Schon die Nationalsozialisten sind bei diesem Versuch,zumindest was die Theorie angeht, kläglich gescheitert. Für die Definition dessen, was ein Jude ist, musste am Ende doch auf die religiösen bzw. kulturellen Eigenschaften zurückgegriffen werden – bzw. auf das göringsche Diktum: „Wer Jude ist, bestimme ich.“ Auf diesen Teil von Herrn Sarrazins Umwälzung der Wissenschaften hat in der „Süddeutschen Zeitung“ von gestern der Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses,Maram Stern,die passende Antwort gegeben – ich zitiere –:
Der Ansatz, unterschiedliche Menschen, Gruppen und Kulturen über Genetik definieren und daraus dann auch noch Folgerungen für die praktische Politik ableiten zu wollen, ist aber ein Unding. Und es ist auch Unfug zu sagen, dass Juden schlauer sind als andere.
Es gibt große und kleine Juden, dicke und dünne, schlaue und dumme. Selbst wer meint, uns Juden durch die Zuweisung besonderer Eigenschaften – und dies auch noch auf genetischer Grundlage – einen Gefallen zu tun, der irrt. Denn praktisch passiert genau das Gegenteil. Wenn auch positiv, wir Juden werden wieder herausgehoben aus der Allgemeinheit, in eine Sonderstellung versetzt und damit letztlich doch wieder stigmatisiert. Es muss sich noch in vielen Köpfen die Erkenntnis durchsetzen, dass wir Juden einfach nur Menschen sind, wie alle anderen auch.
Der Versuch, Menschen über ihre genetische Disposition zu definieren, führt intellektuell, moralisch und politisch in die Irre. Der Weg, den Herr Sarrazin hier beschreitet, führt schnurgerade zur Eugenik, also zu der Auffassung, dass bestimmtes Leben fortpflanzungswert sei und anderes nicht. Darauf hat unter anderem Frank Schirrmacher in der „FAZ-Sonntagszeitung“ in der vorletzten Woche vollkommen zu Recht und deutlich hingewiesen.Wer sich auf diesen Weg begibt, meine Damen und Herren, der wird bei muslimischen Türken nicht stehen bleiben. Wer glaubt, er sei nicht gemeint, der könnte sich bitter täuschen.
Auch die Debatte über die Erblichkeit von Intelligenz oder von Intelligenzunterschieden so zu führen, wie Herr Sarrazin sie führt, führt in die Irre. Ich will mich auf die Details und Verästelungen der Intelligenzforschung nicht einlassen, sondern darauf hinweisen, dass Herrn Sarrazins Maßstab für Intelligenz oder Nichtintelligenz im Wesentlichen das Erreichen oder Nichterreichen formaler Bildungsabschlüsse ist. Mit dieser Logik, meine Damen und Herren, hätte man vor 40 oder 50 Jahren die angeborene und deshalb erbliche und unaufhebbare intellektuelle Minderwertigkeit von Arbeiter- und Bauernkindern – und natürlich auch von Mädchen – behaupten und zur Grundlage der Gesellschafts- und Bildungspolitik ma
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sagen: Wer so argumentiert und das auch noch in diesem hochmütig-verächtlich-elitären Ton, wer allein schon die Ernsthaftigkeit des Arguments dementiert, wer so konsequent gegen das intellektuelle, moralische und politische Gebot der Achtung der Würde aller Menschen verstößt, der kann für uns kein Gesprächspartner mehr sein, weil er nach Inhalt und Ton seiner Äußerung zeigt, dass es ihm um die Aufgabe der Integration gar nicht geht.
Weil das so ist, geht es in dieser Frage genau nicht darum, ob wir offen über reale Integrationsprobleme reden wollen oder nicht. Es geht nicht darum, dass da einer angeblich nicht sagen darf, was er denkt – einer, der wochenlang seine Meinung über alle Fernseh- und Hörfunkkanäle sowie über die „Bild“-Zeitung, den „Spiegel“ und andere ungehindert, bis zum Überdruss, verbreiten konnte. Herr Kollege Müller, es geht hier nicht um Meinungsfreiheit, sondern um eine konkrete Meinung,die zu bekämpfen ist, weil sie Tabus überschreitet und verletzt, die nicht verletzt werden dürfen, nämlich die Würde des Menschen und die Frage der rassischen Gleichheit oder Ungleichheit. Darum geht es.
Meine Damen und Herren, es ist auch nicht wahr, dass erst Herr Sarrazin kommen musste, um eine Debatte anzustoßen, die in der Tat geführt werden muss.
Die Debatte wird ja geführt. Man könnte das ohne Weiteres zur Kenntnis nehmen. Es kann doch keine Rede davon sein, dass die Schattenseiten der Integrationsprozesse, die nach wie vor bestehenden Probleme von niemandem erkannt oder benannt worden wären.Wir haben in diesem Hause einstimmig eine Enquetekommission eingesetzt, deren Untersuchungsauftrag genau auch diese Schattenseiten umfasst. Diesem Auftrag kommen wir in der Kommission mit großer Ernsthaftigkeit nach. Es wäre schön – das sage ich an die Kolleginnen und Kollegen der Presse gerichtet –, wenn auch darüber ab und zu einmal berichtet würde. Das sage ich nicht wegen uns Abgeordneten, sondern wegen der vielen hochkarätigen Sachverständigen, die uns dort Rede und Antwort stehen und über die realen Probleme und reale Lösungsansätze Auskunft geben. Es wäre ganz schön, wenn auch einmal darüber berichtet würde.
Meine Damen und Herren, ich will klar und unzweideutig sagen: Die Zeit, als die eine Seite geglaubt hat, die millionenfache Realität der Einwanderung leugnen zu können, ist ebenso vorbei wie der naive Glaube der anderen Seite, Integration sei ein immerwährendes MultikultiStraßenfest oder ein nicht enden wollendes und immer siegreiches Spiel der Fußballnationalmannschaft.
Die Zeit sollte vorbei sein, als die Augen davor verschlossen wurden, dass die integrationspolitische Realität vielerorts und in vielen Fragen weiter ist als die Debatte – insbesondere weiter als der Sarrazin-Typ der Debatte.Die Zeit ist reif dafür, zu erkennen, dass Menschen mit Migrationshintergrund einen unverzichtbaren Beitrag zum wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wohlergehen dieses Landes leisten, dass sie zunehmend erfolgreich ihren Weg auch zu Bildungs- und Berufserfolg gehen, dass es in Zukunft deutlich mehr Zuwanderung braucht, um bei uns Wohlstand und soziale Sicherheit zu gewährleisten, und dass es deshalb sehr wichtig ist, aus den fundamentalen Fehlern der alten Zuwanderungspolitik zu lernen und bei der Integration der bereits Zugewanderten sowohl nachholend als auch vorsorgend endlich kräftig voranzukommen. Auch hier sind die Scheuklappen abzulegen, und die Realitätsverweigerung ist zu beenden. Eine offene Debatte erfordert Offenheit – auf allen Seiten.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich möchte mich in vielen Punkten meinem Vorredner anschließen. Herr Merz hat, was die Intelligenztheorie von Herrn Sarrazin betrifft, sehr wichtige und gute Dinge gesagt.
Ich möchte zur Causa Sarrazin nur noch anmerken, dass sie keine neue Causa ist. Sarrazin hat ein ausreichendes Forum gehabt, über seine Thesen zu reden, auch im Integrationsministerium der Hessischen Landesregierung. Ich wehre mich gegen die Aussage, dass Herr Sarrazin Tabus gebrochen habe. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir gemeinsam daran festhalten,zu sagen:Sarrazin hat keine Tabus gebrochen, sondern Sarrazin polemisiert, provoziert, diffamiert. Dazu sagen wir Nein, weil wir als Demokraten genau diese Thesen nicht unterstützen.
Ich möchte noch einmal unterstreichen, dass in diesem Land selbstverständlich Meinungsfreiheit herrschen muss – das haben wir von diesem Pult aus schon einmal zum Ausdruck gebracht –, dass es aber wichtig ist, wenn einer aus dem Vorstand der Bundesbank das im Namen aller Deutschen sagt, dass Deutschland nicht ein solches Bild abgibt.
Mir ist es wichtig, dass mein Land, Deutschland, im Ausland Vertrauen genießt und dass ich auch darauf vertrauen kann, dass in meinem Land, in Deutschland, die Demokraten in politisch schwierigen Situationen aufstehen und gemeinsam Nein sagen.Wir wollen nämlich keine Ängste schüren, und Ängste bedienen wollen wir auch nicht.
Ich glaube, das haben wir in dieser Debatte gezeigt. Diesen Konsens möchte ich hier noch einmal festhalten.
Nun zur sachlichen Seite der Debatte. Ich möchte einen kurzen Rückblick wagen.Auf den unterschiedlichen politischen Ebenen reden wir noch nicht so lange über die Integration.
1955 sind die ersten sogenannten Gastarbeiter in dieses Land gekommen. Erst im Jahr 2005 ist ein Zuwanderungsgesetz verabschiedet worden, mit dem endlich akzeptiert wurde, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.In der Zwischenzeit waren 50 Jahre vergangen.Wir haben 50 Jahre gebraucht, um festzustellen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.
Jetzt sind wir der Meinung, innerhalb von fünf Jahren all diese Probleme hundertprozentig lösen zu können. Das ist eine erneute Realitätsverweigerung, der wir uns nicht hingeben sollten.
Das ist so, als ob man über verschüttete Milch reden würde. Es bringt nichts, immer in die Vergangenheit zu schauen. Vielmehr haben wir alle in diesem Haus gesagt, wir wollen in die Zukunft blicken.
Deshalb haben wir, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, in diesem Landtag mehrmals eine konstruktive Arbeitshaltung gezeigt.Wir haben die Arbeit der Landesregierung da, wo es sein muss, unterstützt. Bei dieser Haltung bleiben wir.
Aber es ist auch so, dass die Landesregierung arbeiten muss. Sie sind hier seit mehr als elf Jahren in der Verantwortung. Wenn man heute feststellt, es gibt Probleme, kann man nicht so tun, als ob man keinen Beitrag zum Entstehen dieser Probleme geleistet oder nicht zumindest die Lösungsfindung verweigert hätte.
Wir haben in der Tat viele gesetzliche Änderungen eingeführt. Zum Beispiel haben wir Kindern mit illegalem Aufenthaltsstatus den Schulbesuch ermöglicht. Das war ein Schritt in die richtige Richtung. Aber, meine Damen und Herren, es gibt weitere Integrationshürden. Wenn Sie erlauben, können wir gemeinsam einen Blick auf diese Hürden werfen.
Wir haben eine Diskussion über die Integration auf dem Arbeitsmarkt geführt. In der Sitzung der Enquetekommission „Migration und Integration in Hessen“ vor 14 Tagen ist noch einmal klar geworden, dass es bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse ganz große Probleme gibt. Die Landesregierung hat bereits im März angekündigt, sie würde handeln und ein Konzept dazu vorlegen. Auf dieses Konzept warten wir noch.Es ist immer noch so, dass Menschen von Pontius bis Pilatus laufen müssen, wenn sie ihre ausländischen Abschlüsse anerkannt haben wollen.
Dass es nicht so sein darf, sagen wir alle. Wie aber eine Vereinfachung umgesetzt werden kann, sagt bisher keiner. Meine Damen und Herren, das kann nicht sein.
Eine weitere Integrationshürde, die hier genannt werden muss, ist die Vorrangprüfung auf dem Arbeitsmarkt. Men
schen, die hier arbeiten wollen und die beispielsweise einen geduldeten oder einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, müssen erst vom Arbeitgeber bescheinigt bekommen, dass für diesen Job weder ein Deutscher noch ein EU-Ausländer geeignet sind, sondern dass dafür ein Drittstaatsangehöriger angeworben werden muss. Das ist sehr schwer. Viele Arbeitgeber nehmen diese Hürden nicht und geben den Menschen nicht den Job, den sie sonst erhalten hätten.
Was passiert danach? Danach müssen diese Menschen leider öffentliche Transferleistungen erhalten, und schon entsteht das Bild vom in der Hängematte liegenden Menschen mit Migrationshintergrund. Das ist ein falsches Bild. Daran müssen wir arbeiten. Hier müssen wir die Integrationshürden abbauen.
Wir alle sagen, dass die Integration vor Ort, in den Kommunen, erfolgt. Ich habe in diesem Jahr auf meiner Integrationstour den Schwerpunkt auf die Modellregionen Integration gelegt. Jawohl, das ist ein Schritt in die richtige Richtung.
Ich habe in den Kommunen aber auch festgestellt, dass die Menschen nicht wissen, wie sie als handelnde Akteure vor Ort eine nachhaltige Integrationspolitik gewährleisten sollen, wenn die finanzielle Grundlage nicht gesichert ist. Es ist ein Modellprojekt, das in zwei Jahren auslaufen wird. Keiner weiß heute, was in zwei Jahren sein wird, wie wir aus dieser „Projektitis“ herauskommen und wann in den Kommunen endlich eine finanziell gesicherte Basis für eine nachhaltige Integrationspolitik gewährleistet wird. Hierauf brauchen wir eine Antwort, und diese Antwort muss die Landesregierung geben.
Ein Punkt im Zusammenhang mit dem islamischen Religionsunterricht ist ebenfalls mehrmals angesprochen worden. Herr Ministerpräsident Bouffier hat uns vorgestern hier versichert, dass dieses Land einen bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterricht einführen möchte. Dann muss aber auch klar sein, dass Herr Irmer nicht ständig dazwischengrätscht und sagt: Ja, ja, da ist ein Koalitionsvertrag, und wir müssen das erst einmal prüfen. Ob dieser Religionsunterricht bekenntnisorientiert sein wird, wissen wir noch nicht. – Es wird kein einheitliches Bild nach außen vermittelt, und das erzeugt kein Vertrauen.
Hierzu hat seit einem Jahr ein runder Tisch getagt. Wir möchten endlich Zwischenergebnisse erfahren. Wie wird sich also das Land in Sachen islamischer Religionsunterricht verhalten? Da können wir nicht lange warten. Meine Damen und Herren, wir hätten gern schon jetzt Antworten darauf.