Protocol of the Session on September 9, 2010

Ich komme zu einem weiteren Punkt, was die Hürden betrifft.Wir alle reden über Integration, differenzieren aber nicht, welche Form von Integration wir meinen. Bei der nachfolgenden Integration müssen wir viel mehr machen. Über Jahre hinweg sind an diesem Punkt eine Integrationspolitik oder das Vorlegen eines Konzepts verweigert worden. Menschen, die seit Jahren in Deutschland leben, haben keine ausreichende Unterstützung erhalten.

Ich kann dazu ein Beispiel nennen. Ich habe 1995 beim Kinderschutzbund gearbeitet und dort ganz konstruktiv junge Mädchen mit Migrationshintergrund beraten.

Schon damals sind wir zu den politischen Instanzen gegangen und haben gesagt: Es gibt Probleme bei der Sprachförderung, es gibt Probleme mit der häuslichen Gewalt, und es entstehen Probleme für Menschen, die die Bildungsabschlüsse nicht schaffen, weil ihre Eltern Analphabeten sind.

Aber zwischen 1995 und 2005 sind zehn Jahre vergangen. Es wird nicht gehandelt, es wird darüber geredet, und es werden keine Lösungsvorschläge gemacht. Hier währt die Geduld leider nicht ewig.

Frau Kollegin Öztürk, Sie müssen zum Schluss kommen.

Ich komme zum Schluss. – Sehr wichtig ist die psychologische Hürde. Wir müssen den Menschen ein Urvertrauen geben und ihnen vermitteln, dass sie in diesem Land willkommen sind, dass sie hierher gehören und nicht unerwünscht sind. Wenn wir dieses Urvertrauen aufbauten, würde, glaube ich, sehr vieles viel besser funktionieren.

Im Zusammenhang mit der Willkommenskultur möchte ich heute ein Signal aus diesem Hause senden. Gestern war das Neujahrsfest der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Von diesem Pult aus wünsche ich ihnen alles Gute zum neuen Jahr.

Außerdem ist heute Ramadan der muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger. Erlauben Sie mir – die Mehrsprachigkeit ist schließlich vorhanden –, auf Arabisch „Kul a’am wa antum bi khair“ und auf Türkisch „Bayraminiz kutlu olsun“ zu sagen. Das ist eine Form der Willkommenskultur. Ich hoffe, Sie werden mich dabei unterstützen. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Herzlichen Dank, Frau Kollegin Öztürk. – Für die Landesregierung hat Herr Staatsminister Hahn das Wort.

Sehr verehrter Herr Präsident,liebe Kolleginnen und Kollegen! Klaus von Dohnanyi, einer der großen alten Herren der Volkspartei SPD,hat einmal gesagt:Wenn zwei beliebige Mitglieder meiner Partei unter vier Augen das Gegenteil von dem sagen, was sie danach auf dem Parteitag beschließen, geht das auf Dauer nicht gut.

Was lernen wir aus diesen Worten? Nun, die Aufforderung, ein heißes Thema offen anzusprechen, gilt sicherlich nicht nur für Integrationsfragen. Die Frage ist vor allem für Parteien von Bedeutung; denn wir erheben den Anspruch, für die Bürgerinnen und Bürger Politik zu machen. Für jeden von uns gilt es, wachsam zu sein, damit wir nicht in Tabufallen laufen. Viel spannender als die Tabus, die ich dem politischen Mitbewerber um die Ohren schlage, sind die Tabus, die mich und meine Partei betreffen. Das ist die Lehre aus Klaus von Dohnanyis Worten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben: Wir alle haben solche Themen. Manchmal hat das auch gute Gründe. Das Aussprechen

allein reicht nicht aus. Man muss auch Lösungen haben, um die Probleme zu bewältigen.

Ich nehme den Titel der Aktuellen Stunde – so, wie die Union sie beantragt hat – ernst. Was soll in der Integrationspolitik offen ausgesprochen werden, und wo liegen die Schwierigkeiten, wenn es darum geht, Lösungen zu finden?

Mir ist wichtig – nein, ich spreche jetzt nicht von dem Arzt in Wächtersbach –,

(Willi van Ooyen (DIE LINKE): Das kommt erst noch!)

dass Deutschland eine der größten Exportnationen der Welt ist. Mir ist wichtig, dass Hessen mehr als alle anderen Bundesländer davon lebt.Von den Auslandsdirektinvestitionen in Deutschland landet fast ein Fünftel in Hessen.

Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass jeder sechste Hesse einen anderen Pass hat. Mir ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass jedes zweite Kind unter sechs Jahren in Hessen einen Migrationshintergrund hat.

Unter anderem arbeite ich deshalb dafür, dass Hessen ein weltoffenes, tolerantes und freundliches Land bleibt, in dem die Menschen der Welt gerne investieren und in dem sie gern einkaufen.Genau deshalb müssen wir die Schätze an Kompetenz, die in den jungen Migranten schlummern, besser fördern.

Wenn ich das will, muss ich aber auch aussprechen, dass Deutschland in den letzten Jahrzehnten eine Einwanderungspolitik betrieben hat, die, anders als es Länder wie Kanada, Neuseeland oder Australien gemacht haben, aus den Herkunftsländern nicht die qualifiziertesten, sondern in großer Zahl die bildungsfernen Menschen angezogen hat. Deren Kinder an die hohen Anforderungen der Wissensgesellschaft des Jahres 2020 oder des Jahres 2030 heranzuführen ist eine Herkulesaufgabe. Deswegen würde ich gerne Kindergärten für Kinder ab zwei Jahre flächendeckend kostenfrei einschließlich eines kostenfreien Mittagessens anbieten

(Tarek Al-Wazir (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ach komm!)

und die Schule konsequent so gestalten, dass der Erfolg der Kinder nicht von der Bildung der Eltern abhängt. Also flächendeckend Ganztagsschulen, das ist klar.

Ich muss dann aber auch ehrlicherweise sagen, dass das Geld kostet. Ich muss dann sagen, dass es unfair ist, dass unser klammer Landeshaushalt – natürlich gilt das auch für die Kommunen – die Folgen für die Zuwanderungsentscheidungen der Bundespolitik aus den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts zu tragen hat.

Da auch der Bund keinen Geldesel hat, muss ich zugeben, dass ich im Gegenzug bereit wäre, Kürzungen beim Kindergeld zu akzeptieren. Das auszusprechen mag ehrlich sein. Unter vier Augen mögen auch Kollegen der Opposition sagen: Ja, da hast du recht. – Aber wie viele Wähler verärgere ich dadurch, wenn ich das öffentlich sage?

Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, ehrlich wäre es, auszusprechen, dass eine Gesellschaft, in der „hartzen“ zum Jugendwort des Jahres wird, vom Zerfall bedroht ist.Wenn wir im Ausland sind, erleben wir es alle. Wir können den Satz in den Zeitungen lesen oder irgendwo hören: In Deutschland kann man leben, ohne zu

arbeiten. – Das ist in der Tat der falsche Anreiz für die Einwanderung nach Deutschland.

Sozialhilfe, Hartz IV und Arbeitslosengeld II sind Stichworte für die Solidarität der Gesellschaft. Es sind die Stichworte für die Solidarität der Gesellschaft mit Menschen in Notlagen.

Die Notlage ist die Ausnahme. Bei uns besteht aber die Gefahr, dass zu viele Menschen diese Ausnahme schon als Regel betrachten. Manche darunter haben gar den Kombilohn aus Stütze und Schwarzarbeit entdeckt. Auch das ist eine Wahrheit, die viele von Ihnen mit mir teilen würden, wenn wir unter vier Augen sprechen würden.

(Lachen der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Als Politiker müsste ich über Handlungsalternativen nachdenken. Für mich steht dabei der Schutz des Grundgesetzes für die Ehe und die Familien nicht zur Debatte.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Ebenfalls möchte ich nicht, dass unser Sozialstaat durch eine Ellenbogengesellschaft abgelöst wird.Was dann?

Guido Westerwelle hat es gesagt. Hannelore Kraft hat es zu sagen gewagt. Etliche andere haben das auch getan. Sie alle sind von politisch Korrekten im Land zurückgepfiffen worden.

Die Antwort ist ganz einfach: Wir müssen jedem Arbeitsuchenden ein Beschäftigungsangebot machen – jedem. Das muss bis hin zu „simple workfare“ gehen.

Solidarität ist kein Geldautomat ohne Limit. Man kann in einer Gemeinschaft nicht nur abheben, sondern muss auch einzahlen.

Die Geschichte von Hartz IV lehrt uns, dass die Gesellschaft ein voraussetzungsloses Grundeinkommen nicht trägt. Denn diejenigen, die das erarbeiten, erwarten zu Recht eine Gegenleistung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ehrlich ist es auch, dass ich sage:Wir brauchen mehr Respekt. – Art. 1 des Grundgesetzes besagt:

Die Würde des Menschen ist unantastbar....

Das muss über allen unseren Handlungen stehen.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Ausländerfeindliche Parolen passen dazu überhaupt nicht.

Respekt verdient aber auch unser Gemeinwesen. Die Kultur des Respekts ist für viele Zugewanderte lebendiger als für manchen Deutschen. Mir ist aber wichtig, dass der Respekt nicht nur dem Vater, sondern auch der Lehrerin gilt. Er darf nicht nur der Schwester, sondern muss auch der Klassenkameradin gelten. Er darf nicht nur der Familie, sondern er muss auch den Institutionen unserer Gesellschaft gelten.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)

Migration ist ein Schlüssel-Schloss-Phänomen. Die Migranten sind die Schlüssel. Unser Land ist das Schloss.

(Lachen der Abg. Janine Wissler (DIE LINKE))

Menschen wandern dorthin,wo es für sie attraktiv ist.Was wir tun müssen, ist, unser Land so zu gestalten, dass es für

die Menschen attraktiv ist, die wir gerne als Mitbürger haben würden. Nebenbei muss das auch für diejenigen gelten, von denen wir möchten, dass sie bleiben, statt auszuwandern. Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, damit spreche ich die Migrantengeneration an.

Liebe Abgeordnete des Hessischen Landtags, in der Folge merken Sie es: Was wir zu tun haben, ist in Wirklichkeit gar keine isolierte Ausländerpolitik.Alle Maßnahmen,die ich angesprochen habe, ob das Bildung, Arbeit oder die Zivilgesellschaft war, betreffen alle Menschen in diesem Land. Die Herkunft ist da viel weniger wichtig als die Frage, wie wir uns in unserem Land einbringen und wie wir das gemeinsam organisieren.

(Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU)