Protocol of the Session on November 11, 2004

[Momper (SPD): Sie diskutieren das Verhalten der Präsidentin! – Gaebler (SPD): Sie missbrauchen diese Möglichkeit! – Weitere Zurufe – Unruhe]

Entschuldigung, aber das ist nicht zur Geschäftsordnung! Sie reden zur Debatte.

[Dr. Lindner (FDP): Natürlich ist das zur Geschäftsordnung!]

Entweder machen Sie jetzt den Schlusssatz, oder ich entziehe Ihnen das Wort.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Ich rede zur Geschäftsordnung.

Nein! Sie begründen gerade inhaltlich.

[Dr. Lindner (FDP): Sie sind völlig unfähig!]

Entweder Sie machen jetzt den Schlusssatz zur Geschäftsordnung, oder ich ermahne Sie und entziehe Ihnen das Wort.

[Zurufe von der FDP – Unruhe]

Ich rede zur Geschäftsordnung, indem ich feststelle, dass es sich hierbei nicht um einen Missbrauchsfall einer Regelung, sondern um einen begründeten Ausnahmefall handelt. Wir bitten darum, dass wir die Möglichkeit bekommen, das jetzt zu diskutieren, damit der Regierende Bürgermeister die Möglichkeit hat, darauf zu antworten. Das ist bei einer Kurzintervention möglich, bei einem normalen Beitrag aber nicht.

[Doering (PDS): Es kann jeder das Wort ergreifen! – Weitere Zurufe von SPD und der PDS]

Deswegen wollen wir, dass der Regierende Bürgermeister diese infame Unterstellung klarstellt oder sich entschuldigt.

[Beifall bei der FDP und der CDU – Gaebler (SPD): Sie reden zur Sache und nicht zur Geschäftsordnung! – Weitere Zurufe]

Das war der Beitrag von Herrn Ritzmann. Es war kein Beitrag ausdrücklich zur Geschäftsordnung. Ich beziehe mich auf die Geschäftsordnung, und zwar auf § 63 Abs. 9. Dort steht:

Im Anschluss an einen Debattenbeitrag kann der Präsident das Wort zu einer Zwischenbemerkung erteilen.

Damit ist eindeutig geregelt, dass es eine Entscheidung des Präsidenten ist. Ich habe Ihnen erklärt, wie ich das auslege und beziehe mich ausdrücklich auf eine Vereinbarung, die im Ältestenrat so getroffen ist. Wir müssten gegebenenfalls im Ältestenrat noch einmal darüber reden.

[Ritzmann (FDP): Ich habe einen Antrag gestellt! – Zurufe von der FDP: Abstimmung!]

Nein, das war kein Antrag zur Geschäftsordnung. – Ich habe entschieden, dass ich diese Kurzintervention nicht zulasse.

[Ritzmann (FDP): Ich habe einen Antrag gestellt!]

Nein, das war kein Antrag zur Geschäftsordnung. – Bitte, Herr Gaebler!

[Reppert (CDU): Wie in alter Zeit! – Hoffmann (CDU): Wozu redet der jetzt? – Weitere Zurufe von der CDU und der FDP]

Ich habe mich zur Geschäftsordnung gemeldet. Ich stelle einen Antrag zur Geschäftsordnung. – Ich beantrage, dass nach der Sitzung der Ältestenrat einberufen wird, damit genau diese Sachen einmal diskutiert werden. Ich meine damit auch das Vorgehen von Herrn Ritzmann, das ich für außerordentlich unparlamentarisch halte.

[Beifall bei der SPD und der PDS]

Das werden wir im Ältestenrat im Anschluss an diese Sitzung diskutieren. Ich bitte darum, jetzt mit der Sitzung fortzufahren – und, wie gesagt: Einberufung des Ältestenrats im Anschluss an die Sitzung.

Wir treten jetzt in die zweite Rederunde ein. Es ist eine Sitzung des Ältestenrates beantragt worden. Die wird dann am Ende der Plenarsitzung stattfinden. – Das Wort hat jetzt Frau Abgeordnete Seelig. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist im Laufe dieser Debatte eine sehr unangenehme Diskussionsebene erreicht worden, die dem Thema nicht angemessen ist.

[Beifall bei der PDS und der SPD]

Eigentlich geht es um den 9. November – einen schicksalsträchtigen Tag, vielleicht den schicksalsträchtigsten für uns Deutsche. Das ist auch aus allen Reden vor der großen Aufregung deutlich geworden. Ohne die Debatte

Vizepräsidentin Michels

um den 3. Oktober noch einmal entfachen zu wollen, möchte ich an dieser Stelle sagen: Ich persönlich hätte mir den 9. November als zentralen Fest- und Gedenktag für das vereinigte Land gewünscht.

[Vereinzelter Beifall bei der PDS]

Dabei glaube ich nicht, dass irgend ein anderes Land einen so ambivalenten Tag zum Nationalfeiertag erkoren hat, denn meist sind es Siege – im besten Fall Siege von bürgerlichen Revolutionen oder in der Befreiung vom Kolonialjoch –, die dafür Pate stehen. Aber dieses Deutschland ist auch kein Land wie jedes andere: Im 20. Jahrhundert gingen zwei verheerende Weltkriege von hier aus, und mit der Pogromnacht von 1938 wurde das Startsignal für die massenhafte und fabrikmäßige Vernichtung jüdischen Lebens in Europa gegeben. Die Teilung Deutschlands muss man auch als Folge dieser Geschichte begreifen.

Der 9. November 1989 war ein zentraler Punkt der friedlichen Revolution in der DDR. Es gab – der Regierende Bürgermeister sprach ebenfalls von Revolution, aber man hört da auch viel Umstrittenes – tatsächlich alle Merkmale einer Revolution: Die da unten wollten nicht mehr, und die da oben konnten nicht mehr. – Für einen knappen Zeitraum danach gab es auch die klassische Doppelherrschaft – auf der einen Seite die ModrowRegierung und auf der anderen Seite der zentrale Runde Tisch, an dem die neu gegründeten Bürgerbewegungen Platz genommen hatten. Bei aller Freude über die Überwindung der Teilung sollten wir nicht vergessen, dass es den Oppositionellen, die bewusst da geblieben waren und nicht über Ungarn und Prag die DDR verlassen hatten, erst einmal um ein neues, demokratisches, eigenes Gemeinwesen ging. Im Vordergrund stand eine neue Verfassung, an der am Runden Tisch bis zuletzt gearbeitet wurde.

Es ist selbstverständlich klar, dass die politische Opposition in der gesamten Geschichte der DDR verschwindend gering und auch im Moment des Mauerfalls eine Minderheit war. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang immer wieder an eine Anekdote: Am Sonnabend nach dem 9. November wollte meine Bürgerbewegung „Vereinigte Linke“ die erste Pressekonferenz in einem staatlichen Gebäude abhalten – das war etwas ganz Besonderes –, und zwar in der Mensa der HumboldtUniversität. Als wir dort ankamen, war alles dunkel und verrammelt, was wie selbstverständlich dazu führte, dass wir wütend über diesen Staat schimpften, der uns wieder in die Quere gekommen war und uns weiter unterdrücken wollte. Wir hatten überhaupt nicht mitbekommen, dass die Studenten, die dort Dienst hatten, einfach zum Feiern in Westberlin waren.

[Heiterkeit bei der PDS]

Wenn wir nach 15 Jahren beklagen, dass die Teilung noch nicht vollständig überwunden ist, dann müssen wir auch jenseits von wirtschaftlichen Fehleinschätzungen, die auch schon angesprochen wurden, überlegen, was noch schief gelaufen ist. Daraus kann man für die Zu

kunft, die eine gemeinsame sein muss und sein wird, nur lernen. Ich glaube, dass die Bundesrepublik mit der Aufnahme neuer Sichten, neuer Einrichtungen und anderer Lebensentwürfe sehr viel früher festgetretene Pfade in allen gesellschaftlichen Bereichen hätte verlassen können. Der umgekehrte Weg hat viel mehr als nur Abermilliarden von DM gekostet. Nehmen wir die simplen und auf der Hand liegenden Beispiele wie Ganztagsschulen und Polikliniken!

Aber es geht nicht um Rückschau und „Was wäre wenn?“. – Es ist mir bewusst, dass historische Ereignisse auch eine eigene Dynamik entfalten. Trotzdem hat Berlin eine besondere Verantwortung, was sowohl die Angleichung der Lebensverhältnisse wie das Annehmen von Biographien betrifft. Hier hat die Mauer gestanden, und alle suchen sie jetzt. Dabei hat es doch etwas Tröstliches, wenn man nicht mehr merkt, ob man in Friedrichshain oder Kreuzberg ist. Ich glaube auch, dass die Menschen nach dem Fall der Mauer genau das wollten.

Das schließt eine würdige Gedenkstätte nicht aus. Allerdings finde ich, dass der historische Ort in der Regel der würdigste Gedenkort ist. Bevor sich jetzt alle überschlagen, etwas Neues mitten in der Stadt zu errichten, frage ich: Könnte man nicht mehr Geld für die Gedenkstätte Hohenschönhausen verwenden? – Als jemand, der mit eigenen Augen die verzweifelten Sprünge aus den Häusern an der Bernauer Straße miterlebt hat, erscheint mir eine Aufwertung der dortigen Gedenkstätte angemessen.

Es gibt viel zu bedenken in dieser ehemaligen und neuen Hauptstadt, und der 9. November ist mit seiner Ambivalenz ein wirkungsmächtiger symbolischer Tag für die deutsche Geschichte. – Danke schön!

[Beifall bei der PDS – Zuruf des Abg. Hoffmann (CDU)]

Danke schön! – Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Hahn. – Bitte, Herr Hahn!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Seelig, Sie haben eingangs sinngemäß gesagt, die Debatte sei zuletzt in einer dem Anlass des 9. November nicht mehr würdigen Weise verlaufen. Damit hatten Sie Recht! Sie hätten aber erwähnen müssen, dass dieser Misston durch den Regierenden Bürgermeister in die Debatte hineingetragen worden ist,

[Beifall bei der FDP – Beifall des Abg. Wansner (CDU)]

und zwar durch die unglaubliche Behauptung, die er hier aufgestellt hat, dass ein Mitglied der FDP-Fraktion Führungen durch die Gedenkstätte Hohenschönhausen stören würde.

[Frau Leder (SPD): Hat er gar nicht gesagt! – Weitere Zurufe von der SPD]

Frau Seelig

Er meinte wohl ein Mitglied unserer Fraktion, das Schatzmeister des Fördervereins für die Gedenkstätte Hohenschönhausen ist. Es ist unglaublich, dass eine solche Bemerkung hier gemacht werden kann und dass sie – auch von Ihnen, Frau Seelig – nicht gerügt wird. Es kann nicht sein, dass das hier stehen bleibt, zumal über unseren Geschäftsordnungsantrag,

[Zuruf des Abg. Brauer (PDS)]

dem Regierenden Bürgermeister die Gelegenheit zu geben, sich zu entschuldigen, nicht abgestimmt wurde. Aber der Regierende Bürgermeister wäre eigentlich Manns genug, sich für eine solche unglaubliche Behauptung zu entschuldigen. Dass er das nicht tut, spricht nicht für den Charakter dieser Debatte. Er hat diesen unwürdigen Ton hereingetragen, und das hätten Sie, Frau Seelig, kritisieren müssen. – Da Sie das nicht getan habe, habe ich an dieser Stelle intervenieren müssen..