Protocol of the Session on January 27, 2010

(Günter Rudolph (SPD):Alles an die Ausschüsse!)

Alles an die Ausschüsse.Das ist umso besser.Dann überweise ich die Anträge Drucks. 18/1786, 18/1787 und 18/1827 an den Ausschuss. Hat irgendjemand Bedenken? – Das ist nicht der Fall. – Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe dann den nächsten Tagesordnungspunkt auf und weise vorsorglich darauf hin, dass sich alle ein bisschen kürzer fassen, wenn es irgend geht, weil wir wegen der Feierstunde um 16:55 Uhr aufhören wollen.

Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 12 auf:

Große Anfrage der Abg. Dr. Spies, Fuhrmann, Merz, Müller (Schwalmstadt), Roth (SPD) und Fraktion betreffend Leih- und Zeitarbeit in Hessen – Drucks. 18/1619 zu Drucks. 18/424 –

Das Wort hat Frau Kollegin Fuhrmann.

Herr Präsident, wir machen alle ein bisschen schneller. Meine Damen und Herren! Zunächst einmal möchte ich mich bei der Landesregierung für das Bemühen bedanken, eine Antwort auf die umfangreichen Fragen zu geben. Ich glaube, das ist fällig und auch angebracht.

Meine Damen und Herren, die „Frankfurter Rundschau“ hat im Januar dieses Jahres getitelt: „Die Zeitarbeit – ein deutsches Drama“. Sie hat dabei nicht den Missbrauch der namhaften Drogeriekette gemeint, sondern die faktische Zweiklassengesellschaft, die durch den enormen Boom bei der Zeitarbeit auf dem Arbeitsmarkt inzwischen entstanden ist. Die Zahl der Zeitarbeitskräfte hat sich seit 1997 – da waren es 200.000 Menschen – auf inzwischen fast 800.000 Menschen erhöht. Der DGB geht davon aus, dass es sogar über 1 Million Menschen sind.

Auch die Zahl der Firmen hat sich seit den Neunzigerjahren verdreifacht. Insgesamt hatten – das sind Zahlen, die die Landesregierung dankenswerterweise aus Statistiken der Bundesagentur für Arbeit herausgesucht hat – ungefähr 48.000 Menschen von 60.000 Registrierten eine Arbeit. Die Anzahl ist in den letzten fünf Jahren auf mehr als das Doppelte, auf inzwischen 50.000 Menschen in Hessen, angestiegen.

Jetzt kann man sagen:Bei den eher politischen Fragen,wo keine Zahlen, sondern Einschätzungen der Landesregierung gefordert sind, also insbesondere bei den Fragen 10 und 11, kann man unterschwellig lesen: Was kümmern mich die paar Menschen? Im Vergleich zum gesamten Arbeitsmarkt ist die Zahl der Zeitarbeitnehmerinnen und Zeitarbeitnehmer eher gering.

Als ich die Große Anfrage eingebracht habe, war es ein noch wenig beachtetes Thema. Ich glaube, man sieht auch aus der Antwort der Landesregierung, dass die Landesregierung eher die positiven Seiten dieser Beschäftigungsmöglichkeiten sieht.Was mir fehlt, sind die Bemerkungen zu den Risiken und Nebenwirkungen des scheinbaren Jobwunders Zeitarbeit. Davon ist in der Antwort auf die Große Anfrage nicht die Rede.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Heute, im Januar 2010, steht die Zeit- und Leiharbeit eher im Kreuzfeuer der Kritik –

(Janine Wissler (DIE LINKE):Allerdings!)

aus vielen guten Gründen. Denn die Zeitarbeit ist nicht Germanys next Topmodel für den deutschen Arbeitsmarkt.Auch wenn man sagt, dass nur ein geringer Teil der Betriebe überhaupt Zeitarbeitskräfte einsetzt,so haben – –

(Minister Michael Boddenberg und Staatssekretär Dr.Thomas Schäfer führen an der Regierungsbank ein Gespräch.)

Herr Boddenberg, Herr Dr. Schäfer, es stört wirklich sehr, selbst mit Mikrofon.

(Holger Bellino (CDU): Reden Sie ein bisschen aufmerksamer! – Gegenruf des Abg. Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Die Landesregierung hat nicht dazwischenzuquatschen, wenn da vorne geredet wird!)

Herr Bellino, behalten Sie doch Ihre unflätigen Bemerkungen für sich.Es ist doch schon geregelt.– Vielen Dank.

(Zuruf des Abg. Holger Bellino (CDU))

Meine Damen und Herren, auch wenn nur ein geringer Teil der Betriebe überhaupt Zeitarbeit einsetzt, so sind es in den Betrieben, die Zeitarbeit einsetzen, 45 % der Belegschaft. Das muss uns zu denken geben.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Neueinstellungen werden nur noch über Zeitarbeitsfirmen abgewickelt.Über 10 % der entleihenden Firmen beschäftigen immerhin ein Fünftel ihrer Belegschaft in Zeitarbeit,Tendenz steigend.

Gedacht war Zeitarbeit eindeutig zum Abwickeln von Auftragsspitzen in der Produktion. Dafür war sie gedacht, dafür ist sie auch sinnvoll.

(Beifall des Abg.Torsten Warnecke (SPD))

Heute werden jedoch unsichere Beschäftigungsverhältnisse mehr und mehr zur Regel, und zwar zulasten von Festanstellungen, weil Zeitarbeit strategisch genutzt wird und damit die Rendite der Unternehmen abgesichert werden soll. Ein Viertel der Betriebe, die Leiharbeit nutzen, tun dies nicht, um zusätzliches Personal zu rekrutieren, sondern sie tun es, um ihre Stammbelegschaft abzuschmelzen. Das ist ein Skandal. So war es nicht gedacht.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜ- NEN)

Niedrigstlöhne sind für die Beschäftigten in der Leih- und Zeitarbeit Normalität. Trotz gleicher Aufgaben – es gibt im Gesetz ein Gleichbehandlungsgebot – erhalten sie 20 % bis 40 % weniger Gehalt als die fest angestellten Kollegen. Selbst die Arbeitgeberverbände sagen, dass die Ausnahmeklausel immerhin bei 95 % angewandt wird. Damit ist es keine Ausnahme, sondern es ist leider die schlechte Regel.

Fakt ist auch, 60 % der männlichen und 95 % der weiblichen Zeitarbeitnehmer verfügen über ein monatliches Bruttoeinkommen von weniger als 1.500 c im Monat,und viele von ihnen erhalten zusätzlich Hartz IV. Ein großer Teil der sogenannten Aufstocker sind Vollzeitbeschäftigte, die zu diesen Dumpinglöhnen in der Leih- und Zeitarbeit arbeiten.

Damit entstehen durch die Leiharbeit dem Bund gegenüber Kosten von immerhin 0,5 Milliarden c bei der Grundsicherung. Auch das müssen wir sehen, wenn wir den Boom nicht nur durch die rosarote Brille sehen wollen. Es ist absehbar, dass der Markt für gering Qualifizierte schon bald überwiegend von Leiharbeit bestimmt wird. Heute schon sind 40 % der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer trotz besserer Qualifikation, die sie formal haben, als Hilfsarbeiter ohne Tätigkeitsmerkmale angegeben.

Leiharbeit erschwert so gerade auch für gering Qualifizierte und für diejenigen, die einen Berufsabschluss haben, eine dauerhafte Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Sie wird dadurch behindert. Leiharbeit ist für die allermeisten Arbeitsuchenden keine Brücke in den Arbeitsmarkt, sondern leider eine berufliche Sackgasse. Der gewünschte Klebeeffekt,von dem immer gesprochen wurde, oder auch die Brücke in den Arbeitsmarkt bleiben so in den allermeisten Fällen Ideologie oder Wunschdenken.

Leider haben wir hier alte Zahlen, die Landesregierung hat keine aktuellen erheben können.Sie beziehen sich auf eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, IAB, aus dem Jahr 2003. Damals war die Neuregelung noch nicht fertig. Insofern sind sie etwas fragwürdig. Heute dürfte die Situation sehr viel dramatischer sein.

Aber nach diesen Zahlen sind in Westdeutschland knapp 34 % der Menschen in Leih- und Zeitarbeit sofort nach dieser Zeit wieder arbeitslos gewesen. 19 % waren nicht mehr erwerbstätig, warum auch immer. Knapp 26 % wechselten in die nächste Verleihfirma. Ich glaube, diese Zahlen zeigen, dass die Hoffnungen, die damit verbunden worden sind, sich leider nicht bewahrheitet haben. Leiharbeit heißt Niedriglohn, heißt weniger Urlaub, heißt weniger soziale Sicherung, heißt praktisch keine Kündigungsfrist, heißt keine Firmenrenten und bedeutet so eine dauerhafte Unsicherheit im Erwerbsleben statt einer beruflichen Perspektive.

Frau Kollegin Fuhrmann, Sie müssen langsam zum Schluss kommen.

(Thorsten Schäfer-Gümbel (SPD): Sehr bedauerlich!)

Herr Präsident, ich hätte noch sehr viel zu sagen.Aber ich will mich auf zwei oder drei Sätze beschränken. – Die Schlechterstellung in der Leiharbeit trägt insgesamt zu einer Entsolidarisierung auf dem Arbeitsmarkt zwischen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern untereinander bei und setzt so Standards unter Druck, die in Tarifverträgen mit den Gewerkschaften ausgehandelt worden sind. Ich will die ganzen Missbrauchsfälle à la Schlecker aufgrund der Zeit hier nicht aufzählen. Ich möchte nur eines sagen:

Wir brauchen Lohnuntergrenzen für die Leiharbeit. Wir brauchen tarifliche Mindeststandards. Wir brauchen insbesondere eine Begrenzung der maximalen Verleihzeiten, und wir brauchen eine Stärkung der Betriebsräte der größeren Firmen, sodass die Leiharbeit möglicherweise wirklich zu einer Brücke wird und zum Auffangen von Auftragsspitzen verwendet wird und nicht zu einem Lohndrücken und Standards-Drücken auf dem Arbeitsmarkt. So war es nicht gedacht, und so ist es auch nicht richtig. – Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN)

Vielen Dank, Frau Kollegin Fuhrmann. – Das Wort hat Frau Kollegin Wissler, Fraktion DIE LINKE. Und immer daran denken: Ein bisschen zeitlich straffen, sonst beißt es den Letzten.

(Janine Wissler (DIE LINKE): Jetzt ist die Frage, wer der Letzte ist!)

Der Letzte ist immer der, der jetzt gerade nicht spricht. Deshalb sage ich es der Rednerin. Bitte daran denken.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir begrüßen sehr, dass das Thema Zeit- und Leiharbeit heute auf der Tagesordnung steht; denn gerade macht der Fall Schlecker bundesweit Schlagzeilen. Schlecker entlässt Tausende von Mitarbeiterinnen, um sie in den neuen XL-Filialen wieder einzustellen, aber befristet und zu Niedrigstlöhnen. Statt zuvor 12,50 c erhalten sie jetzt einen Bruttostundenlohn von 6,61 c bis 7,35 c.

Meine Damen und Herren, davon kann man nicht leben. Die Beschäftigten werden zu Aufstockern, und Schlecker bereichert sich auf Kosten der Allgemeinheit.

(Hermann Schaus (DIE LINKE): Hört, hört!)

Erst ein öffentlicher Proteststurm hat dazu geführt, dass Schlecker zumindest keine neuen Verträge mit der betreffenden Leiharbeitsfirma abschließen will. Wir wünschen den Betriebsräten und den Mitarbeiterinnen bei Schlecker viel Kraft und vor allem Durchhaltevermögen, um gegen diese skandalösen Zustände bei Schlecker anzukämpfen.

(Beifall bei der LINKEN)

Völlig zu Recht fordert die Gewerkschaft ver.di jetzt eine generelle Überprüfung der Regeln für Leiharbeit. Das unterstützen wir als LINKE ausdrücklich. Denn Schlecker ist kein Einzelfall. In anderen Branchen gibt es ähnliche Vorgänge. Unternehmen gründen eigene Leiharbeitsfirmen und ersetzen einen Teil ihrer Belegschaft durch Leiharbeiter. Dies sind oft die ehemaligen regulären Mitarbeiter, die nun auf Gehalt, betriebliche Altersvorsorge, Weihnachts- und Urlaubsgeld verzichten müssen. So werden Tarifverträge unterlaufen und Lohndumping betrieben.Denn die Löhne in der Zeitarbeitsbranche liegen bei durchschnittlich 7 c pro Stunde.

Prekäre Beschäftigung macht sich aber nicht nur bei der Lohnhöhe fest. Sie macht sich auch daran fest, dass Zeitund Leiharbeiter noch weniger Kündigungsschutz genießen als die Beschäftigten in anderen Branchen. Dazu kommen noch die fehlenden Möglichkeiten zur betrieblichen Interessenvertretung durch Gewerkschaften und durch Betriebsräte. Leiharbeiter sind gegenüber den Beschäftigten in den weniger werdenden normalen Arbeitsverhältnissen drastisch benachteiligt. Sie werden oft wie Tagelöhner oder wie Arbeitnehmer zweiter Klasse behandelt. Dabei geht es in der Mehrzahl um Menschen, die eine abgeschlossene Ausbildung und auch Berufserfahrung haben.

Besonders betroffen von dieser Entwicklung sind junge Menschen,Berufseinsteiger.Gleichzeitig lamentieren Regierungen, dass junge Menschen immer weniger Kinder bekommen und keine Familien mehr gründen. Aber wie denn? Wenn man schon alleine nicht von seiner Arbeit leben kann, wenn man nicht weiß, in welche Stadt man in der nächsten Woche verliehen wird, wenn man nicht weiß, ob man in der nächsten Woche überhaupt noch einen Job hat, wie soll man da eine Familie gründen? Leiharbeiter sein heißt, ständig auf Abruf zu leben, ohne feste Arbeitszeiten, ohne verlässliche Lebensperspektive. Da wäre es geradezu verantwortungslos, in einer solchen Situation eine Familie zu gründen.

Jedem, der immer noch glaubt, die Agenda 2010 sei eine Erfolgsgeschichte, möchte ich ein Buch empfehlen. Es heißt „Deutschland dritter Klasse: Leben in der Unterschicht“. Die Autoren schildern dort das Leben von Menschen, die im reichen Deutschland in Armut leben. Einer dieser Menschen ist Volker Hoppe. Er ist seit fünf Jahren arbeitslos und hat gerade seine 560. Bewerbung abgeschickt. Mit der Arbeitslosigkeit ist er von der Mittelschicht in Hartz IV abgerutscht.Altersversorgung, Eigenheim, soziales Umfeld, Freundeskreis – alles bröckelt nach und nach weg. In fünf Jahren fand er einen einzigen Job. Ich darf zitieren:

Er unterschrieb einen Vertrag bei einer Leiharbeitsfirma, die ihn in die Verwaltung eines Großunternehmens schickte. „Ich hab da zwar nur 9 c brutto die Stunde bekommen, halb so viel wie meine Kollegen. Aber ich war trotzdem begeistert. Ich hab mich reingehängt. Überstunden gemacht, mich von der allerbesten Seite gezeigt. Mein Vorgesetzter war zufrieden mit mir... Die Leute bei der Leiharbeitsfirma waren zufrieden.“ Alle hätten ihm signalisiert, dass er bald auf eine feste, regulär bezahlte Stelle übernommen werden könnte. „Dann, nach fast drei Monaten, an einem Freitagmittag, hat mich der Chef zu sich geholt“... „Sie brauchen am Montag nicht mehr zu kommen, wir benötigen Sie nicht mehr“... „Es war wie ein Schlag in den Ma