Protocol of the Session on June 22, 2017

Er respektierte eben auch die kleineren europäischen Länder. Er bezog sie ein, weil er wusste, dass Europa nicht nach Flä chen und Einwohnern, sondern nach Überzeugung und Hal tung funktioniert.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Kohl schätzte das Regionale, wählte öfter seine politischen Szenarien danach aus: das Elsass, die Pfalz, auch Verdun. Ich finde, das ist besser als die säbelrasselnden Szenerien der Pa radeplätze der Hauptstädte Europas.

Natürlich hat uns das immer mitschwingende Biedermeier oft geärgert,

(Abg. Winfried Mack CDU: Kohl war nicht Bieder meier!)

hat uns provoziert. Aber es gab bei Kohl eben eine europäi sche Stimmigkeit und keine nationale Leistungsschau.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Deshalb, meine Damen und Herren von der CDU, haben Sie heute eine honorige Geste für einen der bedeutendsten deut schen Nachkriegspolitiker aus Ihren Reihen vollzogen, aber – ich habe es erwähnt – Sie haben natürlich auch einen Blick auf das freigegeben, was die von vielen als die mächtigste Frau der Welt titulierte Frau – in den letzten Jahren war sie vielleicht doch auch die ohnmächtige Europäerin – heute po litisch verantworten muss.

Sie können mich aber zu Recht fragen – das will ich in den kommenden Minuten erläutern –: Was setzt eigentlich die Par teienfamilie, der ich angehöre, die Parteienfamilie von Willy

Brandt, Helmut Schmidt, aber auch von Bruno Kreisky, Gro Harlem Brundtland, François Mitterrand, Olof Palme, Felipe González oder Mario Soares, dem entgegen? Wir wissen ja, dass unsere Partei in Europa nicht in ihrer glänzendsten Pha se ist und wir alle zu kämpfen haben.

(Abg. Winfried Mack CDU: Siehe Schulz!)

Was ist also die proeuropäische Überzeugung? Ich gebe Ih nen gleich eine Antwort.

Was ist eigentlich die proeuropäische Überzeugung, die wir konzeptionell heute und in Zukunft vertreten wollen, damit das Fahrt-Aufnehmen tatsächlich besser geschieht? Ich nen ne drei Felder, auf denen politischer Klärungsbedarf besteht, und ich versuche, dies jetzt nicht mit der Tagespolitik zu ver binden.

Das erste Feld ist: Staat und Gesellschaft sind in nicht allen europäischen Verfassungstraditionen eins, und man kann sich die Frage stellen: Gibt es eine europäische Gesellschaft? Wir haben gerade gehört, dass einige das vehement nicht wollen. Ich meine: Ja, es gibt sie. Freiheit und Gleichheit, Aufklärung und Emanzipation, Menschenrechte und Demokratie sind ihr Kitt. Wie weit sie reicht, meine Damen und Herren Kollegin nen und Kollegen, ist geografisch gar nicht mehr so leicht zu beantworten. Die Moskowiter Bloggerin oder auch Rapperin fühlt sich zu Recht als Europäerin. Manche schweizerischen SVP- oder französischen FN-Parteigänger sehen sich leider nicht als Europäer. Das ist nicht mehr so einfach zu fassen. Wichtig und richtig ist aber: Wir müssen in Europa mehr vom Miteinander und weniger vom Nebeneinander reden. Wir müssen vom Nebeneinander zum Miteinander kommen, mei ne Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU)

Deswegen ist, wie etwa auch Jürgen Habermas postulierte, die Debatte über die europäische Gesellschaft überfällig. Wir füh ren sie. Ich weiß nicht, ob Frau Merkel sie führt, meine Da men und Herren.

(Beifall bei der SPD)

Zweite Frage: Wie kann sich Europa von der Koexistenz der Nationen nach und nach zur Kooperation der Regionen trans formieren – das ist ein baden-württembergisches Interesse –, wenn man so will, vom Supranationalen zum Interregionalen? Einheit in Vielfalt gelingt eben nicht in den nationalen Kor setten des 19. und 20. Jahrhunderts. Kritisch uns selbst gegen über müssen wir feststellen: Europa braucht Außengrenzen,

(Beifall des Abg. Daniel Rottmann AfD)

und wir waren in einer bestimmten Phase nicht in der Lage, sie zu sichern.

Bei allen Unterschieden gilt aber innerhalb Europas, dass wir mehr über die Ähnlichkeiten sprechen müssen und weniger über die Unterschiede sprechen sollten – Badener und Elsäs ser können das –, was nicht heißt, dass wir nicht unsere Ei genheiten, unsere Identitäten haben, dass wir unterscheidbar sind. Aber die Debatte darüber, dass wir ein stärker föderales Europa brauchen, ist überfällig, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU)

Wir führen diese Debatte. Ich weiß nicht, ob Berlin sie führt.

Drittens: Europa soll gegenseitig verantwortlich sein. Das ist es heute vielfach nicht. Die City of London schaut zu, wenn sich die Midlands deindustrialisieren. Polen, Tschechien und Ungarn schauen zu, wenn auf Sizilien und den griechischen Inseln das blanke Elend angeschwemmt wird. Wir in BadenWürttemberg schauen ratlos auf das Elsass, wenn dort der Front National stärkste politische Kraft wird. Sich gegensei tig verantwortlich zu zeigen heißt nicht, dauernd zu interve nieren, heißt nicht, jedes Problem mit einem Programm zuzu schütten oder zu verkleistern. Es heißt zunächst, zugewandt zu sein und einen offenen und transparenten politischen Dis kurs zu führen und daraus lokale oder aber auch gemeinschaft liche Politik abzuleiten.

Wir führen diese Debatte, damit sich Europa sich selbst zu wendet und die Gesellschaften miteinander im Dialog sind, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU)

Wenn die von mir angesprochenen und weiter drängenden Fragen eines europäischen Selbstverständnisses endlich stär ker angegangen werden, können wir vielleicht auch leichter über das sprechen, was wir jetzt vor uns haben. Wolfgang Reinhart hat es genannt: Europa sammelt sich wieder.

Ich will einige Markierungen machen. Natürlich brauchen wir – so ist es ja im Lissabon-Vertrag auch schon angelegt – eine gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, eine Vertiefung derselben. Das steht auch in diesen Tagen an. Das wird auch heißen, dass Deutschland nicht immer nur die Sanitätsbataillone und die Logistikseite stellt; das darf man nicht vergessen. Aber richtig ist, dass wir diese gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik brauchen, wenn Europa in der Welt handlungsfähig sein will, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD, Abgeordneten der Grünen und der CDU sowie der Abg. Gabriele Reich-Gutjahr FDP/DVP)

Wir brauchen in der Währungsunion eine gemeinsame Finanz politik dort, wo es europäische Projekte gibt. Wir sind dafür, dass dafür ein Budget vorhanden ist, das der ESM bilden könnte – darüber wird diskutiert –, und es dafür eine perso nelle Verantwortung innerhalb der Kommission geben kann. Es kommt Bewegung hinein. Ich finde es richtig, dass auch die Finanzpolitik ein Teil europäischer Politik sein soll, mei ne Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Wir brauchen eine steuernde und harmonisierte Asyl- und Mi grationspolitik. Wir haben durch das Schließen der Balkan route nur einen Aufschub. Deswegen ist es notwendig, dass sich Europa hier auf eine gemeinsame Grundlage besinnt. Da bin ich ganz sicher.

Wir brauchen auch eine gezielte Industriepolitik und eine mo bilisierende Sozialpolitik in Europa. Abgehängte Regionen sind Gift für Europa. Das kann man doch ganz klar so sagen.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU)

Eine engagierte und verantwortungsvolle Afrikapolitik steht für uns auf der Tagesordnung, weil Afrika ein Nachbarkonti nent von Europa ist – und auch aus vielen anderen Gründen.

(Zuruf des Abg. Anton Baron AfD)

Eine nachhaltige Klimapolitik wird die Antwort Europas auf Trump sein, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Das ist das, was vor uns liegt. Die Bundeskanzlerin und wir, der Koalitionspartner der CDU im Bund, stehen dafür in der Verantwortung. Wir in Baden-Württemberg stehen aber nicht abseits. Wir sind dafür, dass Europa nicht nur von unten nach oben kommt, sondern dass Europa vor allem nach vorn kommt.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD sowie Abgeordneten der Grünen und der CDU)

Für die FDP/DVP-Frakti on erteile ich dem Kollegen Dr. Schweickert das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin Jahrgang 1972,

(Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP: Guter Jahrgang!)

und in meiner Jugend gab es einen Kanzler: Helmut Kohl. Helmut Kohl und Schwarz-Gelb, das war gesetzt.

(Abg. Nicole Razavi CDU: Gute Zeit!)

Ich kann mich daran erinnern, dass unser Gemeinschaftskun delehrer mich mit den anderen in meiner Schule, dem HildaGymnasium, irgendwann einmal – da war ich, glaube ich, 16 oder 17 – hat nachschauen lassen, ob im Grundgesetz steht, dass Kanzler Helmut Kohl sein müsse.

(Heiterkeit des Abg. Dr. Wolfgang Reinhart CDU)

Ich glaube, ein paar haben zumindest einmal interessiert nach gesehen, ob es vielleicht doch so im Grundgesetz steht.

(Abg. Winfried Mack CDU: Ein vorwitziger Mann, dieser Lehrer!)