Protocol of the Session on June 22, 2017

Ich will damit zum Ausdruck bringen, meine Damen und Her ren, dass für eine ganze Generation Helmut Kohl, der nun von uns gegangen ist, die prägende Gestalt Deutschlands war. Für den, der ihn erlebt hat – ich habe ihn mit seinem Auftreten, seiner Aura, seiner Statur und seiner Struktur, die er hatte, in meiner Jugend in Pforzheim erlebt –, war das sicherlich eine Erinnerung, die einem lange im Gedächtnis blieb.

Er war immer hart in der Sache, aber fair im Umgang. Ich ge be den Kollegen Reinhart, Hofelich und Schwarz recht: Als Kanzler der Einheit war er einer unserer wichtigsten Moto ren, der den Mantel der Geschichte zum richtigen Zeitpunkt ergriffen und für Deutschland das Beste herausgeholt hat.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU sowie Abge ordneten der Grünen)

Deshalb ist es völlig in Ordnung, dass auch Nicht-CDUler ihm für diese großartigen Verdienste danken. Ich sage auch: Ich finde es umso schäbiger, wenn dann nach seinem Tod manche Beißreflexe nicht nachlassen. Ich erinnere an das Titelbild der „taz“ oder anderes. Er war sicherlich eine Person, die polari siert hat. Aber seine Verdienste überragen all das, was viel leicht auch an Kritik da sein mag.

Der Titel dieser Aktuellen Debatte, Herr Kollege Reinhart, lautet ja: „Das Erbe Helmut Kohls als Auftrag“. Ich habe mich gefragt: Beginnt das Erbe heute? Ich bin der Meinung: Nein. Das Erbe begann 1998 mit seinem Ausscheiden als Bundes kanzler bzw. 2002 mit seinem Ausscheiden aus dem Deut schen Bundestag.

Wir müssen uns schon überlegen: Was waren da die Themen? Da bleiben für mich das Thema „Schengener Abkommen“, das Thema Euro und das Thema Verträge, die geschlossen worden sind, z. B. der Amsterdamer Vertrag.

(Abg. Anton Baron AfD: Maastricht!)

Auch der, auch andere. – Die sollten wir uns einmal darauf hin anschauen, wie es um dieses Erbe bestellt ist. Denn da mals war dank Kohl, aber auch dank Hans-Dietrich Genscher Europa frisch aufgestellt. Europa war nach vorn gebracht. Schengen und der Euro haben den Menschen die EU viel nä her gebracht, als es Montanunion oder eine gemeinsame Land wirtschaftspolitik jemals tun konnten.

Wenn man sich fragt, wie seitdem mit diesem Erbe umgegan gen wird, muss man sagen: Ja, Kohl hat als ein Kind der Nach kriegsgeneration mit Mitterrand dieses Europa geformt, ge staltet. Aber mittlerweile haben wir mit Angela Merkel und Jean-Claude Juncker in diesem Bereich Führungspersönlich keiten, die der europäische Mut leider verlassen hat und die – so schreibt es aktuell auch der „Cicero“ – hier mehr in einer Verwaltung des Status quo angekommen sind. Das ist sehr schade.

(Beifall bei der FDP/DVP und des Abg. Reinhold Gall SPD)

Wir sehen diesen Verwaltungsstau, diese verkrusteten Struk turen schon lange. Ich glaube, Helmut Kohl hat dies auch ge sehen; denn er hat ja als Erblasser seine Erben in diesem Be reich auch ziemlich kritisiert und die fehlenden Visionen sei ner Nachfolger angeprangert.

Deshalb ist schon sehr deutlich, dass es um dieses Erbe nicht ganz so gut bestellt ist, wie es der eine oder andere vielleicht gern hätte. Denn wir haben teilweise einen Rückfall in altes, nationalstaatliches Denken, das unseren Frieden und unsere Freiheit gefährdet. Helmut Kohl selbst hat noch 2016 darauf hingewiesen, dass dies ein Problem darstellt.

Wie ist es mit Schengen? 1995 ist das Abkommen in Vollzug gekommen; heute ist die Situation geprägt durch extreme Auf weichungen, durch partielle Außerkraftsetzungen. Gründe wie Terror und Flüchtlingskrise sprechen natürlich für sich. Aber wir müssen feststellen, dass Länder wie Slowenien und Ser bien ihre Grenzen faktisch geschlossen haben. Griechenland ist isoliert, und wir haben mit Ungarn, Polen und Tschechien ebenfalls Länder, die in diesem Bereich sicherlich nicht nach vorn schauen.

Was das Dublin-Abkommen betrifft, so hat sich meines Er achtens insbesondere die deutsche Regierung hierbei versün digt; denn es hätte sehr wohl die Möglichkeit gegeben, nach dem – richtigen – humanitären Akt zu Zeiten des Budapester Bahnhofs zu geordneten Verhältnissen zurückzukehren. Der G-8-Gipfel in Garmisch, auf Schloss Elmau, hat ja die Basis dafür gelegt, hier wieder zurückzukommen. Diese Chance hat man nicht genutzt. Ich glaube daher schon, dass ein Helmut Kohl hier anders vorgegangen wäre.

Meine Damen und Herren, beim Euro müssen wir feststellen, dass wir in einer Situation sind, in der sich viele Länder ohne eine EZB oder einen Rettungsschirm nicht über Wasser hal ten könnten.

(Abg. Anton Baron AfD: So ist es!)

Da ist schon die Frage: Was hätte Helmut Kohl vielleicht in diesem Bereich gemacht? Ich glaube, er war sich nie zu scha de, einmal getroffene Entscheidungen auch zu revidieren,

(Abg. Anton Baron AfD: So ist es!)

sich diese anzuschauen und zu korrigieren. Da muss ich schon sagen: Wenn wir heute diese Situation mit dem IWF haben – Herr Hofelich, Sie haben es angesprochen –, dann ist dies sehr viel weiße Salbe. Denn natürlich ist der IWF noch dabei. Er muss auch dabei sein, sonst müsste Herr Schäuble ja vor den Bundestag treten und sich ein neues Mandat für diese etwas über 8 Milliarden € holen, die jetzt kommen.

Ich habe dabei immer ein bisschen das Bild von einem Unfall vor Augen, bei dem das Rote Kreuz hinzukommt und eigent lich helfen soll, dann aber sagt: „Wir sind zwar jetzt dabei, aber wir können nicht helfen; wir leisten moralische Unter stützung.“ Diese moralische Unterstützung des IWF, meine Damen und Herren, reicht nicht aus. Wir müssen vertraglich die Regelungen dafür schaffen, dass der IWF helfen kann. Da wissen wir alle, wie die Voraussetzungen sind: ein Schulden schnitt. Da sagen wir als FDP ganz im Sinne von Hans-Diet rich Genscher: Wenn es zu so etwas kommt, dann kann dies nur außerhalb der Eurozone stattfinden, und dann muss man den Vertrag so ändern, dass Griechenland in der EU bleiben kann, aber temporär aus der Eurozone austritt, sodass dieser Schuldenschnitt ehrlich durchgeführt wird statt mit Krediten, bei denen man nicht weiß, ob sie überhaupt zurückgezahlt werden, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der AfD)

Ich sage das auch deshalb, weil wir ohne ein solches zeitwei ses Ausscheiden eine Situation eines Moral Hazard produzie ren würden. Auch Kollege Reinhart und Kollege Hofelich ha ben ja gesagt, dass man mit den Kleinen reden muss. Wir wür den die Portugiesen vor den Kopf stoßen, wenn wir so etwas innerhalb der Eurozone darstellen würden.

(Abg. Anton Baron AfD: Genau!)

Die Brexit-Verhandlungen haben ja am Dienstag dieser Wo che begonnen. Ich bin mir sicher – das muss man auch sa gen –: Hier hätten wir mit Helmut Kohl einen überzeugteren Kämpfer gehabt, der den Engländern auch zu Hilfe gekom men wäre. Denn die inzwischen 21 000 bilateralen Regelun

gen, die der Brexit mit sich bringt, innerhalb so kurzer Zeit zu realisieren wird – das wissen wir alle – nicht möglich sein. Die Schweizer – sie sind zwar sicherlich nicht die Schnells ten – haben seit 1972 ja gerade einmal 120 dieser Regelungen umgesetzt.

Daher müssen wir schon sagen, dass sich die Europäische Union in einer Krise befindet. Es wird jetzt bei den Verhand lungsführern liegen, im Rahmen der Brexit-Verhandlungen nicht nur für die Europäische Union, sondern auch für den Zu sammenhalt der europäischen Staaten innerhalb der EU gute Verhandlungsergebnisse zu erzielen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Wenn ich mir anschaue, wie die CDU, wie Merkel und Schäub le in dieser Situation agieren, dann kommt es mir manchmal so vor, als wollte man das politische Erbe von Kohl ausschla gen – natürlich nicht offen, aber doch klammheimlich. Denn die Staatslenker nach Kohl haben versäumt, den Menschen in Europa klarzumachen, was der Wert dieser Europäischen Uni on, dieses gemeinsamen Europas ist. Ich bin mir sicher, das wäre Helmut Kohl gemeinsam mit Hans-Dietrich Genscher nicht passiert.

Wir haben heute Kräfte in Europa, die sich um Emmanuel Ma cron formieren – aber in Zukunft vielleicht auch um Herrn Kurz –, die sich als junge Generation vielleicht anschicken, ein anderes Europa proeuropäisch zu gestalten. Ich weiß nicht, ob diese Gestaltung aus den anderen Ländern in seinem Sinn gewesen wäre. Aber wir werden sehen, wie das Ganze aus geht.

Meine Damen und Herren, mit Helmut Kohl und – vor Jah resfrist – Hans-Dietrich Genscher sind zwei leidenschaftliche Europäer von uns gegangen, die Deutschland geprägt haben und uns, insbesondere der jüngeren Generation, den Auftrag geben, dieses politische Erbe eines geeinten Europas anzu nehmen. Europa ist nicht eine Selbstverständlichkeit, sondern ein Auftrag für uns alle. Europa ist unsere Zukunft, sonst ha ben wir keine. Ich glaube, das ist der Punkt, der uns alle eint, dass wir für ein gemeinsames Europa kämpfen, damit auch unsere Kinder in Zukunft in Frieden und Freiheit aufwachsen können.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP/DVP sowie Abgeordneten der Grünen, der CDU, der AfD und der SPD)

Für die Landesregierung erteile ich das Wort Herrn Innenminister Strobl.

Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete! Ich bin der CDU-Landtagsfraktion für diese heutige Debatte sehr dankbar, vor allem deswegen, weil sie uns die Gelegenheit gibt, etwas über den Tellerrand des poli tischen Alltagsgeschäfts hinauszublicken und auch einen Mo ment innezuhalten. Ich finde, gerade wir Baden-Württember ger haben allen Grund, dies zu tun.

Wir nehmen Abschied von einem Menschen, der Großartiges für unser Land und für Europa geleistet hat. Helmut Kohl er kannte den historischen Moment für die deutsche Wiederver

einigung. Er erkannte den historischen Moment zur Wegbe reitung der Europäischen Union und der gemeinsamen Wäh rung. Wenn er eine Idee hatte, hat er diese auch konsequent bis zur Umsetzung verfolgt, auch gegen alle Widerstände. Hel mut Kohl hatte sich in seinem politischen Leben mit Leib und Seele der europäischen Idee verschrieben.

Die deutsch-französische Freundschaft war für ihn dabei der Schlüssel zum Erfolg auf diesem Weg. Mit dem französischen Staatspräsidenten François Mitterrand hat ihn eine tiefe und lange Freundschaft verbunden, die Helmut Kohl in der ihm eigenen Art einmal so umschrieben hat: „Ich weiß zwar nicht, was er denkt, aber ich denke ähnlich wie er.“

(Vereinzelt Heiterkeit)

Unvergessen ist die zu Recht erwähnte historische Geste der Aussöhnung an den Gräbern von Verdun im Jahr 1984. Der französische Staatspräsident Mitterrand und der deutsche Bun deskanzler Helmut Kohl reichten sich die Hand in stillem Ge denken, im Gedenken an Franzosen und Deutsche, die sich an diesem Ort noch wenige Jahrzehnte zuvor in Schützengräben bekriegten, verfeindet bis aufs Blut. Da standen nun diese zwei Staatsmänner aus diesen beiden einstmals verfeindeten Nationen schweigend. Sie standen einfach nur da, vereint mit einer Geste. Diese eine Geste war getragen von einer solchen Stärke, von einer solchen Kraft, dass sie den Schmerz vieler Generationen linderte und gleichzeitig Frieden und Freund schaft für kommende Generationen bedeutete. Dieses Bild hat sich in unseren Köpfen und in unseren Herzen eingebrannt und gehört zu den eindrücklichsten Momenten in der Ge schichte der europäischen Einigung.

Unzählige Menschenleben wurden vor und auch noch nach der Schlacht von Verdun in deutsch-französischen Kriegen ausgelöscht, sinnlos und grausam. Es ist das Verdienst von großen Politikern wie Helmut Kohl, dass aus dieser jahrhun dertelangen Feindschaft unter Nachbarn eine echte Freund schaft werden konnte. Wir alle profitieren heute von diesem unbändigen Einsatz für die Völkerverständigung – Europa, Deutschland.

(Beifall bei den Grünen, der CDU und der FDP/DVP)

Niemand profitiert im Übrigen mehr davon als unser Land Ba den-Württemberg. Das möchte ich für die gesamte Landesre gierung und insbesondere namentlich auch für Ministerpräsi dent Kretschmann sagen.

Baden-Württemberg liegt mitten im Herzen Europas. BadenWürttemberg hat eine 179 km lange Grenze zu Frankreich. Stuttgart liegt näher an der französischen Hauptstadt Paris als an der deutschen Hauptstadt Berlin. Es ist für uns BadenWürttemberger deshalb geradezu eine Pflicht und Schuldig keit, das Vermächtnis Helmut Kohls mit unseren Nachbarn weiterzuleben. Das ist uns ein Auftrag, und den Südbadenern, denen das Elsass sowieso näher ist als Stuttgart, ist es eine Freude.

Ein Teil des Vermächtnisses ist im Übrigen die Deutsch-Fran zösische Brigade mit Sitz in Müllheim. Die Deutsch-Franzö sische Brigade wurde auf Bestreben von Helmut Kohl und François Mitterrand 1987 beschlossen. Bewusst habe ich gleich zu Beginn meiner Amtszeit als Innenminister für die Landes

regierung von Baden-Württemberg die Deutsch-Französische Brigade in Müllheim besucht.

(Vereinzelt Beifall)

Das ist der Nukleus für eine gemeinsame Außen- und Sicher heitspolitik in Europa. Das ist die große historische Linie Hel mut Kohls: Europa braucht keine 25 Armeen mehr; Europa braucht eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und e i n e militärische Operative, die diesen Kontinent schützt. Das ist die Vision Helmut Kohls, und man kann sie bei der Deutsch-Französischen Brigade in Müllheim besichtigen.

Treffenderweise lautet das Motto der Brigade: „Dem Besten verpflichtet.“ Das Beste ist in diesem Fall die deutsch-franzö sische Freundschaft. In Baden-Württemberg leben wir diese Freundschaft mit unseren Nachbarn in besonderer Weise, zu dem mit dem Deutsch-Französischen Institut in Ludwigsburg.

Seit 2005 ist unser ehemaliger Ministerpräsident Erwin Teu fel der amtierende Präsident des dfi. Als Ministerpräsident war Erwin Teufel auch bereits der Kulturbeauftragte der Bundes republik Deutschland für die deutsch-französischen Beziehun gen. Im letzten Jahr fand am dfi ein Vortrag von Philippe Gus tin zum Thema „Frankreich – Deutschland: Der Neustart des europäischen Motors“ statt.

Wir erinnern uns: Vor einem Jahr waren die deutsch-franzö sischen Beziehungen auf einem Tiefpunkt angelangt. Heute, im Juni 2017, können wir sagen: Ja, dieser Neustart ist mög lich, mehr denn je. Mit Emmanuel Macron ist ein bekennen der Europäer an die Spitze des französischen Staates gewählt worden – ein Präsident, der Europa im Wahlkampf nicht ver unglimpft oder totgeschwiegen hat. Lernen wir von Macron: Europa nicht schlechtreden.