Protocol of the Session on May 6, 2015

Solche Konflikte sind für das Nachkriegsdeutschland symp tomatisch und zeigen, wozu die Verdrängung der Vergangen heit führt. Was verdrängt wird, führt zu neuen Konflikten im Hier und Jetzt. Um es mit Richard von Weizsäcker auszudrü cken:

Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der Unmensch lichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahren.

Diese Ansteckungsgefahren sind gegenwärtig überall in Eu ropa zu beobachten und können tatsächlich zu einer Bedro hung für das geeinte Europa werden. Darauf komme ich im zweiten Teil zu sprechen.

Jetzt nur so viel: Der 8. Mai wird heute als Europatag gefei ert, auch hier im Landtag. Am Freitag werden hier viele Schul klassen anwesend sein. Der 8. Mai war die Geburtsstunde für ein neues Europa, nicht aber die Stunde null. Ein Neuanfang wurde möglich, weil die Friedenssehnsucht der Menschen da mals unendlich groß war und gerade deshalb der in Europa vorherrschende Nationalismus überwunden werden konnte.

Der Neuanfang war aber vor allem deshalb möglich, weil die Sieger bereit waren zur Aussöhnung mit dem besiegten Deutschland. Das hat unseren Nachbarn Polen und Frankreich besonders viel abverlangt – auch daran sei erinnert –, genau so wie vielen anderen Ländern, in die Deutschland einmar schiert ist.

Auch daran sei erinnert: Die Amerikaner haben uns damals mit Carepaketen, vor allem aber mit einem Marshallplan zum Wiederaufbau der kaputten Infrastruktur unter die Arme ge griffen. Für diese Bereitschaft zur Versöhnung müssen wir

dankbar sein. Ich denke, es kann nicht schaden, wenn wir uns bei der aktuellen Europapolitik auch einmal daran erinnern. Darauf möchte ich im zweiten Teil zurückkommen.

Vielen Dank.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Für die CDU-Fraktion erteile ich das Wort dem Kollegen Wolf.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wenn man einen Blick auf den Debattentitel wirft, mag man kurz stutzen, ob dies wirklich Thema einer Aktuel len Debatte sein kann, und kommt dann sofort zu dem Ergeb nis: Dies ist eine Thematik, die aktueller ist denn je.

Deshalb will ich mich bei der SPD-Fraktion ausdrücklich für die Benennung des Themas dieser Aktuellen Debatte bedan ken. Es gibt Momente einer gemeinsamen Verantwortung jen seits tagespolitischer Auseinandersetzungen. Dies ist ein sol cher Moment. Es ist deshalb ein wichtiges und gutes Signal dieses Hauses, dass wir heute über alle Fraktionsgrenzen hin weg über dieses Thema diskutieren.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Richard von Weizsäcker wurde heute von der Kollegin schon mehrfach erwähnt. Auch ich will ihn erwähnen und zitieren:

Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle be freit von dem menschenverachtenden System der natio nalsozialistischen Gewaltherrschaft.

Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, wel che schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten. Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte.

Von Weizsäcker hat mit dieser bedeutenden Rede vom 8. Mai 1985 einen wichtigen Beitrag für das Nachkriegsdeutschland geleistet und hat darin erstmals von einer Befreiung Deutsch lands vom NS-Regime gesprochen – nicht aber von einer Be freiung aus der Verantwortung.

Diesen Neustart hat er damit auch ins Licht des Leids gestellt, das für viele auch nach dem 8. Mai begonnen hat. Flucht, Ver treibung, Gefangenschaft haben viele Familienbiografien ge prägt. Auch dieser Leiden gedenken wir.

Geschichte, die uns zur Verantwortung veranlasst, Verantwor tung für die Zukunft – wir müssen daran arbeiten, dass dies nicht nur eine Worthülse bleibt. Es bedeutet einerseits, dass wir uns mit unserer Geschichte auseinandersetzen, mit der Ge schichte des Nationalsozialismus, der Konzentrationslager, der Verfolgung von Minderheiten, Andersdenkenden, und mit der Geschichte des Holocaust.

So sage ich klar: Es ist eine Schande, wenn vor jüdischen Ein richtungen in Deutschland Polizisten stehen müssen, um sie zu bewachen,

(Beifall bei allen Fraktionen)

und es ist eine Schande, wenn anders denkende oder anders aussehende Menschen Rassismus und Extremismus ausge setzt sind. Hier heißt Erinnern: Wehret den Anfängen. Das gilt für die Politik wie auch für jeden Einzelnen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Europa steht vor großen Herausforderungen. Vor dem Hinter grund der beiden Weltkriege, die inmitten Europas wüteten und benachbarte Staaten zu erbitterten Feinden machten, ist eine Geschichte umso beachtlicher: Aus verfeindeten Völkern wurden Freunde, die sich in einem historisch einmaligen Pro zess zusammenschlossen, um eine gemeinsame friedvolle Zu kunft aufzubauen.

Bei dieser Fortschreibung eines geeinten Europas muss es uns darum gehen, auch auf die Befindlichkeiten der Menschen in heutiger Zeit Rücksicht zu nehmen, dieses Europa auch erleb bar zu machen für nachfolgende Generationen, es denen zu vermitteln, die es nur aus den Berichten anderer kennen.

Bei der Fortschreibung der europäischen Idee sind wir gefor dert wie wohl nie in der Geschichte der Europäischen Union. Finanz- und Wirtschaftskrisen mit all ihren vielfältigen Aus wirkungen beuteln viele Mitgliedsstaaten. Stimmen für eine Spaltung Europas gewinnen immer mehr Zulauf. Europa braucht Akzeptanz bei den Menschen in seiner gegenwärti gen Ausgestaltung. Nicht alles, was in Europa ein Thema ist, ist auch ein Thema für Europa.

Deshalb wollen wir gemeinsam diesen Tag nutzen, uns mit der Verantwortung für Europa auseinanderzusetzen. Ich sage, der 8. Mai soll uns auch im Gedächtnis bleiben mit Blick auf Krieg, Verfolgung, Vertreibung von Minderheiten, die keine Rechte haben. Das gibt es leider noch viel zu viel auf der Welt. Weltweit sind derzeit mehr als 50 Millionen Menschen auf der Flucht, eine Zahl, die so erstmals wieder seit dem Zweiten Weltkrieg erreicht wurde.

Deshalb appelliere ich auch an diese europäische Solidarität. Es darf nicht dabei bleiben, dass sich nur zehn von 28 Mit gliedsstaaten an der Aufnahme von Menschen, die in ihrer Heimat um Leib und Leben fürchten, beteiligen. Da ist eine europäische Solidarität gefragt.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Abge ordneten der Grünen und der SPD)

Europa hat sich verändert, aber die Gründungsideen bleiben gleich. Es ist das Europa der Religionen, es ist das Europa der Regionen, wo wir Subsidiarität befördern müssen und starke Kommunen vor Ort brauchen, die ihre Probleme im Sinne der Menschen lösen, und es ist das Europa der Sprachen.

Ich wünsche mir, dass wir in Baden-Württemberg, in Frank reich, in Rumänien, allüberall, immer wieder hören und stolz sagen können: Ich bin ein Europäer.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie Abge ordneten der Grünen und der SPD)

Für die Fraktion GRÜNE erteile ich Frau Kollegin Lösch das Wort.

Herr Präsident, liebe Kolle ginnen und Kollegen! Am 8. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der Kapitulation des nationalsozia listischen Deutschen Reiches. Als die Waffen endlich schwie gen, waren mehr als 60 Millionen Menschen tot, gefallen im Krieg, ermordet in Konzentrationslagern, verbrannt in Bom bennächten, gestorben an Hunger, Kälte und Gewalt auf der großen Flucht.

Deshalb sind wir heute in Gedanken bei den vielen Millionen Menschen, die während des nationalsozialistischen Regimes verfolgt, gequält, gefoltert und ermordet wurden. 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Ende der in dustriellen Tötung von Menschen in Vernichtungslagern ver neigen wir uns vor denjenigen, die Opfer der nationalsozia listischen Vernichtungspolitik wurden.

Als Richard von Weizsäcker 1985 seine Rede zum 40. Jahres tag des Kriegsendes hielt, prägte er die Formulierung vom „Tag der Befreiung“. Dies war eine merkbare und auch not wendige Zäsur in der Erinnerungskultur. Für viele Menschen in Deutschland stellte dies einen großen Fortschritt in der Aus einandersetzung mit der deutschen Vergangenheit dar, denn es stellte das Verhältnis von Ursache und Wirkung richtig. Wir Deutschen mussten vom Nationalsozialismus befreit werden; aus eigener Kraft, aus eigenem Antrieb erfolgte dies nicht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Erinnerung nicht zur hohlen Floskel werden und Gedenktage nicht zur Routine ver kommen sollen, dann müssen wir auch bereit sein, aus der Ge schichte zu lernen und das Gelernte in Alltagshandeln umzu setzen. Aus unserer Vergangenheit erwächst die Verpflichtung, gegen Totalitarismus, Faschismus und Rassismus aufzuste hen. Auch hier möchte ich nochmals Richard von Weizsäcker zitieren:

Die Jungen sind nicht verantwortlich für das, was damals geschah. Aber sie sind verantwortlich für das, was in der Geschichte daraus wird.

Die nächste Generation wird sich an die Menschheitsverbre chen der Nazis nicht mehr erinnern. Deshalb müssen wir so zusagen als die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen die Erinne rungskultur fördern. Die Gedenkstättenarbeit, die vielen Bil dungsorganisationen und die ehrenamtlich Engagierten leis ten eine unglaublich wichtige Arbeit für unsere Demokratie, und ich möchte mich an dieser Stelle dafür ganz herzlich be danken.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Die Gedenkstätten ermahnen uns zu Wachsamkeit und Zivil courage. Dass wir die Arbeit der über 80 Gedenkstätten sehr schätzen, zeigt sich auch daran, dass wir durch die schrittwei se Anhebung der Landesgedenkstättenförderung den Einrich tungen eine nachhaltige und zukunftsorientierte Planung ih rer Projekte ermöglichen.

Aus dem Gedenken und Erinnern an die Opfer des Zweiten Weltkriegs erwächst die Pflicht zu Frieden und Humanität. Wir in Europa haben das Glück, dass wir auf eine lange fried liche Epoche zurückblicken können. Weltweit aber sterben Menschen in Kriegen und bewaffneten Auseinandersetzun gen; Hunderttausende fliehen vor diesen Bedrohungen.

Die Erinnerung an die beiden Weltkriege und an den Terror des NS-Regimes verpflichtet uns zu einem gesellschaftlichen Konsens, dass das oberste Gebot die humanitäre Hilfe für Flüchtlinge sein muss. Die Flüchtlingskatastrophe im Mittel meer ist eine Schande für Europa. Menschenrechtsverletzun gen, Krisen und Konflikte zwingen immer mehr Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen und in Europa Schutz zu su chen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen dem Sterben von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer endlich ein Ende set zen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Nötig ist umgehend ein europäisches Seenotrettungssystem. Es muss möglich werden, über legale Wege nach Europa zu kommen und einen Asylantrag zu stellen, ohne dabei sein Le ben zu riskieren. Die EU-Staaten müssen mehr Flüchtlinge aufnehmen und diese gerechter verteilen, denn sonst ist diese Flüchtlingspolitik die alte geblieben.

(Beifall bei den Grünen sowie Abgeordneten der CDU, der SPD und der FDP/DVP)

Allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres sind bereits 30-mal mehr Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken als im letz ten Jahr. In Zahlen heißt das: 1 750 Flüchtlinge sind seit Jah resbeginn ums Leben gekommen. Wir dürfen nicht weiter zu schauen, wie das Mittelmeer zum Massengrab wird. Es ist ei ne humanitäre Verpflichtung, dass nicht zuvorderst nur die Mittelmeeranrainerländer helfen, sondern die EU als Werte union Flüchtlingen auf ihrem Fluchtweg hilft, anstatt wegzu schauen. Wir hätten gegenwärtig eine neue Chance, Europa in seinen humanistischen Wurzeln erkennbar werden zu las sen und der zunehmenden Geringschätzung der europäischen Realität etwas entgegenzustellen.

Deshalb begrüße ich sehr, dass auch der Präsident der Euro päischen Kommission, Jean-Claude Juncker, die Reaktion der EU-Staats- und Regierungschefs auf die Flüchtlingskatastro phe im Mittelmeer kritisiert hat. Vor dem EU-Parlament in Straßburg forderte er einen legalen Zugang für Flüchtlinge nach Europa und eine Länderquote. Die Presse lobt den Vor stoß des Kommissionschefs und drängt die Öffentlichkeit, in dieser Migrationskrise Druck auf die Politik auszuüben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass wir, das Parlament, feststellen können, dass wir in Europa in der Ver antwortung sind, eine humanitäre Verantwortung haben, die ses Flüchtlingsproblem zu lösen. Das Gedenken daran, was Verpflichtung bedeutet – die Befreiung Deutschlands vor 70 Jahren –, ist Anlass genug, den Bogen von dem historischen Europa zu den aktuellen Herausforderungen in Europa zu schlagen. Dazu mehr in der zweiten Runde.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)