Protocol of the Session on March 28, 2012

Es gibt auch Zweifel an der behördlichen Erfassung und Zuweisung der Förderschullehrer an die Beratungs- und Förderzentren. Die Förderschullehrer werden nach dem Zuweisungserlass künftig zwar nominal am BFZ verortet, sind aber ein fester Bestandteil des Lehrerkollegiums der Schule, in der sie eingesetzt sind. Das gilt genauso für die Sprachheillehrer: Sie sind zwar nominal dem BFZ zugeordnet, bleiben aber weiterhin ein fester Bestandteil des Kollegiums der Schule, an der sie tätig sind. Gerade für diese Lehrer ist es sehr wichtig, dass sie am BFZ einen fachlichen Erfahrungsaustausch mit anderen Förderschullehrern haben.

Zukünftig wird jede allgemeinbildende Schule ein ihr zugeordnetes Beratungs- und Förderzentrum haben. Sie schließen Kooperationsvereinbarungen, sodass die Qualität und die Kontinuität gewährleistet sind.

Inklusion ist etwas anderes als das, was wir bisher im gemeinsamen Unterricht praktiziert haben. Gemeinsamer Unterricht bedeutete, dass Kinder mit Beeinträchtigungen in einer Regelklasse saßen, und stundenweise hat sich ein Förderschullehrer um sie gekümmert. Inklusion aber bedeutet, dass alle Kinder einer Schule nach ihren jeweiligen Möglichkeiten und ihren individuellen Bedarfen von allen an dieser Schule anwesenden Personen – aller Professionen – gefördert und unterrichtet werden.

Das ist eine riesengroße Umstellung für viele Lehrkräfte. Sie sind keine Einzelkämpfer mehr, sondern sie unterrichten zu zweit oder zu dritt in einer Klasse. Es arbeiten Regelschullehrkräfte mit Förderschullehrkräften und vielleicht auch noch mit persönlichen Assistenten in einer Klasse. Daran muss man die Lehrerinnen und Lehrer erst heranführen. Ich sehe es als meine Verantwortung an, diese Veränderungen behutsam, zum Wohle der Kinder und zusammen mit den Lehrerinnen und Lehrern in diesem Land umzusetzen.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Frau Habermann, Sie haben es erwähnt: Ich habe am Montag die Waldschule besucht – eine der Schulen, die seit drei Jahren bei dem Modellversuch „Begabungsgerechte Schule“ mitarbeiten. Ich kann Sie beruhigen: Die Förderschullehrer an dieser Schule sind dem BFZ zugeordnet. Die Klassen an dieser Schule sind nicht verkleinert worden, und der Modellversuch läuft trotzdem sehr erfolgreich.

Eine wichtige Bedingung für das Gelingen dieses Modellversuchs bestand eben nicht darin, dass Förderschullehrer an dieser Schule arbeiten und dass die Klassen verkleinert werden, sondern darin, dass die Vorbereitungszeit ein ganzes Jahr betrug und dass es die freie Entscheidung der Lehrkräfte war, mitzumachen oder zu gehen. Eine Lehrkraft hat eine dieser Schulen auch verlassen, weil sie, wie sie gesagt hat, diesen Weg nicht mitgehen konnte.

Aus den Erfahrungen, die wir dort gemacht haben, werden wir lernen. Wir werden in den beiden ausgewählten Modellregionen in Hessen, der Stadt Wiesbaden und dem Landkreis Offenbach, ganz behutsam erproben, wie man in einer ganzen Region gezielt Kinder mit besonderen Bedürfnissen in Regelschulen, und zwar in der Grundschule

und der Sekundarstufe 1, fördern und ob man dabei dann auf eine Förderschule mit Schwerpunkt Lernen verzichten kann.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Meine Damen und Herren, die Umsetzung der Inklusion ist eine wichtige, bedeutsame und große, aber auch eine schöne Aufgabe für das Land. Sie trägt zur Förderung und damit zum Wohl aller Kinder bei, denn jedes Kind hat seine Stärken, die es zu unterstützen gilt. Ich bin überzeugt – ich sage es noch einmal –: Hessen ist dabei auf einem sehr guten Weg. Wir gehen diesen Weg behutsam, verantwortungsbewusst und unter Mitnahme der Lehrerinnen und Lehrer, der Eltern und zum Wohle der Kinder.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Vielen Dank, Frau Staatsministerin Henzler. – Herr Wagner hat sich gemeldet, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Herr Wagner, Sie haben fünf Minuten Redezeit.

Herr Präsident! Ich habe mich noch einmal zu Wort gemeldet, weil die Kultusministerin gesagt hat, wir GRÜNEN würden bei den Eltern falsche Erwartungen wecken. Wir würden versprechen, dass man von jetzt auf gleich ein inklusives Bildungssystem schaffen könnte.

Frau Ministerin, Sie wissen, dass diese Aussage falsch ist. Als wir hier das Schulgesetzt debattiert haben, hat die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einen detaillierten Änderungsantrag vorgelegt, wie man ein inklusives Schulsystem schrittweise verwirklichen könnte. Sie wissen, dass wir in diesem Änderungsantrag vorgelegt haben, dass wir davon ausgehen, dass man sieben Jahre dafür braucht, bis man die vollständige Umstellung hinbekommen hat. Frau Ministerin, das ist ein sehr klarer und präziser Zeitplan, und ich frage Sie jetzt: Wie ist eigentlich Ihr Zeitplan? Bis wann wollen Sie in Hessen ein inklusives Schulsystem verwirklicht haben?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Frau Ministerin, das ist eine ganz einfache Frage, und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie die Gelegenheit nutzen und noch einmal an dieses Rednerpult treten und sagen, was Ihr Zeitplan ist. Sie können ja sagen, der Vorschlag der GRÜNEN sei zu schnell oder zu langsam, oder Sie fänden ihn an dem und dem Punkt nicht gut. Damit kann ich leben, nicht aber mit einer Ministerin, die die Antwort schuldig bleibt. Von einer amtierenden Ministerin kann man diese Aussage erwarten, wann Eltern das Wahlrecht bekommen, ob sie ihr Kind in eine Regel- oder Förderschule schicken. Ich würde Sie sehr bitten, hier zu sagen, bis wann Sie ein inklusives Schulsystem verwirklicht haben wollen, weil ein Verschieben auf den Sankt-Nimmerleins-Tag wirklich niemandem hilft.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Holger Bellino (CDU): Das hat keiner gesagt!)

Jetzt sagt Herr Kollege Bellino, das habe keiner gesagt. Das nehme ich erfreut zur Kenntnis. Dann kann die Ministerin jetzt gleich an dieses Rednerpult treten und sagen, bis wann sie es realisiert haben will. Dann können wir

uns streiten, ob es sieben oder acht Jahre lang dauert; aber ein Konzept wäre gut.

(Holger Bellino (CDU): Keiner spricht vom SanktNimmerleins-Tag!)

Von Rednern der CDU und der FDP wurde die Wahlfreiheit betont, dass Eltern wählen können, ob ihr behindertes Kind an die Förder- oder Regelschule geht. Wir sagen ausdrücklich: Ja, diese Wahlfreiheit für die Eltern wollen wir auch. – Aber die entscheidende Voraussetzung für Wahlfreiheit ist, dass es ein Angebot gibt, meine Damen und Herren von der CDU und der FDP. Es muss an der Regelschule ein Angebot geben, weil Eltern eben sonst nicht wählen können.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE))

Das ist die Situation, in der die Eltern eben sind. Frau Ministerin, deshalb ist die Fragen so dringlich: Bis wann wollen Sie diese Wahlfreiheit realisiert haben? Wann können die Eltern in diesem Land wählen? – Ich bitte Sie, diese Fragen zu beantworten.

Dann sagt Herr Kollege Döweling, wir hätten uns das mit dem inklusiven Bildungssystem in Kanada, genauer gesagt, in der Provinz New Brunswick, angeschaut, und die seien zwar seit 25 Jahren dran, hätten es aber noch immer nicht so richtig verwirklicht. – Herr Kollege Döweling, während der Reise, an der ich teilgenommen habe, haben uns die Ansprechpartner in New Brunswick gesagt: „Wir haben vor 25 Jahren ein inklusives Bildungswesen eingeführt, und wir machen es seit 25 Jahren noch besser.“ Das ist ein wesentlicher Unterschied zu dem, was Sie gesagt haben, dass sie seit 25 Jahren auf dem Weg seien. – Nein, die haben es seit 25 Jahren.

(Mario Döweling (FDP): So ein Theater!)

Ich frage mich wirklich – mit der Erfahrung, die wir in Hessen mit dem gemeinsamen Unterricht haben; Mitte der Achtzigerjahre, vor 25 Jahren, wurde für Tim und Katharina, so hießen die beiden Kinder, erstmalig in Hessen die gemeinsame Beschulung erstritten –: Wieso diskutieren wir in Hessen nach über 25 Jahren noch immer genauso wie Mitte der Achtzigerjahre? Frau Ministerin, wann wollen Sie sich endlich auf den Weg des inklusiven Bildungswesens machen?

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD)

Die Eltern haben ein Recht darauf, heute von Ihnen einmal einen Zeitplan zu hören, weil Sie nur dann glaubhaft machen, dass Sie wirklich ein inklusives Schulwesen realisieren wollen. Wenn Sie diesen Zeitplan schuldig bleiben, dann bleibe ich dabei: Diese Landesregierung will die Inklusion nicht. Diese Landesregierung will die Inklusion durch eine chaotische Umsetzung zum Scheitern bringen. Herr Kollege Döweling, ich bleibe dabei: Eine solche Politik auf dem Rücken der schwächsten Schülerinnen und Schüler ist ideologisch, und sie ist schäbig. – Vielen Dank.

(Beifall bei dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD sowie des Abg. Willi van Ooyen (DIE LINKE) – Florian Rentsch (FDP): „Schäbig“?)

Vielen Dank, Herr Wagner. – Als Nächste hat sich Frau Cárdenas zu Wort gemeldet. Sie spricht für die Fraktion DIE LINKE.

(Holger Bellino (CDU): Zur Heterogenität des Schulsystems der DDR!)

Frau Ministerin, ich habe lediglich eine kleine Frage an Sie. Ich würde mich sehr darüber freuen, wenn Sie die beantworten würden. Herr Irmer hat nämlich eben in der Debatte gesagt, er möchte in Hessen die Inklusion nur für Kinder, die zielgleich unterrichtet werden können. Ich möchte einfach wissen, ob das auch Ihr Verständnis von Inklusion ist. – Herzlichen Dank.

(Beifall bei der LINKEN – Hans-Jürgen Irmer (CDU): Die Fragestunde ist dienstags!)

Für die CDU-Fraktion hat sich Frau Kollegin Ravensburg zu Wort gemeldet. Bitte schön. Frau Ravensburg, auch Sie haben fünf Minuten Redezeit.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Wagner, auch ich habe an der Delegationsreise teilgenommen und die Provinz New Brunswick besucht. Ich halte Kanada nicht für das optimale System; denn Kanada, insbesondere diese Provinz, ist noch weit davon entfernt, die Inklusion flächendeckend eingeführt zu haben. Die Provinz New Brunswick stand vor der Frage: Wir müssen Inklusion machen. Wie setzen wir sie um? – Dort haben sie uns berichtet, dass sie kein Förderschulsystem hatten. Sie hatten nur wenige Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die überhaupt eine Schule besuchen konnten. Sie haben dann vor der Frage gestanden: Machen wir Förderschulen, oder geben wir die Schüler ins allgemeinbildende System hinein?

Die Antwort war die kostengünstigere Lösung, in die allgemeinbildenden Schulen zu gehen. Wir haben uns dann die Klassen angesehen. Dort gibt es Klassen; da sind die Schüler, die inklusiv unterrichtet werden, schon mit drin. Sie werden in diesem Unterricht aber nicht etwa von qualifizierten Förderschullehrern begleitet, sondern die zweite Begleitperson im Unterricht ist eine nicht ausgebildete Fachkraft, also Schulbegleiter, die wir auch in Hessen haben.

Dann gibt es in dieser Schule pro 250 Schüler einen Förderschullehrer, und die Kinder werden dort stundenweise für Therapien herausgeholt. Wenn die Schüler aufgrund ihres Verhaltens eine Ruhezeit benötigen, werden sie herausgenommen; dafür gibt es auch noch Räumlichkeiten. So, wie die das gemacht haben, ist das für mich keine Inklusion, sondern eine kostengünstige Lösung. So stellen wir uns eine qualifizierte Betreuung der Kinder nicht vor.

(Beifall bei der CDU und der FDP)

Wir müssen schauen, dass gerade die schwierigen Fälle, die einen erheblichen Förderbedarf haben, weiterhin die Möglichkeit haben, in ein hoch spezialisiertes Förderschulsystem zu gehen. Diese Chance besteht in New Brunswick nicht. Dort sind alle Kinder in der allgemeinen

Klasse, diejenigen, die gut inklusiv beschult werden können, aber leider auch die Kinder, die einen erheblichen Förderbedarf haben.

Noch einen Satz zu der Akzeptanz. Es gibt dort auch noch separierte Klassen, die Französisch als Hauptsprache haben. Viele Eltern nutzen die Chance, ihre Kinder nicht für die normalen Klassen anzumelden, indem sie sagen: „Sie sollen Französisch als Hauptsprache haben“, als Umweg, um dem inklusiven Förderschulsystem auszuweichen. Dieses Zweiklassensystem halte ich für falsch. Das wollen wir in Hessen auch nicht haben.

(Beifall bei der CDU und bei Abgeordneten der FDP)

Danke, Frau Ravensburg. – Als Nächste spricht Frau Kollegin Habermann für die SPD-Fraktion.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich war in Kanada.

(Beifall – Zurufe: Oh!)

Frau Ravensburg, ich will jetzt nicht den vierten Bericht anschließen. Ich frage mich nur: Wenn wir alle an der gleichen Reise teilgenommen haben, wie kommt es, dass wir so unterschiedliche Wahrnehmungen mitgebracht haben?

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Claudia Ra- vensburg (CDU): Das frage ich mich auch! – HansJürgen Irmer (CDU): Das zeigt die heterogenen Abgeordneten!)

Aus meiner Sicht ähnelt das, was Herr Wagner berichtet hat, am meisten dem, was ich in Erinnerung habe:

(Gottfried Milde (Griesheim) (CDU): Das ist auch kein Zufall!)

dass da regelmäßig evaluiert wird, was noch zu tun ist, und dass man regelmäßig darüber nachdenkt, ob die Ressourcen ausreichen und wie man zu diesen Ressourcen kommt. Denn finanzielle Probleme gibt es auch dort. Aber man unterzieht sich der Mühe.