Liebe Kollegen, nie wieder soll sich Europa an ethnischen und religiösen Fragen so auseinander dividieren, dass man die Waffen gegeneinander erhebt. Bei allem Respekt für die drei Weltreligionen in Europa, die Zeit, in der wir uns im religiösen Gegeneinander definierten, sind vorbei und müssen vorbei sein.
Für die EU-Osterweiterung gibt es in der deutschen Bevölkerung eine Mehrheit von 55 Prozent. Viel umstrittener, das gebe ich hier freimütig zu, ist in der Bevölkerung und auch in den Parteien die Frage eines möglichen Beitritts der Türkei. Es ist richtig, dass definiert wird, wer zur Wertegemeinschaft Europa gehören darf und soll. Deswegen möchte ich mich dieser Herausforderung auch hier stellen. Ich möchte Ihnen jetzt darlegen, warum die Grünen für ernsthafte Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind, wenn die Türkei alle Beitritts- und Demokratisierungserfordernisse erfüllt.
Wir Grünen sind der Meinung, dass es ein ungeheuer großer Gewinn wäre, wenn die Türkei sich zu einem wirklich demokratischen Staat entwickeln würde, und zwar innenpolitisch für die Türkei wie für die gesamte Frage der Entwicklung des Nahen Ostens und für die Frage der Demokratiefähigkeit eines islamisch geprägten Landes. Die Regierung Erdogan hat sich aufgemacht, viele Reformen in Angriff zu nehmen. Eine Mehrheit der Türken wünscht den Beitritt, und diese sollten wir nicht enttäuschen.
Wir würden diese Menschen von Europa weg und in die Arme der Islamisten, der Antiwestler treiben, daran können wir kein Interesse haben.
Meine Damen und Herren, der Türkei sind seit 1963 Angebote deutscher Regierungen gemacht worden, der EU irgendwann beizutreten. Auch Helmut Kohl als Bundeskanzler hat an diesem Kurs nie einen Zweifel gelassen, dass, wenn die Türkei die Demokratisierung, den wirtschaftlichen Aufschwung und die wirtschaftliche Stabilität schafft, Europa dann seine Versprechen auf ernsthafte Beitrittsverhandlungen aufrechterhalten muss. Das ist auch die Meinung der Grünen. Deshalb halten wir auch von dem jetzigen Vorschlag von Frau Merkel, nur eine privilegierte Partnerschaft anzubieten, nichts.
Wir sind für den von der EU-Regierungskonferenz in Kopenhagen 2001 beschlossenen Weg. Dieses Vorgehen ist sogar einstimmig in Kopenhagen von der Regierungskonferenz beschlossen worden.
Ich möchte Ihnen jetzt die so wichtigen Kopenhagener Kriterien, die nach diesem Gipfel genannt sind, nennen: Abschaffung der Folter, Abschaffung der Todesstrafe, klare rechtsstaatliche Prinzipien,
Minderheitenrechte insbesondere für die Kurden, das Zurückdrängen der Rolle des Militärs, die Gleichstellung der Geschlechter, Religionsfreiheit, das heißt zum Beispiel auch Religionsfreiheit für die Christen in der Türkei und für andere religiöse Minderheiten, wirtschaftlicher Aufschwung, wirtschaftliche Stabilität, Eindämmen der Inflation. Es gibt noch mehrere, aber, ich finde, das sind die Kernkonditionen, die formuliert worden sind, und an denen wird die Türkei gemessen und muss sie auch gemessen werden.
Meine Damen und Herren, es gibt ein klar verabredetes Verfahren. Im Oktober dieses Jahres wird die EU-Kommission die Fortschritte der Türkei beurteilen, und die Regierungskonferenz im Dezember dieses Jahres wird entscheiden, ob die erfolgten Veränderungen und Demokratisierungsschritte ausreichend waren, um in ernsthafte Beitrittsverhandlungen einzutreten. Diesen Weg finden die Grünen richtig. Es ist klar definiert, und der Weg ist klar konditioniert. Es müssen substantielle Veränderungen greifen, dann, meine Damen und Herren, gibt es keinen ernsthaften Grund, nein zu sagen. Bisher hat der Zwischenbericht der Europäischen Kommission im April deutlich gemacht, dass es zwar überzeugende Fortschritte gibt, diese aber noch nicht ausreichend sind.
Ich muss Ihnen auch sagen, dass mich das erneute Urteil gegen Leyla Zana, die kurdische Politikerin, die in Haft bleiben muss, erschüttert hat. Das EU-Parlament und Kommissionspräsident Prodi haben das auch sehr deutlich kritisiert. Das ist richtig und notwendig so.
Ich möchte besonders betonen, dass es von unserer Seite keinen falschen Bonus für die Türkei gibt, aber auch kein prinzipielles Nein. Dieses prinzipielle Nein, das wir hier gleich noch hören werden, ist aus unserer Sicht unhistorisch und falsch. Wir teilen nicht das Argument, die Türkei gehöre geographisch nicht zu Europa. Sie ist immer ein Staat gewesen, der mit einem Teil zum klassischen europäischen Kontinent gehört hat.
Wir teilen auch nicht das Argument, ein islamisches Land wie die Türkei gehöre nicht zu Europa. Europa ist, wie der christdemokratische Ministerpräsident von Luxemburg Jean-Claude Junker gesagt hat, kein Christenclub. Es ist immer ein Kontinent mit drei Weltreligionen gewesen, natürlich war das Christentum insgesamt prägend, aber es hat immer
Judentum und Islam auf unserem europäischen Kontinent gegeben, und das ist auch gut so. Es hat auch andere Glaubensrichtungen in der Geschichte unseres Kontinents gegeben, und deswegen muss dem auch Rechnung getragen werden.
Meine Damen und Herren, selbst Leyla Zana, die noch im Gefängnis sitzt, sagt, sie sei lieber eine Gefangene in einer Türkei auf dem Weg nach Europa als frei in einer Türkei, von der Europa sich abwendet. Also, ernsthafte Beitrittsverhandlungen, und ein möglicher Beitritt in vielen Jahren, ist ja kein Beitritt, der morgen wäre! Ich sage auch, für mich ist dieser Prozess, wenn es denn zu ernsthaften Beitrittsverhandlungen kommt, zu denen es nur kommen darf, wenn die Konditionen erfüllt werden, ein ergebnisoffener und langer Prozess über etliche Jahre. Ich glaube aber, es wäre sowohl für Europa wie auch für die Türkei wie auch für den Nahen Osten ein historischer Fortschritt, wenn dieser Prozess gelingen sollte, auch aus geostrategischen Gründen für die ganze Region im Nahen Osten. Eine demokratische Türkei hätte Auswirkungen auf alle Diktaturen und die Minderheiten im vorderen Orient, und daran müssen wir als Europäer ein demokratisches und historisches Interesse haben.
Ich komme zum Schluss und fasse zusammen. Es gibt bei allen Problemen, und dass es nicht von heute auf morgen geht, ist klar, ein großes Interesse daran, diesen Prozess zu beschleunigen, politisch zu unterstützen, dass die Türkei sich zu einem islamisch geprägten, aber demokratischen Staat entwickelt. Wie gesagt, keinen falschen Bonus, kein falsches Hurra, aber auch kein prinzipielles Nein in dieser Frage! – Danke schön!
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Es wird Sie nicht besonders überraschen, dass ich für die grundsätzlichen Linien des vorliegenden Antrags der Grünen durchaus Sympathie hege. Selbstverständlich unterstützt die SPDFraktion die Haltung, dass die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien entscheidend für den Umgang der EU mit der Türkei sein muss. Wir unterstützen auch die Haltung, der Türkei eine redliche Chance und Beitrittsperspektive zu geben. Der Weg der Türkei in konsequenter Annäherung an die EU ist uns politisch seit langem vorgezeichnet.
im weiteren Sinn. In jüngerer Zeit wurde mit den Beschlüssen des Europäischen Rates vom Dezember 2002 in Kopenhagen und dann erneut durch den Europäischen Rat in Brüssel im Dezember 2003 die Beitrittsperspektive bestätigt und damit die Anerkennung als Beitrittsaspirant ausdrücklich unterstrichen. Für den Prozess der nächsten Jahre gibt es einen klaren Fahrplan, der, wie soeben gesagt, von den Staats- und Regierungschefs getragen und mehrfach bestätigt wurde.
Meine Damen und Herren, die Europäische Union prüft und bewertet wie bei allen anderen Kandidatenländern in jährlichen Berichten die Fortschritte der Türkei auf dem Weg zum Beitritt. Auf der Grundlage der Kommissionsempfehlung entscheiden die europäischen Staats- und Regierungschefs und der Europäische Rat, seit dem 1. Mai 2004 sind es 25 Staaten, über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Der Bericht der Kommission erscheint im Herbst dieses Jahres, der auf der Basis der Fortschritte, die die Türkei in ihren Reformanstrengungen unternommen hat, eine Empfehlung abgibt.
Ende dieses Jahres werden die Staats- und Regierungschefs – nicht eine Regierungskonferenz, wie Frau Dr. Trüpel meint – entscheiden, ob, wenn ja, wann Verhandlungen mit Ankara aufgenommen werden könnten. Diese möglicherweise zu beginnenden Beitrittsverhandlungen bezeichnen einen auf jeden Fall zeitintensiven und zudem ergebnisoffenen Prozess. Als frühestmöglichen Termin für einen Beitritt gilt allgemein die Mitte des nächsten Jahrzehnts. Wir reden nicht von 2005 oder 2006, sondern wir reden über einen Zeitraum von annähernd 15 Jahren.
Ein EU-Beitritt der Türkei steht in der kommenden und übernächsten Legislaturperiode des Europaparlaments gar nicht auf dem Erweiterungsfahrplan. Die Debatte zum Türkeibeitritt zur EU erweckt oft den Eindruck, als stünde der Beitritt unmittelbar bevor. Mitnichten, wir reden von einem Prozess, der vermutlich deutlich in das nächste Jahrzehnt hineinragen wird. Als tolerante und gesprächsoffene Partei billigen wir jeder Partei zu, in der politischen Öffentlichkeit die Frage des Türkeibeitritts zur Europäischen Union zu thematisieren. Heute, neun Tage vor der Europawahl, kann uns dies jedoch nicht veranlassen, diesem allein durch Wahlkampfinteressen bestimmten Antrag zuzustimmen,
letztlich inhaltlich die bestehende und mehrfach ausdrücklich unterstrichene Beschlusslage des Europäischen Rates als Bremische Bürgerschaft zu bestätigen.
Der Prozess, wie er vereinbart und von den europäischen Staaten getragen wird, ist überaus sinnvoll. Es gibt noch viele offene Fragen und Felder, in
denen sich die Türkei konsequent um Reformen bemühen muss. Es geht einerseits um ökonomische Voraussetzungen. Bemängelt hatte der Fortschrittsbericht der Kommission vom Jahr 2003 jedoch vorrangig das Erfüllen der politischen Anforderungen an die Türkei, die auch Teil der Kopenhagener Kriterien sind. Hierbei geht es um die Gewährleistung der institutionellen Festigkeit der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung, der Wahrung der Menschenrechte und des Schutzes von Minderheiten. Gerade für uns Sozialdemokraten sind diese Werte von besonderer Bedeutung. Dafür steht seit Jahrzehnten unsere Politik. Wir haben stets der Achtung und Wahrung von Minderheitsrechten große politische Priorität gegeben.
Meine Damen und Herren, es genügt nicht, dass das Parlament in Ankara Gesetze zum Schutz der Menschenrechte beschließt. Es genügt nicht, Religions- und Pressefreiheit oder die Ächtung der Folter nur durch Parlamentsbeschlüsse zu garantieren, sondern sie müssen auch im praktischen Leben umgesetzt werden.
Vor sechs Wochen haben wir mit Sorge zur Kenntnis nehmen müssen, dass das Staatssicherheitsgericht in Ankara das Urteil gegen Leyla Zana und drei andere ehemalige türkische Abgeordnete kurdischer Herkunft nicht annulliert hat. Dieses neue Urteil vom 22. April 2004 widerspricht den Feststellungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg. Das Verfahren Zana ist beispielhaft dafür, welch große Unterschiede noch zwischen dem Justizsystem der Türkei und jenem der Europäischen Union bestehen. Auch die Sprache der türkischen Minderheit in Unterricht und Fernsehen ist praktisch noch nicht durchgesetzt.
Vor allem mit Bezug auf den soeben zitierten Fall des Staatssicherheitsgerichtes muss Europa feststellen, dass bei allen Reformbemühungen doch recht widersprüchliche Signale aus der Türkei kommen. Dennoch befürworten wir auch die Vorbeitrittshilfen der Europäischen Union an die Türkei zur Vertiefung der Heranführungsstrategie und halten sie für ein wichtiges Instrument zur Unterstützung der Reformkräfte in der Türkei.
Zur Unterstützung des Heranführungsprozesses und weiterer notwendiger Reformmaßnahmen erhält die Türkei bereits seit dem Jahr 2000 Finanzhilfen unter anderem zur Vertiefung der Zollunion mit der EU sowie zur Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Bis 2006 ist ein Gesamtbetrag
von 1,05 Milliarden Euro vorgesehen. Ferner kann die Türkei auf Mittel der Europäischen Investitionsbank zurückgreifen, europäische Finanzspritzen, die für die Beitrittsperspektive und der Fortsetzung des Reformprozesses der Türkei förderlich sind.
Allemal, meine Damen und Herren, haben wir bei uns in Deutschland innenpolitisch immer vor Augen, dass zweieinhalb Millionen Türken in Deutschland leben. Davon sind mehr als 600 000 Türken eingebürgert. Wir anerkennen auch, dass 300 000 Arbeitsplätze in Deutschland durch türkische Unternehmen angeboten werden und welche Rolle die Integration dieser türkischen Bevölkerung in Deutschland hat.
Die schauen natürlich auch auf das, was die Politik macht. Darum stimme ich auch dem SPD-Erweiterungskommissar Günther Verheugen zu. Er hat keine grundsätzlichen Einwände gegen die Türkei in die Europäische Union. Dass die Türkei an den Irak grenzt und ein vorwiegend moslemisches Land ist, spielt keine Rolle mehr. Ich füge hinzu, es kann aus geostrategischen Gründen durchaus ein Vorteil sein, an der Grenze zu einer Hauptkrisenregion und im belasteten Verhältnis zum moslemischen Teil der Welt, einen stabilen Partner Türkei noch stärker in unser Werte- und Wirtschaftssystem einzubinden. Er glaubt aber, so im Interview im „Morgenmagazin“ der ARD am 27. April 2004, dass wir jetzt allmählich an unsere Grenzen stoßen. In den kommenden Jahren sei das Wichtigste, das wirtschaftliche Fundament dieses Europas der 25 so zu stärken, dass es das große politische Gebäude, das wir errichtet haben, auch wirklich tragen kann.
Meine Damen und Herren, ich finde es richtig, der Türkei verlässliche Perspektiven zu geben. Darüber, Frau Dr. Trüpel, gibt es zwischen uns beiden und unseren jeweiligen Parteien keinen Dissens, ganz im Gegensatz zu unserem Koalitionspartner, wenn ich das anfügen darf. Ich wiederhole mich möglicherweise, wenn ich sage, dass wir Sozialdemokraten es trotz aller Sympathie für die Grundlinien Ihres Antrages vorziehen, dieses Thema unaufgeregt zu betrachten. Mit einer auf den Europawahlkampf ausgerichteten Debatte zur Frage Türkeibeitritt werden wir der Türkei und ihren Bürgerinnen und Bürgern ebenso wenig gerecht wie den türkischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die hier bei uns in Deutschland und in anderen EU-Mitgliedstaaten leben. – Herzlichen Dank!
Herr Präsident, meine Damen und Herren! So ist das mit der Glaubwürdigkeit der Grünen! Erst hört man Wochen vor der Wahl, ––––––– *) Vom Redner nicht überprüft.
insbesondere an die Adresse der CDU und auch an andere gerichtet, macht das Thema Türkei nicht zum zentralen Thema im Europawahlkampf. Und was ist nun? Ausgerechnet die Grünen stellen genau zu diesem Thema einen Antrag in der kleinen Bremischen Bürgerschaft. Herzlichen Glückwunsch, liebe grüne Fraktion! Wir als Bremer CDU hätten hier im Landtag gar nicht darüber debattiert, nun aber, da Sie dieses Thema hier auf die Tagesordnung setzen, werden wir hier Position beziehen. Herzlichen Glückwunsch, dass wir die Chance dazu haben! Herzlichen Glückwunsch aber auch dazu, dass Sie gleich solchen Menschen wie dem dort hinten hier ein Forum geben, von dem ich meine, das hat weder die Türkei noch haben es die Türken, die hier bei uns leben, verdient. Ich ahne, welche Debatte wir gleich bekommen.
Meine Damen und Herren, ist die Türkei reif für Europa, und ist Europa reif für die Türkei? Das sind zwei Seiten derselben Medaille, zwei Fragen, die uns in den nächsten Monaten noch sehr beschäftigen werden. Grundsätzlich, und das ist hier deutlich geworden, kann jeder europäische Staat, auch die Türkei, die EU-Mitgliedschaft beantragen, jeder Staat, der den Werten der Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten und den Grundfreiheiten verpflichtet ist. Die Kopenhagener Kriterien sprechen in diesem Zusammenhang eine deutliche Sprache.