird. Diese Haltung müssen wir gemeinsam aufbrechen, wir können gar nicht oft genug betonen, dass die EU ein Friedensbündnis ist, aufgebaut auf Solidarität aller Bewohner.
Wir müssen solidarisch bleiben gegenüber anderen und auch untereinander und manchmal auch souverän, um Souveränität auch abgeben zu können. Wie heißt es in der Begründung des Nobelkomitees für den Friedensnobelpreis an die Europäische Union? Ich zitiere:
"Die stabilisierende Rolle der EU hat dazu beigetragen, den Großteil Europas von einem Kontinent des Kriegs in einen Kontinent des Friedens zu verwandeln."
Die Union und ihre Vorläufer haben mehr als sechs Jahrzehnte zur Förderung des Friedens, der Versöhnung, vor allem der Demokratie und des Einhaltens von Menschenrechten in Europa beigetragen. Das ist das, was für jeden von uns zählt. – Vielen Dank.
Meine Damen und Herren! Die für die Aktuelle Stunde vorgesehene Redezeit ist abgelaufen. Nach Paragraf 22 Artikel 3 unserer Geschäftsordnung haben Sie jedoch nun Gelegenheit, nach dem Senator erneut das Wort zu ergreifen. Herr Schumacher von der SPDFraktion, Sie bekommen es.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! 52 Prozent der Wählerinnen und Wähler im Vereinigten Königreich haben für einen Austritt aus der Europäischen Union votiert. Der Brexit ist aber damit noch nicht vollzogen, noch nicht einmal der Austrittsprozess nach Artikel 50 des Lissaboner Vertrags ist ausgelöst worden. Allerdings führt die derzeitige Situation und die zu erwartende monatelange Hängepartie für Großbritannien, Europa, die Welt, also auch Hamburg, gerade in der Wirtschaft zu einer gewissen Unsicherheit. Aber wer in Europa nicht mehr sieht als einen riesigen Binnenmarkt, hat die europäische Idee nicht verstanden.
Daher geht es auch bei einem Brexit um viel mehr als nur um wirtschaftliche Fragen. Die europäische Einigung ist unser gemeinsames Friedensprojekt. Denjenigen, die zu Beginn der Fünfzigerjahre diesen Prozess initiiert und weiter betrieben haben, musste man das nicht erklären. Sie hatten einen, wenn nicht gar zwei Weltkriege erlebt. Nur noch wenige der heute jedenfalls in Westeuropa Lebenden haben reale Erinnerungen an Krieg und Unfreiheit. Europa als Friedensprojekt scheint vielen daher leider nichts mehr zu sagen.
Das trifft nicht auf alle Nachgeborenen zu. Die heute jungen Menschen in Europa sind meist für die europäische Einigung. Für sie ist das Europa der offenen Grenzen und der Freizügigkeit eine Selbstverständlichkeit. Die europäische Einigung ermöglicht die für diese Generation typische Mobilität erst und sie verstärkt sie zum Nutzen des Einzelnen und der Völkerverständigung.
Wer würde ein Land als Feind empfinden, in dem er studiert hat, in dem er Freunde gewonnen hat, in dem er seinen Beruf ausgeübt und jahrelang gelebt hat? Das Abstimmungsverhalten der jungen Menschen im Vereinigten Königreich – laut Umfragen stimmten 75 Prozent der unter 25-Jährigen für den Verbleib ihres Landes in der EU – bestätigt auf beeindruckende Weise, dass ihre Generation weit überwiegend die europäische Einigung will.
Und wir dürfen nicht zulassen, dass linke und rechte Gegner Europas mit populistischen Parolen und zum Teil dreisten Lügen die Axt an Europa legen.
(Beifall bei der SPD und bei Dr. Stefanie von Berg GRÜNE, Jörg Hamann und Richard Seelmaecker, beide CDU)
Der Charme und der Reichtum Europas liegen nicht zuletzt in seiner Vielfalt. Daran kann und will der Einigungsprozess Europas auch nichts ändern. Etwas anderes gilt für den Nationalismus. Nationalismus gebärt Fremdenhass, Hass auf alle, die irgendwie etwas anders sind als die tatsächliche oder vermeintliche Mehrheit. Er gebärt Überlegenheitsillusionen und Größenfantasien. In einem wirklich geeinigten Europa hätte all das keine Grundlage mehr. Europa ist daher für uns ein Projekt gegen Nationalismus und Chauvinismus. Die Europäische Union ist die erste transnationale Demokratie in der Menschheitsgeschichte, ein Projekt ohne jedes Vorbild. Ist es ein Wunder, dass nicht alles sofort läuft, dass Fehler gemacht werden, vielleicht zeitweise sogar Irrwege beschritten werden? Die Folgerung aus möglichen Fehlern kann doch nicht sein, deshalb das gesamte Projekt in Frage zu stellen.
Die Folgerung muss sein, wir müssen besser werden, Defizite beseitigen, demokratischer werden, sozialer werden und verständlicher werden, sodass die Mehrheit der Menschen in Europa versteht und schätzt, dass die Europäische Union zum Besten gehört, was auf diesem Kontinent je passiert ist. – Vielen Dank.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte ein vielleicht etwas anderes Bild zeichnen, als es meine Vorredner gezeichnet haben. Ich glaube, die Situation ist ernster, aber vielleicht auch etwas einfacher, als sie hier beschrieben worden ist. Denn out is out, und wenn jemand den Binnenmarkt verlassen will und auch den europäischen Rechtsraum verlassen will, dann ist er draußen. Ich stelle es mir etwas schwierig vor, wie Brexit-Befürworter Verhandlungen mit der Europäischen Union führen wollen, wenn sie den Binnenmarkt behalten, aber keine EU-Vorschriften für sich akzeptieren wollen. Dann sind sie nicht Teil des Binnenmarktes, sie sind auch nicht Teil des euro
päischen Rechtsraums. Und die Debatten, die innerhalb der Brexit-Befürworter geführt wurden, sofern man sie überhaupt als ein gemeinsames Lager wahrnehmen kann, sind schon sehr eigentümlich. Da wird angeführt, man mache das Norwegen-Modell. Norwegen übernimmt 1:1 auch als Mitglied des skandinavischen Rechtsund Wirtschaftsraums alle europarechtlichen Vorschriften, ohne mit am Tisch zu sitzen. Auch das Schweizer Modell wird debattiert, auch hochinteressant. Die Schweiz übernimmt sehr viele Vorschriften des europäischen Rechtsraums, hat aber gar keinen richtigen Binnenmarktzugang, weil sie Steuern, Abgaben und Zöllen unterliegt. Das kann wohl kaum als wirklicher Binnenmarkt bezeichnet werden. Und das Letzte, was debattiert worden ist, ist eine Art von Freihandelsabkommenspartner wie Brasilien. Ich glaube, das muss ich hier nicht näher ausführen, denn jeder weiß sehr genau, woran er dort ist.
Ein Partner, ein vermeintlicher Partner, der über kein Konzept verfügt für das, was danach kommt, ist nicht wirklich ein Partner und kann auch für die Europäische Union kein Partner sein. David Cameron hat die Zerrissenheit seiner Konservativen Partei mit der Zerrissenheit seines eigenen Landes getauscht und dafür muss er nicht nur gegenüber der Konservativen Partei, sondern auch gegenüber Europa seine Verantwortung übernehmen, und das wird er auch tun müssen.
Über solche Politdarsteller wie Herrn Farage kann man eigentlich nur den Kopf schütteln, er ist hoffentlich nur eine Millisekunde in einer Geschichte, die es dann später zu bewältigen gilt. Und über Boris Johnson wissen wir alles: Er hat einen Plan A und einen Plan B, die heißen jeweils Boris Johnson, und was danach kommt, ist diesem Mann ziemlich egal.
Was also ist die Zukunft von dem, was wir als gemeinschaftliche Handelsdrehscheibe erwarten werden? England, sofern es denn irgendwann komplett allein dasteht, wird nicht Teil eines europäischen Rechtsraums sein und damit auch nicht Teil eines europäischen Binnenmarktes. Es ist nahezu unvorstellbar, dass England alle europarechtlichen Vorschriften übernimmt, ohne an diesen irgendwie teilhaben zu wollen.
Wie geht es jetzt weiter mit uns? Europa muss eine Lehre daraus ziehen. Wir sollten Europa im Inneren festigen und nach außen hin stärken. Wir sollten uns auch einmal überlegen, ob wir uns künftig montags im Europaausschuss tatsächlich immer noch mit dem kleinen Karo beschäftigen wollen – ich übertreibe das jetzt einmal. Wir haben viele, viele Vorschriften, bei denen wir uns manch
mal fragen, ob diese wirklich noch Ausdruck der Subsidiarität sind oder ob man Europa nicht auch in Bezug auf das große Ganze stärken sollte. Das führt aber meines Erachtens – und da freue ich mich, dass ich mich von der AfD erheblich abgrenzen kann – auch dazu, dass wir das Europaparlament in der Zukunft stärken müssen, wenn wir es wirklich als ein Parlament sehen wollen.