Wie dies geschehen könnte, darüber sollten Sie sich Gedanken machen. In diesen Diskussionsprozess bringen wir uns natürlich gern ein. Ich denke an Verhaltenshinweise, wie sie in Bayern in öffentlichen Verkehrsmitteln erfolgen. Ich denke an Kampagnen, die man zur Stärkung des persönlichen Mutes durchführen kann, um zu einer Kultur des Hinschauens zu gelangen. Ich schlage Ihnen vor: Nehmen Sie Ihre Imagekampagne – inzwischen weiß Deutschland, dass wir kein Hochdeutsch können –, und starten Sie eine Kampagne des Hinschauens in Baden-Württemberg. Da sind wir an Ihrer Seite.
Meine Damen und Herren: Sorgen Sie vor allem dafür, dass sich Menschen, die den Mut aufbringen, sich persönlich einzuschalten, wenn Not am Mann, wenn Not an der Frau ist, auch darauf verlassen können, dass sie selbst in kürzester Zeit Hilfe erfahren, wenn sie selbst Angriffen und Gefährdungen ausgesetzt sind. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass Polizei und Sicherheitskräfte ihnen schnellstmöglich zur Seite stehen. Sicherheit zu gewährleisten ist nämlich auch in diesem Bereich eine Kernaufgabe des Staates und keine Aufgabe der Bürgerschaft selbst. Da sind Sie, Herr Innenminister, und nicht die Bürger gefordert.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Im September dieses Jahres wurde von 17 und 18 Jahre alten Männern aus völlig nichtigem Grund – Kollege Blenke hat das richtig gesagt – Dominik Brunner in München auf einem S-Bahnsteig totgeschlagen. Er hat Zivilcourage gezeigt und Kinder geschützt. Besser als er hätte sich in einer solchen Situation niemand verhalten können. Er ist nicht nur tragisches Opfer eines schrecklichen Verbrechens. Er ist ein Held. Er ist für uns ein Vorbild. Es ist richtig und erforderlich, dass angesichts dieser Tat die Diskussion über die Notwendigkeit von Zivilcourage in diesem Land neu begonnen hat und weitergeführt wird.
Wir brauchen in der Tat eine viel stärkere, viel tiefer verwurzelte Kultur der Solidarität und des Hinschauens. Wir haben sie nicht. Wir haben ein schönes Ehrenamt, aber immer dann, wenn es gefährlich wird – es wird leider gefährlich, nicht nur in S-Bahnen, sondern auch an anderen Stellen –, haben wir diese Kultur des Hinschauens nicht. Wir brauchen auch mit Sicherheit – darüber muss auch geredet werden – ein gesellschaftliches Klima, in dem das Zutrauen in die eigene Zivilcourage, den eigenen Mut, das eigene Eingreifen vorhanden ist und wächst und nicht abgeschreckt wird. Wir dürfen aber nicht Zivilcourage als Ersatz für fehlende innere Sicherheit des Staates fordern.
Herr Innenminister, wir dürfen uns aus dieser Kernaufgabe nicht zurückziehen. Die Politik macht einen Fehler, wenn sie nach einer solchen Tat wie in München immer mit den gleichen Reflexen reagiert. Sie reagiert – das haben Sie auch gemacht; es vergingen wenige Stunden nach diesem schrecklichen Verbrechen – mit Forderungen nach Gesetzesverschärfungen wie z. B. einer Bestrafung von Jugendlichen nach Erwachsenenstrafrecht oder einer Anhebung der Höchststrafe. Ihre bayerischen Kollegen haben das gemacht. Auf Bundes ebene ist die gleiche Diskussion gelaufen. Herausgekommen ist dabei nichts. Es war der übliche Reflex, der zwei Tage lang anhält und der Öffentlichkeit etwas vorgaukelt, aber ohne Konsequenzen bleibt. Übrigens waren alle Experten – gerade im Bereich des Jugendstrafrechts – gegen Ihre Forderung.
Das Zweite ist, dass Sie sich heute hier hinstellen und sagen: Wir haben aber eine glänzende Bilanz der inneren Sicherheit in diesem Land; jeder Mensch kann sich sicher fühlen. Herr Blenke, mit vollem Ernst: Die Realität in diesem Land ist anders. Natürlich gibt es eine große Zahl von Menschen, die sich nachts in U-Bahnen und in S-Bahnen gerade in großen Städten – auch in unserem Land – unsicher fühlen, weil es leider sehr oft zu unerfreulichen Szenen kommt.
Wir haben also eine Entwicklung hin zu einer gefühlten Unsicherheit und nicht zu mehr Sicherheit. Da ist kein Raum für stolze Leistungsbilanzen einer Landesregierung, sondern es ist Zeit, zu überlegen: Was kann ich tun, um dieses subjektive Unsicherheitsgefühl bei der Bevölkerung zu überwinden? Was kann ich tun, um Zivilcourage und Mut neu zu stärken? Das ist die Aufgabe.
Es stimmt schon, wenn wir sagen: Von der Kernaufgabe „Innere Sicherheit“ hat sich das Land zurückgezogen – aus welchen Gründen auch immer. Es gibt auch vernünftige Gründe dafür, dass man sparen muss, aber man muss immer schauen, ob man so, wie man es macht, an der richtigen Stelle spart. Herr Innenminister, was würden Sie sagen, wenn die Schlagzeile heißt: „Polizei geht finanziell am Krückstock“?
Das war in dieser Woche in fast allen Zeitungen des Landes zu lesen. Der Präsident des Polizeipräsidiums Stuttgarts, des größten Polizeipräsidiums im Land, musste einen Bettelbrief an den Innenminister schreiben, weil sein Budget nicht reicht. Das geht aus seinem Brief hervor: Kernaufgaben im Bereich der Alkohol- und Drogenkontrolle können im Jahr 2009 nicht mehr wahrgenommen werden. Das Gleiche gilt für Polizeipräsidien anderer Großstädte; ich kenne das aus Mannheim.
Wenn Sie in diesen Bereichen von der Kernaufgabe „Innere Sicherheit“ abweichen und damit dazu beitragen, dass in der Bevölkerung die Unsicherheit wächst, weil man draußen auch immer weniger Polizisten sieht – die Menschen wollen ihren Polizisten draußen sehen –, dann sollten Sie nicht Zivilcourage als Ersatz für die Versäumnisse Ihrer Politik fordern. Das ist falsch.
In der zweiten Runde können wir gern darüber diskutieren, welches Klima wir in diesem Land brauchen, Herr Kollege Blenke, damit die Zivilcourage wächst.
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Zivilcourage ist die notwendige Voraussetzung der Bürgergesellschaft. Darüber sind wir alle uns hoffentlich einig.
(Beifall der Abg. Dr. Ulrich Noll und Dr. Hans-Ul- rich Rülke FDP/DVP – Vereinzelt Heiterkeit – Zu- rufe, u. a. Abg. Walter Heiler SPD: Sind das die Ein- zigen, die das verstanden haben, oder was?)
(Heiterkeit – Abg. Walter Heiler SPD: Ihre eigenen Leute haben auch nicht applaudiert! – Zuruf des Abg. Dr. Ulrich Noll FDP/DVP)
Der Staat muss das Engagement und den Einsatz von Bürgern, die sich Straftätern entgegenstellen, um Opfer zu schützen, stärker honorieren. Auch darüber sind wir uns einig.
Ich erinnere Sie daran, dass unser Justizminister die Stiftung Opferschutz auf den Weg gebracht hat, damit wir hier in diesem Bereich mehr tun können.
Ich bedauere ein wenig, wie der Kollege Gall die Debatte jetzt nutzt. Auf seinen Wunsch hin haben wir den heutigen Tages
ordnungspunkt 9 abgesetzt. Nun hat er das betreffende Thema wieder vorgezogen. Dieses an sich wichtige Thema hat er wiederum für eine verbale Attacke in Bezug auf die innere Sicherheit genutzt.
Baden-Württemberg ist das sicherste Bundesland. Die Menschen fühlen sich in diesem Land auch sicher. Wir haben einen Stellenabbau bei der Polizei nur im Zusammenhang mit einer Aufgabenreduzierung – WKD –
(Abg. Reinhold Gall SPD: Da sind längst andere Auf- gaben hinzugekommen! – Zuruf der Abg. Ursula Haußmann SPD)
Herr Kollege Gall, wenn jetzt einer Polizeidirektion oder einem Polizeipräsidium das Geld ausgeht, dann wird es doch nicht so sein, dass die Streifenwagen in der Garage bleiben, sondern dann wird der Landesregierung etwas einfallen, um die innere Sicherheit weiterhin sicherzustellen.
Wir haben schon oft darüber gesprochen: Es geht nicht, dass wir für jeden Bürger oder für jeweils zehn Bürger einen Polizisten hinstellen. Denn gerade das würde erst ein Gefühl der Unsicherheit erzeugen.
Wir wollen, dass insgesamt ein gesellschaftliches Klima entsteht, in dem sich jeder für diese Gesellschaft verantwortlich fühlt, in dem jeder bereit ist, sich in diese Gesellschaft einzubringen.
Hier bedauere ich sehr, dass der Kollege Sckerl das sehr hohe ehrenamtliche Engagement der Baden-Württemberger vorhin ein bisschen miesgemacht hat.
Nein, auch das ist wichtig, auch das ist Zivilcourage, dass die Bürgerinnen und Bürger eigene Aufgaben in die Hand nehmen und sich selbst in die Gesellschaft einbringen.
Der Herr Präsident hat auf die Wichtigkeit der Zivilcourage vor dem Hintergrund der DDR-Diktatur hingewiesen. Wir haben uns kürzlich mit unserem Landsmann Georg Elser befasst, wir haben am 20. Juli unserer Landsleute gedacht, die im Zusammenhang mit diesem Datum betroffen waren. Das alles ist Zivilcourage. Zivilcourage zeigen auch die Menschen, die gegen Gewalttäter vorgehen.
All das – so meine ich – ist bei dieser Landesregierung in guten Händen. Keine noch so starke Polizei, keine noch so sehr ausgebaute innere Sicherheit wird hundertprozentig vermeiden können, dass es zu irgendwelchen Übergriffen durch Straftäter kommt. Aber wir tun alles, damit Zivilcourage in
(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Ursula Haußmann SPD: Sie tun über- haupt nichts! Also, bitte!)
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! „Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selbst vor die Haustür zu treten und nachzusehen, was es gibt.“
Das hat der Schweizer Autor Gottfried Keller schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu Recht festgestellt.
In der Erklärung unseres Landtagspräsidenten von vorhin kamen auch die zentralen Worte „Zivilcourage“ und „Furchtlosigkeit“ vor. Darüber müssen wir gerade in Zeiten wie diesen reden. Ich bin dankbar, dass sich der Landtag von Baden-Würt temberg in dieser Aktuellen Debatte mit zwei bedeutenden Aspekten der inneren Sicherheit beschäftigt: einmal mit der Notwendigkeit eines starken Staates, eines konsequent handelnden Staates, und zum Zweiten mit der Zivilcourage der Bürgerinnen und Bürger.
Herr Kollege Gall, Letzteres ist kein Ersatzkonzept, und das darf es auch nicht werden. Wir brauchen beides: einen starken, konsequent handelnden Staat und die Zivilcourage unserer Bürgerinnen und Bürger.