Ja, genau. – Ich sage es noch einmal: „Die EU ist ein Hebel zur Zerstörung der Demokratie“ – eine solche Position halte ich für völlig abenteuerlich, wie auch andere Positionen, zu denen ich im Verlauf dieser Debatte noch komme.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass Europa auch mehr politische Konturen braucht. Wir werden in Europa auch über die Unterschiede reden müssen, die wir bei den Überzeugungen für die Weiterentwicklung der Europäischen Union haben. Deswegen will ich über die Alternativen reden, so, wie sie sich für uns als Sozialdemokratische Partei darstellen.
Wir sind davon überzeugt, dass wir in Europa in der Tat eine neue Balance zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit brauchen. Das heißt für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten: Wir müssen einen Schritt hin zu einer echten Sozialunion machen – nicht nur zu einer fabulierten.
Denn wir haben es in Europa nicht nur mit einer ökonomischen Krise zu tun, sondern auch mit einer handfesten sozialen Krise. Das habe ich mit meinen Anfangsbeispielen sehr deutlich zu unterstreichen versucht.
Übrigens gilt das nicht nur für die Krisenländer: In fast allen Mitgliedsländern der Europäischen Union ist in den vergangenen Jahren die Ungleichheit gewachsen. Eigentlich ist es paradox, dass angesichts des Erfolgs des Binnenmarktes, des Euros und der Währungsunion gleichzeitig neben dem gewachsenen Wohlstand auch die Ungleichheit in der Europäischen Union zugenommen hat.
Dieser Liberalisierungsmaschine wollen wir eine echte europäische Sozialpolitik entgegensetzen, die diesen Namen auch verdient. Mindeststandards in der Arbeitsmarktpolitik, bei der Alterssicherung oder bei den Gesundheitssystemen: Das ist es, was Europa braucht. Wir schlagen deshalb einen europäischen Pakt für Mindestlöhne vor. So würde es in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union Lohnuntergrenzen geben, Lohndumping könnte endlich verhindert werden.
Wir setzen den bundesdeutschen Teil gerade mit unseren Koalitionspartnern von CDU/CSU in der Bundesregierung um. Damit sorgen wir übrigens auch für eine höhere Binnennachfrage: mit der Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns – von dem manche nicht geglaubt haben, dass er in dieser Koalition möglich wäre –, mit der Begrenzung von Leih- und Zeitarbeit, mit den gezielten Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Forschung. Beschäftigung und Löhne werden damit steigen. Private Haushalte haben wieder mehr in der Tasche als noch vor wenigen Jahren. – Das ist die Politik, die wir in der Bundesregierung umsetzen wollen.
Das hilft im Übrigen auch den europäischen Nachbarn, die uns wiederum ihre Produkte verkaufen wollen; Frau Puttrich hat in diesem Kontext auf die Bedeutung des Europäischen Binnenmarktes hingewiesen.
Dabei ist klar, dass es Deutschland nur dann dauerhaft gut gehen kann, wenn es unseren Nachbarn gut geht; denn 60 % unserer Exporte gehen ins europäische Ausland, zwei Drittel davon in die Eurozone. Deshalb ist es in unserem eigenen Interesse, ein europäisches Wachstumsprogramm aufzulegen, ein Investitions- und Aufbauprogramm, das die Strukturen modernisiert und die Wertschöpfung erhöht.
Der europäische Wachstumspakt in Höhe von 120 Milliarden €, von den Staats- und Regierungschefs beschlossen, muss endlich zügig in die Tat umgesetzt werden. Dies wird auch Firmen in Deutschland volle Auftragsbücher bescheren. Unser Know-how, unsere Logistik, unsere Fahrzeugtechnik werden in Europa gebraucht. Wir müssen und wollen den wirtschaftlichen Fortschritt mit dem sozialen Fortschritt in Europa verbinden – das ist unser erklärtes Ziel, und deswegen streiten wir für eine hohe Wahlbeteiligung am 25. Mai.
Ich will allerdings auch einige kritische Bemerkungen machen; denn für ein dauerhaft hohes Wohlstandsniveau brauchen wir krisenfeste und verantwortungsvolle Banken. Es kann nicht sein, dass Banken wieder zocken, munter ins virtuelle Kasino gehen und ihre Boni auffüllen und dabei nicht für ihre Risiken geradestehen. Teile der Finanzmärkte haben sich schon wieder von der Realwirtschaft abgekoppelt. Europa muss die treibende Kraft für eine Neuordnung der Finanzmärkte sein. Allen muss klar sein, dass sich globale Finanzmärkte nicht nur national und regional kontrollieren lassen, sondern die europäische Ebene brau
Deshalb sagen wir: Wir wollen die Bankentrennung. Wir wollen die gleichen strikten Regeln für die Schattenbanken. Wir wollen die Finanztransaktionssteuer, und wir wollen mit der Bankenunion beweisen, dass wir auf dem richtigen Kurs sind und Banken nicht nur an die Leine genommen werden können, sondern dann auch ihren Beitrag zur Realwirtschaft leisten können – wie es übrigens viele Banker auch wollen. Banken müssen in diesem Kontext aber auch für Banken haften, nicht aber der Steuerzahler.
Wer von einer Sozialunion redet und die Banken härter kontrollieren will, kann bei Steuergerechtigkeit nicht schweigen. Immer noch nutzen europaweit Spitzenverdiener und Großunternehmen alle Tricks zur Steuerflucht und Steuervermeidung, hinzu kommt der kriminelle Steuerbetrug. Das muss man sich einmal vorstellen – wir haben die Zahlen ja schon vor dem 22. September 2013 veröffentlicht –: Über 1 Billion € gehen den Bürgerinnen und Bürgern jährlich europaweit verloren – Geld, das dringend für öffentliche Investitionen in Straßen, Schulen und Kitas gebraucht wird, für die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit oder zum Schuldenabbau. Würden wir alle Steueroasen austrocknen, wären die finanziellen Probleme vieler Staaten auf einen Schlag gelöst.
(Beifall bei der SPD Auch hier schließt sich der Kreis, weil die Lösung dafür „Europa“ heißt. Wir haben klare Positionen dazu. Der Wettlauf zwischen den EU-Staaten um die niedrigsten Un- ternehmenssteuern muss aufhören. Die EU braucht einen gemeinsamen Mindeststeuersatz. Unternehmen müssen ih- re Steuern dort zahlen, wo sie ihre Gewinne erwirtschaften. Ich will es deutlich sagen: Der Spitzenkandidat der konser- vativen Parteien in Europa und damit auch der CDU/CSU ist der Ministerpräsident, der genau diese Politik zum Ge- schäftsmodell seines Landes gemacht hat. Das muss in Europa aufhören. (Beifall bei der SPD)
Steueroasen müssen trockengelegt werden. Wir wollen bis 2014 eine schwarze Liste aller Staaten, die als Steueroasen identifiziert wurden. Ich kann es mir vor diesem Hintergrund nicht verkneifen: Ich bin heilfroh, dass die sozialdemokratisch und grün geführten Landesregierungen im Bundesrat dafür gesorgt haben, dass dieses unsägliche Steuerabkommen mit der Schweiz nicht zustande gekommen ist und wir jetzt eine Chance auf Durchsetzung einer ernsthaften Regelung haben.
In der EU sind rund 6 Millionen Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren arbeitslos. In Griechenland, Spanien und Kroatien ist es sogar jeder zweite oder mehr. Keiner von diesen jungen Menschen hat die Krise verursacht, ganz im Gegenteil. Oft genug sind sie gut ausgebildet und hoch motiviert, und doch sollen sie jetzt bitter für die Krise bezahlen. Ich kann gut verstehen, wenn viele von ihnen auf die Straße gehen, um gegen diese Ungerechtigkeit zu protestieren. Es kann nicht sein, dass wir Banken retten, aber unsere Jugend im Stich lassen. Deswegen sagen wir: Wir wollen den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit ins Zen
In fünf Tagen können wir alle gemeinsam Geschichte schreiben, wenn der erste Kommissionspräsident der Europäischen Union wirklich demokratisch legitimiert wird. Auch darum geht es unter anderem am 25. Mai. Wir brauchen mehr Europa – in der Währungspolitik, beim Klimaschutz, beim Verbraucherschutz, beim Datenschutz, bei der Energieversorgung, beim Handel und in vielen anderen Bereichen. Das habe ich an den Anfang meiner Ausführungen gestellt und will es an dieser Stelle wiederholen.
Was ich hier vortrage, ist keine Theoriedebatte. Hier geht es ganz konkret um die Frage, wie wir unser europäisches Gesellschaftsmodell verteidigen können, unser soziales, demokratisches und wertegeleitetes Gesellschaftsmodell, wie wir unseren Lebensstandard und eben auch unsere kulturelle Vielfalt im 21. Jahrhundert gemeinsam bewahren können. Für mich steht die Antwort fest: Entweder gewinnen wir als Europäische Union alle gemeinsam diesen Kampf, oder jeder Einzelstaat verliert für sich allein.
Deswegen sage ich: Die Populisten, die das Hohelied der Renationalisierung singen, verspielen die soziale Zukunft der nächsten Generation. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, dürfen wir diesen Parolen auch nicht auf den Leim gehen: „Raus aus dem Euro“, „Grenzen wieder hoch“, „Migranten fliegen raus“ – das klingt einfach am Stammtisch, aber diese Parolen sind hochgefährlich. Sie kommen maskiert als Lösung daher, sind aber Nebelkerzen. Die sollen erst einmal erklären, wie man ihre Ideen praktisch umsetzt. Wie soll denn der Austritt aus dem Euro praktisch funktionieren, ohne eine völlige Zerstörung unserer Wirtschaft und den Verlust von Hunderttausenden Arbeitsplätzen nach sich zu ziehen? Würden diese populistischen Parolen Realität, würde dies Deutschland enorm schaden.
Deutschland profitiert nämlich enorm von den offenen Grenzen im Binnenmarkt. Deutschland profitiert enorm durch den Euro. Wir wissen das, aber es ist auch nötig, dass wir das in der Auseinandersetzung mit den anderen deutlich sagen.
Marine Le Pen in Frankreich, Geert Wilders in den Niederlanden, die Extremisten der Goldenen Morgenröte in Griechenland – die sind alle wieder da und erzählen den Menschen: die Nation zuerst, keine Zuwanderung.
sondern sich auf die Sache besinnt. Wir haben durch die Strukturen, die wir geschaffen haben, die Dämonen des 20. Jahrhunderts, den Hass, die Fremdenfeindlichkeit, den Rassismus, gebannt. Wir haben die Dämonen aber nicht abgeschafft. Deswegen sage ich: Wir müssen aufmerksam sein und die Auseinandersetzung überall da aufnehmen, wo sie auch teilweise subtil daherkommt. Ich will es klar sagen: Ich erwarte, dass die politische Auseinandersetzung
mit den Rechtspopulisten der AfD offensiver angenommen wird. Dass die hier ungestraft „Ja zur Integration, Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft“ plakatieren können, ist ein Hinweis darauf, dass wir in diesem Land etwas zu richten haben. Das ist vor allem ein Punkt, der auch an Ihre Reihen geht, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Ich will das weniger engagiert sagen: Ich bin froh, dass es in Ihren Reihen inzwischen offensichtlich eine Debatte gibt, wie man die politische Auseinandersetzung mit der AfD führt, dass es falsch ist, sich der Auseinandersetzung mit der AfD nicht zu stellen und sie durchlaufen zu lassen. Denn das wird nicht gelingen. Populisten muss man stellen, zu jedem Zeitpunkt und bei jedem Thema. Das erwarte ich auch von Ihnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich will zum Schluss kommen. Die Menschen sind, wie sie sind. Zerschlagen wir diese Strukturen, dann sind die Dämonen ganz schnell wieder da. Das beste Immunsystem gegen die Renationalisierung, gegen den Hass, gegen die Fremdenfeindlichkeit ist die Verteidigung unseres einzigartigen werteorientierten Gesellschaftsmodells. Es ist ein soziales, es ist ein demokratisches Wertemodell. In diesem Sinne lassen Sie uns die Chance am 25. Mai nutzen. – Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Herr Kollege Schäfer-Gümbel. – Zu einer Kurzintervention hat sich Frau Kollegin Wissler gemeldet. Bitte, Sie haben das Wort für zwei Minuten.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr SchäferGümbel, Sie haben eben Sahra Wagenknecht zitiert und sie dafür kritisiert, dass sie die EU eine Fassadendemokratie genannt hat. Ich möchte Ihnen erklären, woher dieses Zitat eigentlich stammt. Es stammt aus einem Artikel, der heißt „Für einen Kurswechsel in der Europapolitik – Einspruch gegen die Fassadendemokratie“. Dieser Text ist in der „FAZ“ im August 2012 erschienen, und die Autoren sind Peter Bofinger, Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin, der Mitglied der Regierung Gerhard Schröder war. In diesem Text heißt es – das darf ich Ihnen zitieren –, der „inzwischen fortgeschrittene Prozess der Umwandlung der sozialstaatlichen Bürgerdemokratie in eine marktkonforme Fassadendemokratie“ könne umgekehrt werden.
Deshalb finde ich das unmöglich, was Sie hier machen. Wenn DIE LINKE Fehlentwicklungen in Europa kritisiert, wenn wir völlig zu Recht kritisieren, dass Europa ein Demokratiedefizit hat, dass Europa soziale Ungleichgewichte hat, über die Sie gerade lang und breit gesprochen haben, Herr Schäfer-Gümbel, beispielsweise über die Situation in Griechenland, dann muss man natürlich auch darüber reden: Hat die Politik der EU-Kommission, hat die Politik der Troika, hat die herrschende Politik in Europa vielleicht etwas mit diesen Missständen zu tun?