Protocol of the Session on June 4, 2004

(Zuruf des Abg. P i e t r z o k [SPD] – Abg. Frau S t a h m a n n [Bündnis 90/Die Grü- nen]: Daran sind wir doch nicht schuld!)

aber es geht auch darum, dass man inhaltlich Jugendvollzug in Bremen getrennt vom Erwachsenenvollzug durchführt.

Inhaltliche Trennung heißt, dass es eine selbständige Anstaltsleitung geben muss, inhaltliche Trennung heißt, dass es ein eigenständiges Konzept für den Jugendvollzug geben muss. Das, was momentan passiert, ist, dass das Vollzugskonzept, das Stufensystem, das möglicherweise für Erwachsene schon völlig fatal ist, eins zu eins auf die Jugendlichen übertragen wird. Man sieht dann bei den Verfügungen, das und das wird für die gesamte Anstalt verfügt, das gilt auch für den Jugendvollzug. Die gesetzliche Regelung ist eine völlig andere. Es muss darum gehen, eigenständig für den Jugendvollzug eine richtige inhaltliche Konzeption zu machen. Das passiert gerade in Bremen nicht. Das kann man aber praktizieren, das wäre ohne weiteres möglich, das wäre auch ohne erheblichen Mittelaufwand mög

lich. Dafür bedarf es aber einer politischen Entscheidung. Das, was Sie machen, ist, sie immer weiter hinauszuzögern, aber irgendwann werden Sie sie treffen. – Vielen Dank!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Als nächster Redner erhält das Wort der Abgeordnete Tittmann.

(Unruhe)

Bleiben Sie doch ganz ruhig, ich habe doch noch gar nichts gesagt!

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Wir behandeln heute mit der Großen Anfrage, Drucksache 16/75, das wichtige Thema Jugendstrafvollzug Blockland. In dieser Großen Anfrage geht es auch um eine Verlegung der jugendlichen Strafgefangenen ins niedersächsische Hameln. Ich sage Ihnen aber gleich, dass Sie dieses große soziale Problem nicht dauerhaft lösen können, indem Sie es einfach nach Niedersachsen abschieben beziehungsweise verlegen. Wer das glaubt, der irrt sich gewaltig. Ich bezweifle sehr stark, dass eine Verlegung dieser jugendlichen Strafgefangenen nach Hameln sinnvoll und zweckmäßig ist, denn eine Verlegung nach Hameln bringt weder aus finanzieller noch aus sozialer Sicht irgendwelche Vorteile für das Bundesland Bremen, ganz im Gegenteil!

Meine Damen und Herren, Probleme müssen dort gelöst werden, wo sie entstehen, also hier direkt vor Ort in Bremen, und das in Zusammenhang mit den Familien der jugendlichen Straftäter sowie im Umfeld der Jugendlichen wie zum Beispiel in der Schule oder am Arbeitsplatz, Ausbildungsplatz und so weiter. Nur im direkten sozialen Umfeld der Jugendlichen können wir das große Problem der Jugendkriminalität bekämpfen, aber auch nur ansatzweise lösen. Das geht mit Sicherheit nicht im Zusammenhang mit einer wichtigen Zusammenarbeit mit den Familien an einem Standort wie Hameln.

Meine Damen und Herren, Herr Senator – der ist im Moment nicht da,

(Bürgermeister D r. S c h e r f : Hallo, 2,04 Meter! – Heiterkeit)

entschuldigen Sie bitte, auch das kann man übersehen –, ich muss Sie doch wohl nicht erst daran erinnern, dass es zu Ihrer und des Senats Aufgabe gehört, dass das Bundesland Bremen sich um seine eigenen Leute, auch wenn es noch so schwierig ist, selbst kümmern muss, anstatt andere Bundesländer damit zu belasten und unser Problem dorthin zu verlagern. Ich sage Ihnen in aller Deutlichkeit, wir können, wir müssen und wir werden hier in Bremen das Problem genauso lösen wie in Hameln. Wir müssen

nur dafür sorgen, dass zum Beispiel der gleiche Personalschlüssel, wie wir ihn künftig in Hameln teuer bezahlen sollen, auch hier in Bremen für das Blockland eingeführt wird.

Tatsache ist doch, dass Bremen für teures Geld den sehr hohen Standard einkauft. Die Kosten, die das Bundesland Bremen dafür tragen müsste, stehen dazu in keinem Verhältnis. Tatsache ist auch, die Strafvollzugsanstalt in Hameln müsste ihre Kapazität erweitern, um unsere jugendlichen Straftäter unterbringen zu können. Das sind meines Wissens noch einmal zusätzliche 15 Millionen Euro, die das Land Bremen bezahlen müsste. Hinzu kommt noch der Abriss der Jugendstrafanstalt Blockland, der zusätzlich noch mit einigen Millionen Euro veranschlagt worden ist, wobei ich sagen muss, dass ich einen Abriss von Gebäuden, die erst 35 Jahre alt sind, für völlig unnötig und unsinnig halte. 35 Jahre sind für die bauliche Substanz eines Hauses wahrlich noch kein Alter, oder würden Sie als Hausbesitzer Ihr Haus nach 35 Jahren einfach abreißen? Ich glaube kaum!

Also, meine Damen und Herren, es macht doch alles keinen Sinn, und wenn wir hier im Jugendstrafvollzug effektive Einsparungen erreichen wollen – das habe ich hier schon öfters wiederholt –, dann sollten Sie die nachweislich sehr hohe Anzahl von ausländischen Jugendlichen, aber nicht nur diese Kriminellen, sondern auch andere kriminelle ausländische Straftäter, rigoros in ihre Heimatländer abschieben. Mit diesen großen Einsparungen und mit dieser Summe könnten Sie mit Sicherheit die Anstalt im Blockland sanieren und dauerhaft erhalten. Hinzu kommt noch, dass die Besuchermöglichkeiten für die jugendlichen Straftäter, und das sind ja wahrlich nicht alles Schwerverbrecher, Mörder oder Kinderschänder, in Hameln sehr eingeschränkt sind, von einer Berufs- oder Schulausbildung, die dort nur sehr schwer fortgesetzt werden kann, ganz zu schweigen.

Meine Damen und Herren, Sie sehen, eine Verlegung unserer jugendlichen Straftäter nach Hameln macht nun wirklich keinen Sinn. Sie ist nur auf Kosten der Steuerzahler unnötig teuer, das wurde hier schon erwähnt, zirka 7,2 Millionen Euro Steuergelder. Sie schaffen damit zwar Arbeitsplätze in Niedersachsen, aber in Bremen werden sie abgeschafft. Sorgen Sie lieber mit geeigneten Maßnahmen dafür, dass die Strafmündigkeit auf mindestens 14 Jahre gesenkt wird, so wie es die Deutsche Volksunion schon seit Jahren fordert! Das wäre sinnvoller und zweckmäßiger. – Ich danke Ihnen!

Als Nächster hat das Wort der Präsident des Senats, Bürgermeister Dr. Scherf.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich verstehe,

dass die Abgeordneten mit der gegenwärtigen Lage unzufrieden sind. Sie ist für alle Beteiligten anstrengend, besonders für die, die als Hauptamtliche die Arbeit Tag und Nacht und sieben Tage in der Woche zu bewältigen haben, das stimmt. Andererseits kann man diese laufenden Verhandlungen mit Niedersachsen nicht einfach durch ein Diktat bestimmen. Wir sind darauf angewiesen, dass wir uns verständigen.

(Vizepräsident R a v e n s übernimmt wieder den Vorsitz.)

Im Grundsatz sind wir bereit, etwas Gemeinsames zu machen. Wir wollen auch in anderen Bereichen vieles gemeinsam machen. Es gibt ja im beschäftigungspolitischen Saldo erst am Schluss eine Beurteilungsmöglichkeit. Heute habe ich gerade in der Zeitung gelesen, dass Bedienstete des Statistischen Landesamtes in Hannover streiken, weil sie nicht wollen, dass sie nach Bremen kommen.

(Abg. Frau W i e d e m e y e r [SPD]: Die würden wir so herzlich willkommen hei- ßen!)

Man muss die Interessen der Mitarbeiter respektieren, das ist klar, sonst macht man Fehler, aber andererseits ist es richtig, wenn sich die beiden Landesregierungen vorgenommen haben, übrigens schon seit langem, das ist jetzt nicht erst nur mit der gegenwärtigen niedersächsischen Landesregierung verabredet, sondern mit den Vorgängern ebenfalls, dass wir alle Möglichkeiten, enger zusammenzuarbeiten, ausreizen. Das erwarten die Leute zu Recht von uns, die hier an der Küste oder im Nordwesten der Bundesrepublik wohnen, und so müssen wir uns auch verhalten.

Ich finde vieles, was die Sprecherin und der Sprecher der großen Koalition gesagt haben, richtig, dass wir mit einer kleinen Anstalt wirklich nicht das im Jugendstrafvollzug anbieten können, was eine große Anstalt machen kann. Herr Köhler, das sagt eigentlich auch die Fachöffentlichkeit, darüber kann man nicht hinwegsehen. Dass das finanzierbar sein muss, ist klar. Wir können dort nicht Geld verschenken, das haben wir auch gar nicht. Wir müssen das hier genau ausreizen. Wenn das nicht geht, weil die Mittel in Niedersachsen auch knapp sind – die haben ja die gleichen Haushaltsprobleme wie wir –, dann müssen wir uns etwas Neues einfallen lassen. Zurzeit verhandeln wir mühselig, mir dauert das alles viel zu lange, aber wir verhandeln, und man sollte Verhandlungen nicht aus Ungeduld abbrechen, sondern man muss die Nerven haben, um das zu Ende zu bringen.

Ich habe bei Herrn Köhler herausgehört, dass die Tatsache, dass ich das in Personalunion mache, ein Teil des Problems sei. Dahinter verbirgt sich ja et

was ganz Abenteuerliches, lieber Herr Köhler, nämlich dass Sie denken, dass es einen im Senat gäbe, wenn er denn ausschließlich und allein für Justiz zuständig wäre, der sich loslösen könnte von dem übrigen, gesamt zu verantwortenden Sparkonzept des Senats und der dort grünes Licht für mehr Geld hätte. Das werden Sie nicht schaffen. Selbst wenn Sie in der Regierung säßen und Sie Justizsenator wären, müssten wir Ihnen allen beibringen, dass Sie aus dieser Pflicht des Senats, in jedem Haushalt und auch im Justizhaushalt genau hinzuschauen, nicht entlassen werden. Das ist eine Fehleinschätzung zu glauben, man könnte sich dort zusätzliche finanzielle Spielräume dadurch erkämpfen, dass man einen weiteren Menschen im Senat hat. Der kostet übrigens erst einmal Geld,

(Abg. P f a h l [CDU]: Woher sollen die das wissen!)

und das hilft dem vor Ort gar nichts, und er befreit sich natürlich nicht aus dem Sparrahmen der Übrigen, sondern er muss, bitter genug – das merken Sie doch bei Bildung und Soziales –, erkennen: Das sind doch alles extrem unangenehme, unpopuläre, schwierige, schmerzliche, wehtuende, uns in politische Legitimationsnotlagen bringende Sparvorgaben. Trotzdem können Sie sich nicht prinzipiell daraus befreien, sondern Sie müssen eine Lösung in einem vertrackt engen Sparrahmen finden. Das ist leider auch die Ausgangsbasis des Justizressorts. Das ändert sich nicht, auch wenn dafür ein weiterer Senator zuständig ist. Trotzdem akzeptiere ich Kritik. Meine Hoffnung ist, dass wir das im Laufe dieses Jahres so klären können, dass wir zu Entscheidungen kommen! Frau Hannken hat gehofft, dass das nach der Sommerpause geht. Ich hoffe, dass das im Laufe dieses Jahres passiert, aber ich hoffe schon eine ganze Weile. Insoweit ist es etwas schwierig, dazu konkrete Daten zu nennen, aber ich hoffe, im Laufe dieses Jahres zu Entscheidungen zu kommen. Das verlangen die Mitarbeiter unserer Einrichtungen zu Recht. Sie haben sich sehr engagiert und couragiert auf den Neubau eingelassen. Es gibt eine gründliche, detailliert mit den Mitarbeitern geführte Beratung über das, was wir über einen solchen Neubau unter Kostengesichtspunkten schaffen können. Wir wollen ja sparen. Wir wollen einen Neubau mit Personaleinsparungen finanzieren und rechtfertigen können. Dieses Procedere ist bei allen hochverantwortlich gelaufen, und das ist belastbar und steht zur Entscheidung an, aber die Voraussetzungen dafür sind, dass wir klären, wer denn in einen solchen Bau kommt. Da hat es nun bei den Jugendlichen Vorentscheidungen gegeben, die wir jetzt mit den Niedersachsen zu Ende bringen müssen. Bei den Frauen hat es, wie ich finde, einvernehmliche Entscheidungen gegeben, die jetzt praktiziert werden. Dieser Um

zug ist schon praktisch vollzogen, man kann schon sehen, dass es dort am Fuchsberg gut voran geht. Es hat keine Verschlechterung, sondern eher eine Klärung durch diese neue Unterbringung der gefangenen Frauen gegeben, und nun müssen wir für den übrigen Teil ebenfalls eine Lösung erarbeiten. Ich weiß, dass ich dafür meinen Hals und meine Verantwortung hinhalten muss, aber ich bin darauf angewiesen – jetzt lacht mich Frau Wiedemeyer an –, dass Sie und alle, die uns dort im Haushaltsausschuss ganz strikt begleiten, merken, dass wir wirklich alles ausreizen. Wir machen da keine Schummelgeschichte, sondern wir sind da mit ganz großen Mühen und mit sehr harter Alltagspraxis dabei, unter den sparpolitischen Vorgaben so etwas wie einen Strafvollzug zu praktizieren, den wir glauben noch gemeinsam verantworten zu können. Die Vorarbeiten zum Neubau sind vom Justizressort noch nicht abgeschlossen, aber wir werden das machen. Wir bringen das zu einer Entscheidung im Laufe dieses Jahres, und dann werden wir weiterdiskutieren. Herr Köhler, Sie bekommen das heute alles nicht zu Ende, das wissen Sie auch. Darum lassen Sie uns auf das konzentrieren, was an Zuarbeit und Klärung noch in den nächsten Monaten zustande kommt! Dann bringen wir Ihnen ein hoffentlich jedenfalls die Koalitionäre überzeugendes Konzept. Wir müssen aushalten, dass man aus Oppositionssicht dann auch noch einmal Kritik hat, und dass Sie die Jugendrichter auf Ihrer Seite haben, ist okay. Jugendrichter haben freie Meinungsäußerung, und sie können ihre Kritik sagen, das muss aber trotzdem nicht richtig sein.

(Abg. Frau L i n n e r t [Bündnis 90/Die Grünen]: Kann aber richtig sein!)

Ich wollte noch etwas sagen zu dem Problem „Einsperren oder nicht einsperren?“. Da haben Sie einen Teil gehabt, wo ich gesagt habe, genau, das ist auch meine Meinung, Jugendliche sollten möglichst nicht hinter Schloss und Riegel gebracht werden, sondern alles sollte ausgereizt werden, was an offenen Alternativen und Verschlussalternativen zu haben ist. Das machen wir übrigens sehr engagiert. Das hat auch keinen Einbruch erlitten, sondern das wird hier in Bremen, wie ich finde, gut gemacht. Bei denen, die dann eingesperrt sind, muss man ganz genau hinschauen. Das sind nicht die Vierzehn-, Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen, das sind auch noch nicht einmal die Siebzehnjährigen, sondern das sind in einem übergroßen Anteil heranwachsende Achtzehn- bis Einundzwanzigjährige, und es sind in einem wachsenden Anteil Leute, die inzwischen über 21 sind, weil sie nämlich als Heranwachsende in dieser Zeit zwischen 18 und 21 beurteilt worden sind, aber als das Urteil dann ergangen ist und sie ihre Strafe angetreten haben, sind sie schon älter geworden. Wir haben es da mit einem erstaunlichen Anteil von eigentlich erwachse

nen Männern zu tun, die nicht eine abgebrochene Ausbildung als Vierzehnjähriger nachholen, sondern die ihre Strafe verbüßen müssen wie andere auch. Darauf muss man sich einstellen, und das muss man so nüchtern wie möglich machen, das muss man auch so gerecht wie möglich machen, aber das macht klar, dass sich die Inhalte des Strafvollzugs hinter verschlossenen Türen im Jugendstrafvollzug wesentlich geändert haben durch diese Praxis, möglichst viele vor Verschluss zu bewahren und möglichst viele außerhalb des Verschlusses mit den verhängten Strafen zu erreichen und noch zu beeinflussen. Das, finde ich, ist eine richtige Richtung, eine richtige Weichenstellung, aber damit muss man nüchtern umgehen, und dann bekommen wir auch in Zukunft eine tragfähige Antwort für den Bremer Vollzug. – Ich danke Ihnen!

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aussprache ist geschlossen. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit der Drucksachen-Nummer 16/257 seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen!

(Dafür Bündnis 90/Die Grünen)

Ich bitte um die Gegenprobe!

(Dagegen SPD, CDU und Abg. W e d - l e r [FDP])

Stimmenthaltungen?

(Abg. T i t t m a n n [DVU])

Ich stelle fest, die Bürgerschaft (Landtag) lehnt den Antrag ab. Im Übrigen nimmt die Bürgerschaft (Landtag) von der Antwort des Senats, Drucksache 16/251, auf die Große Anfrage der Fraktionen der CDU und SPD Kenntnis.

Ernsthafte Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufnehmen, wenn die Kopenhagener Kriterien der Demokratisierung und wirtschaftlichen Entwicklung und Stabilität erfüllt werden

Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 8. April 2004 (Drucksache 16/210)

Dazu als Vertreter des Senats Bürgermeister Dr. Scherf, ihm beigeordnet Frau Staatsrätin Dr. Kießler.

Die Beratung ist eröffnet. Das Wort erhält die Abgeordnete Frau Dr. Trüpel.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Als Vorbemerkung zu dieser Debatte über einen möglichen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union möchte ich bemerken, dass es für mich einen großen Unterschied gibt, ob man Gebrauch oder Missbrauch von einem Thema macht. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben gerade am 1. Mai 2004 die EU-Osterweiterung gefeiert. Bevor ich zu der Frage eines möglichen Beitritts der Türkei komme, möchte ich auf das historische Datum der EU-Osterweiterung eingehen. Damit ist die Spaltung Europas auch offiziell überwunden. Die Folgen des Kalten Krieges sollen der Vergangenheit angehören, Europa will in Frieden leben. Die verhängnisvollen Kriege der europäischen Staaten und Nationen sollen ein für alle Mal der Vergangenheit angehören. In dieser Hinsicht, meine Damen und Herren, ist Europa eine Erfolgsgeschichte, und das soll es auch bleiben.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Ich teile die Meinung und Haltung derjenigen, die die Chancen Europas und auch der EU-Osterweiterung höher bewerten als ihre Risiken, und bei allem Verständnis für die Ängste und Sorgen der Menschen möchte ich mich gegen Kleinmut und Abschottung wenden. Ich sage all denjenigen, die vor der Erweiterung warnen oder glauben, alle ökonomischen Probleme lägen an dem Beitritt der armen Nachbarn: Sie täuschen sich! Die ökonomischen Probleme der Globalisierung hängen nicht an der EUOsterweiterung. Die wirtschaftliche Erneuerung Europas liegt nur in einer Vorwärtsstrategie, meine Damen und Herren. Wir müssen den Strukturwandel angehen, die Märkte wachsen lassen und den Markt sozial und ökologisch regulieren und so die Globalisierung gestalten! Das ist Europas Zukunft, das ist Europas Chance!

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen)

Ich betone noch einmal und möchte Sie auch gleichzeitig daran erinnern, dass die Ängste vor dem Beitritt Spaniens, Portugals und Griechenlands, es würde sich eine ungeheure Arbeitsmigration in die europäischen Zentralländer ergeben, sich so auch nicht bewahrheitet haben. Die Ängste, die damals geäußert wurden, waren sehr ähnlich, aber wir können heute feststellen, wir haben es stattdessen mit einer Wohlstandsverbesserung in diesen Ländern zu tun, die hat es gegeben, und das ist sehr erfreulich.

Liebe Kollegen, nie wieder soll sich Europa an ethnischen und religiösen Fragen so auseinander dividieren, dass man die Waffen gegeneinander erhebt. Bei allem Respekt für die drei Weltreligionen in Europa, die Zeit, in der wir uns im religiösen Gegeneinander definierten, sind vorbei und müssen vorbei sein.