Protocol of the Session on May 20, 2014

Wahl gehen, dass wir eine bessere Wahlbeteiligung haben werden als bei der Europawahl 2009, bei der die Wahlbeteiligung bei 37,9 % lag. Dazu können wir alle unseren Beitrag leisten.

Wir müssen den Menschen sagen, dass wir in Europa erfolgreich sind. Hessen liegt im Herzen Europas, und Hessen braucht Europa. Deshalb müssen wir immer wieder sagen: Wir brauchen europapolitische Kompetenz. Wir benötigen dazu den Verstand, aber auch das Herz. Europa kann man nicht nur mit dem Verstand betreiben, sondern man muss es auch leben, man muss es auch lieben. Wenn wir nicht begeistert über Europa reden, können wir andere Menschen nicht begeistern.

(Beifall bei der CDU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Lothar Quanz (SPD))

Deshalb wird die Landesregierung weiterhin für die Sicherung gemeinsamer Werte, für wirtschaftlichen Erfolg und für dauerhaften Frieden arbeiten, weil das keine Selbstverständlichkeiten sind. Wir werden weiterhin daran arbeiten, dass die Menschen eine gewisse Empathie für Europa empfinden; denn Europa ist nicht irgendetwas, Europa ist auch nicht irgendwo. Europa ist hier, und Europa sind wir.

(Anhaltender Beifall bei der CDU und dem BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN)

Vielen Dank für die Abgabe der Regierungserklärung. – Erste Mitteilung: Den Oppositionsfraktionen wachsen drei Minuten Redezeit zu. Es sind also insgesamt 33 Minuten.

Zweitens. Ich begrüße auf der Tribüne das schon erwähnte Europakomitee Hessen mit Herrn Dr. Friedrich Bohl an der Spitze.

(Beifall)

Damit habe ich gleichzeitig einen ehemaligen Kollegen dieses Hause begrüßt und begrüße mit ihm Herrn von Hunnius, auch ehemaliger Kollege dieses Hauses. Herzlich willkommen.

(Beifall)

Bevor wir mit der Aussprache beginnen, teile ich noch mit, dass Tagesordnungspunkt 59, Tagesordnungspunkt 60 und Tagesordnungspunkt 61 mit aufgerufen sind:

Dringlicher Antrag der Fraktion der FDP betreffend starkes Hessen in Europa – Freiheit und mehr Chancen für mehr Menschen – Drucks. 19/431 –

Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktion der SPD betreffend Aufruf zur Teilnahme an der Europawahl – ein starkes Hessen braucht ein starkes Europa – Drucks. 19/432 –

Dringlicher Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN betreffend einzigartiges Erfolgsprojekt „Europäische Einigung“ weiterentwickeln – Drucks. 19/433 –

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Vorsitzende der Fraktion der SPD, Herr Schäfer-Gümbel.

Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will mich zunächst bei der Landesregierung herzlich für die Abgabe der Regierungserklärung bedanken, auch weil es uns die Möglichkeit gibt, fünf Tage vor der Wahl zum Europäischen Parlament über europäische Detail- und Grundsatzfragen zu reden.

Ich möchte an den Anfang meiner Ausführungen ausdrücklich die Aussage stellen, dass viele Ihrer technischen Details – ich meine das gar nicht despektierlich – der Aufstellung der Landespolitik in den letzten Jahren von allen Fraktionen des Hessischen Landtags ausdrücklich geteilt und unterstützt wurden, weil wir ein gemeinsames Interesse an einem starken Auftritt in Brüssel haben.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Deshalb werde ich mich in meinen Ausführungen nicht bei diesen Punkten aufhalten. Ich tue das auch deshalb nicht, weil ich in Sorge um die europäische Integration und um die Debatten bin, die wir in diesen Tagen führen. Ich möchte deshalb meine Bemerkungen ausdrücklich anders beginnen.

Am 3. Januar 2014 wurden in Phnom Penh, der kambodschanischen Hauptstadt, drei Textilarbeiter bei Streiks von der Militärpolizei erschossen – drei Textilarbeiter, die mit Zehntausenden anderer Arbeiter dafür streikten, dass der dortige Mindestlohn in der Textilbranche von 57 € im Monat auf 116 € im Monat steigt. Kambodschanische Textilarbeiter arbeiten im Durchschnitt für 30 Cent die Stunde. Die Erhöhung des Mindestlohns auf 116 € hätte dazu geführt, dass in den Einkaufszeilen von Wiesbaden – ob bei Billiganbietern oder Luxusanbietern, ob bei Turnschuhherstellern oder anderen Produzenten – der Preis der Waren um 5 bis 10 Cent pro Stück steigen würde.

Etwa 1.800 km von hier liegt die griechische Hauptstadt Athen. Dort sind derzeit etwa 60 % der unter 25-jährigen Menschen ohne Arbeit und Ausbildung. Ein großer Teil der Bevölkerung ist angesichts der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise und ihrer Auswirkungen in einer schwierigen sozialen und Beschäftigungssituation. Nach einer aktuellen englischen Untersuchung ist es in der Folge zu massiven Verwerfungen im Gesundheits- und Sozialsystem in Griechenland gekommen. Die britischen Autoren kommen in einer Studie aus diesem Frühjahr zu dem Ergebnis, dass die Kindersterblichkeit in griechischen Krankenhäusern zwischen 2008 und 2010 um 43 % gestiegen ist.

Derzeit jagen griechische Faschisten Flüchtlinge durch Athen.

Wenige Kilometer von hier gab es bis zum Herbst 2012 die Firma Teka, einigen Abgeordneten hier im Raum bekannt. 190 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im Werk in Sechshelden Küchen hergestellt haben – teilweise seit 35 Jahren –, haben ihren Arbeitsplatz verloren, weil das Exportgeschäft dieser Firma aus dem Lahn-Dill-Kreis, das im Wesentlichen auf Märkte in Südeuropa konzentriert war, aufgrund der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise keine Absatzmöglichkeiten mehr hatte.

Wenige Kilometer von hier wird bei Opel produziert, und weitaus weiter entfernt, nämlich in Baunatal, werden Fahrzeugteile für VW hergestellt: Fahrzeuge, die ganz wesentlich in den europäischen Export gehen, Fahrzeuge, bei deren Verkauf es in den vergangenen Jahren aufgrund der

schwierigen sozialen und beschäftigungspolitischen Lage gerade auch in den Ländern Südeuropas erhebliche Probleme gab; denn Menschen, die nicht wissen, woher sie das Geld nehmen sollen, um sich zu ernähren, können keine Autos kaufen, völlig egal, ob sie aus Rumänien, aus Spanien oder aus Hessen kommen.

(Beifall bei der SPD)

Ich erzähle all dies, weil es mir zu Beginn dieser Aussprache fünf Tage vor der Europawahl wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass das, was manche in diesen Tagen sagen, nämlich dass die Antwort auf die schwierigen Herausforderungen von Globalisierung, Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise die Renationalisierung ist, grundfalsch ist. Diejenigen, die diese Parolen rufen, vergreifen sich auch am Wohlstand in Hessen.

(Beifall bei der SPD, der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Das Ziel ist deswegen mehr Europa, nicht weniger. Ich finde, es ist notwendig, dass dies in einer Regierungserklärung und in einer Aussprache fünf Tage vor der Wahl deutlich wird. Ich teile nämlich ausdrücklich die Einstellung von Frau Puttrich, dass wir zu wenig über das reden, was Europa an Positivem bringt, und stattdessen häufig Beispiele in die Debatte einbringen – ich bin sehr dankbar für die Erwähnung der krummen Gurke –, die aus nationalen Interessen auf die europäische Ebene eingespielt wurden, um damit europäische Fragen zu diskreditieren. Das genaue Gegenteil ist aber der Fall.

(Beifall bei der SPD)

Ich will am heutigen Tage ausdrücklich zwei weitere Beispiele einbringen, die die Notwendigkeit einer stärkeren europäischen Zusammenarbeit deutlich machen. Wir haben zu Beginn dieser Parlamentssitzung der 300 Kumpel gedacht, die bei dem unerträglichen Grubenunglück in Soma gestorben sind. Wo sind die europäischen – oder auch die deutschen – Initiativen zur Verbesserung der Qualität und des Arbeitsschutzes im Bergbau, übrigens nicht nur in der Türkei, sondern auch in vielen anderen Ländern? Unser Land – unsere Hochschulen und unsere praktische Erfahrung gerade in diesem Bereich – kann ein gutes Beispiel dafür geben, dass das Leben und die Arbeit solcher Menschen geschützt werden und dass sie nicht unter teilweise erbärmlichen Bedingungen ihr Dasein fristen und dafür sorgen müssen, dass sie ihre Familien ernähren können.

(Beifall bei der SPD – Vizepräsident Wolfgang Greilich übernimmt den Vorsitz.)

Ich will auf eine Situation hinweisen, die wir vor wenigen Wochen in Hessen hatten: In Frankfurt mussten rumänische Bauarbeiter als Arbeitnehmer einer Subarbeitsfirma lange auf ihren Lohn warten, weil das Geschäftsmodell, das dahinterstand, ziemlich windig war – um nicht zu sagen: kriminell – und es langer Gespräche bedurfte, bis auf Druck der Gewerkschaft IG BAU und vor allem der 50 rumänischen Bauarbeiter, die sich das nicht mehr gefallen ließen und mit Unterstützung der IG BAU dafür gekämpft haben, dass sie den ihnen zustehenden Lohn bekommen, eine Einigung erzielt wurde.

Dies ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Europa nicht nur freien Kapitalverkehr braucht, sondern auch Tariftreuegesetze, die sanktionierbar, verfolgbar und kontrollierbar sind. Das sind Themen, die uns im Laufe dieser Parlamentswoche noch bewegen werden.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Außerdem will ich zu Beginn dieser Aussprache in Anlehnung an Willy Brandt, den ehemaligen Bundeskanzler unseres Landes und Friedensnobelpreisträger, sagen: Frieden ist das Ziel. – So hat er das einmal formuliert. Frieden ist das Ziel. Mit Blick auf die Ereignisse in der Ukraine kann man sagen: Es ist richtig, dass alle Anstrengungen der Europäischen Union, insbesondere aber auch der Bundesrepublik Deutschland, auf der einen Seite darauf gerichtet sind, eine klare Haltung zu beweisen. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim ist zu verurteilen. Da gibt es eine klare Haltung zu formulieren.

(Allgemeiner Beifall)

Auf der anderen Seite muss klar sein, dass man den Säbelrasslern, von denen mir in diesen Tagen zu viele unterwegs sind, das Handwerk legt und die Bundesregierung und dort zuallererst Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier unterstützt, der in der Tradition von Egon Bahr und Willy Brandt auf einen konsequenten Dialog auch bei großen Unterschieden setzt. Wir müssen alles daransetzen, eine friedliche und zukunftsfähige Antwort auf die UkraineKrise zu bekommen. Diese wird am Ende nur im Dialog mit allen Beteiligten gegeben werden können, nicht nur im Dialog mit einigen.

(Beifall bei der SPD)

Ja, es ist richtig, in der Vergangenheit ist Europa oft genug auf das Binnenmarktprojekt reduziert worden. Es ist richtig: Der Binnenmarkt hat wesentlich zur Wohlstandssteigerung in Europa beigetragen, insbesondere, aber nicht nur in der Europäischen Union. Ja, es ist richtig, dass der Euro einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet hat. Wer wüsste das besser als die Menschen in einem solch exportstarken Land wie der Bundesrepublik Deutschland und also auch wie Hessen?

Das entlässt einen übrigens nicht aus der Verantwortung. Aber klar ist – das muss man fünf Tage vor der Europawahl auch sagen, in Abgrenzung zu manch populistischer Debatte, wie sie von unterschiedlichen Parteien in diesen Tagen geführt wird –, dass man formal darüber entscheiden kann, ob man das Ganze mit Euro macht oder ohne. Klar ist jedoch für mich und meine Partei: Wenn es den Euro nicht gäbe, würde das vor allem Wohlstandsverluste für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bedeuten. Deswegen wollen wir die Währungsunion: weil sie Garant für die Wohlstandsentwicklung in der Europäischen Union ist.

(Beifall bei der SPD, der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich finde, einige machen es sich zu leicht, indem sie auf – zugegeben – richtige und aktuelle Probleme hinweisen, dies aber dann dazu nutzen, das System des Europäischen Binnenmarkts, die europäische Integration oder auch die europäische Demokratie insgesamt infrage zu stellen. Das gilt für Rechtspopulisten wie für Linkspopulisten, die das in diesen Tagen versuchen.

(Beifall bei der SPD, der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP)

Ich will etwas offen sagen. Frau Wagenknecht hat am 15. Februar 2014 gesagt, die EU sei eine Fassadendemokratie.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Das hat Habermas gesagt, und zwar in der SPD-Bundestagsfraktion!)

Spätestens seit dem Vertrag von Maastricht werde die EU zu einer neoliberalen, militaristischen und weithin undemokratischen Macht. Letztlich: Die EU sei ein Hebel zur Zerstörung der Demokratie. – Ich will in aller Klarheit sagen, dass ich das für genauso dümmlich und falsch halte wie das, was von rechts formuliert wird.

(Beifall bei der SPD, der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Janine Wissler (DIE LINKE): Der Feind steht links!)

Frau Wissler, zur AfD komme ich noch, keine Sorge. Dazu werde ich am Ende noch einige Bemerkungen machen. Aber auch in Ihre Richtung muss gesagt werden, wenn mithilfe von Brandreden gezündelt wird – was ich für grundfalsch halte –: Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt und ein Demokratieprojekt. Unter anderem haben wir in Europa – zumindest in wesentlichen Teilen – seit 60 Jahren keinen Krieg mehr. Ich finde, das kann auch die Linkspartei akzeptieren.

(Beifall bei der SPD, der CDU, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der FDP – Janine Wissler (DIE LINKE): Reden Sie mal lieber über Le Pen! Reden Sie über den Front National!)

Ja, genau. – Ich sage es noch einmal: „Die EU ist ein Hebel zur Zerstörung der Demokratie“ – eine solche Position halte ich für völlig abenteuerlich, wie auch andere Positionen, zu denen ich im Verlauf dieser Debatte noch komme.