Protocol of the Session on November 10, 2016

(Beifall DIE LINKE, SPD sowie des Abgeordneten Bretz [CDU] - Schröder [AfD]: Das können Sie gar nicht beur- teilen!)

Wir setzen die Aussprache mit dem Beitrag der Abgeordneten Nonnemacher fort. Sie spricht für die Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN.

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Um es vorwegzunehmen: Unsere Fraktion spricht sich deutlich gegen die Heirat oder Verheiratung Minderjähriger aus, ebenso gegen eine Verheiratung von Menschen unter Zwang. Zwangsehen sind eine grobe Verletzung der Menschenrechte, das ist ganz klar.

Kinderehen - das ist genauso klar - stellen eine besondere Form der Gewalt gegen Kinder dar, genauer genommen eine besondere Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Sie sind mit schätzungsweise über 90 % der Betroffenen die deutliche Mehrheit. Jedes Jahr werden weltweit 15 Millionen Mädchen unter 18 Jahren verheiratet. Der hier viel zitierte Ausdruck „Kinder gehören in die Schule und nicht in die Ehe“ fokussiert auf eines der Kernprobleme von Kinderehen: Einmal verheiratet haben die Mädchen und Frauen kaum noch Zugang zu Bildungsangeboten. In vielen Fällen müssen sie ihre Schulausbildung abbrechen. Damit sind sie wirtschaftlich von ihrem Ehemann oder dessen Familie abhängig. Ein Ausbruch aus der Armut und ein selbstbestimmtes Leben werden ihnen damit unmöglich. Auch die gesundheitlichen Risiken der Kinderehe sind für Mädchen und Frauen verheerend. Weltweit ist bei den 15- bis 19-Jährigen eine Schwangerschaft die häufigste Todesursache.

Das kann uns nicht kaltlassen. Selbstverständlich muss alles dafür getan werden, jedem Mädchen auf der Welt eine sorgenfreie Kindheit und Jugend frei von Ehe und Schwangerschaft und mit einem gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen.

(Beifall B90/GRÜNE, SPD, DIE LINKE und CDU)

Die Frage, was wir im Land Brandenburg tun können, um diese Mädchen und Frauen besser zu schützen, beantwortet der Antrag der CDU-Fraktion leider nicht ausreichend, auch weil er die Komplexität der Konstellation nicht abbildet. Ehen von Kindern unter 14 Jahren sind auf jeden Fall aufzuheben, und es muss wegen des Verdachtes auf sexuellen Missbrauch ermittelt werden. Bei älteren Jugendlichen ist nicht immer davon auszugehen, dass ein Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht vorliegt.

Ein vernachlässigter Aspekt ist, dass vor der Flucht geheiratet wird, um durch den Status der Ehefrau vor sexuellem Missbrauch geschützt zu sein. Gerade in von Bürgerkrieg erschütterten, zerfallenden Staaten - „failing states“ - scheinen Minderjährigenehen stark zuzunehmen. Sie sind eher Ausdruck der Krise, nicht unbedingt kultureller oder religiöser Traditionen.

Hier müssen wir genau hinschauen: Es geht nicht um in Deutschland zu schließende Ehen, sondern um die Menschen, die schon verheiratet hier ankommen. Wenn wir all diese Ehen für unwirksam erklären würden, gingen alle Rechte und Unterhaltsansprüche verloren. Kinder aus diesen Ehen würden ohne anerkannten Vater als illegitim angesehen und ihre Erbschaftsansprüche verlieren. Die ehemals verheirateten Minderjährigen würden im sozialen Abseits landen. Eine Rückkehr ins Heimatland könnte verunmöglicht werden.

Der Antrag sollte deutlicher im Sinne eines umfassenden Schutzes von Kindern und Jugendlichen formuliert werden. Das Kindeswohl, das in der Überschrift des Antrags explizit

genannt wird, wird in der Begründung gar nicht mehr erwähnt. Ebenso lässt die Begründung aus unserer Sicht ein primär am Interesse des Kindes ausgerichtetes Denken nicht unbedingt erkennen, sondern bezieht sich auf unser Werteverständnis. Aber auf diese emotionale Art dürfen wir die Debatte nicht führen. Wir müssen ernst nehmen, dass in Deutschland vor allem Opferberatungs- und Unterstützungsstrukturen von Kinder- und Zwangsehen für Betroffene fehlen. Also müssen wir über Migrationssozialarbeit und gut ausgestattete Jugendämter, nicht über Sanktionen reden - wie der Antrag fordert.

(Schröder [AfD]: Die Jugendämter kommen so schon nicht hinterher!)

Gerade für die Gruppe der 16- und 17-Jährigen kann es nicht um pauschale Regelungen, sondern um am Wohl der Betroffenen orientierte Entscheidungen gehen. Wir fordern die Bundesregierung auf, nicht so viel anzukündigen, sondern endlich im Sinne eines tatsächlich verbesserten Schutzes von Mädchen und Frauen tätig zu werden. Zu dem vorliegenden CDU-Antrag werden wir uns enthalten. - Ich danke Ihnen.

(Beifall B90/GRÜNE, SPD, DIE LINKE und CDU - Schröder [AfD]: Kurzintervention!)

Wir danken Ihnen. - Wir kommen zu einer Kurzintervention. Sie haben die Gelegenheit, Herr Jung.

Frau Nonnemacher, nehmen Sie doch bitte zur Kenntnis, dass dieser vermeintliche Entzug von Unterhaltsansprüchen hier nicht relevant ist. Es geht letztlich um Scharia-Recht. Selbst wenn das in Deutschland quasi anderweitig geregelt würde: In dem Moment, in dem diese Kinder in ihr Heimatland oder in ein anderes islamisches Land zurückgehen, gilt die Scharia. Was ein deutsches Gericht entschieden hat, interessiert die überhaupt nicht.

(Beifall AfD)

Möchten Sie darauf reagieren, Frau Nonnemacher? - Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zum nächsten Redner. Für die Landesregierung spricht Herr Minister Ludwig zu uns.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeordnete! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich hatte bei einem Teil der Debatte schon große Sorge, dass wir hier in Rituale von Auseinandersetzungen wie im Umfeld von Bundestagswahlen eintreten. Mir macht auch große Sorge, dass wir - ich meine das nicht auf den heutigen Tag bezogen - vormittags auf die deutsche Tradition der Einzelfallprüfung stolz sind, und abends, wenn Politik unter Druck kommt, neigen wir dann zur Kritik an der deutschen Einzelfallprüfung und fordern pauschale Regelungen ein.

Ich halte das Thema für zu Recht heiß diskutiert, will aber noch einiges an Fakten und Auszügen aus dem deutschen

Recht hinzufügen. Ich knüpfe eher da an, wo Frau Johlige und Frau Nonnemacher geendet haben.

(Zuruf des Abgeordneten Petke [CDU])

- Hören Sie einfach zu, Herr Petke! Ich glaube, Sie kriegen hier Dinge zu hören, die Sie bei sich im Bundesvorstand vielleicht so nicht hören können.

Das Thema Kinderehen steht aktuell im Fokus der öffentlichen Diskussion. Ich sage: auch zu Recht. Damit geht ein reger Austausch von ethischen, aber auch politischen und kulturellen Ansichten und Vorstellungen über die Eheschließung und die freie Selbstbestimmung von Jugendlichen einher.

Ich möchte zunächst die derzeit geltende Rechtslage beschreiben. Als Kinderehen oder Minderjährigenehen werden solche Ehen bezeichnet, in denen zumindest ein Ehegatte bei der Eheschließung noch minderjährig ist.

Bei im Inland geschlossenen Ehen gilt dabei, dass grundsätzlich gemäß § 1303 Abs. 1 BGB eine Person die Ehe erst dann eingehen soll, sobald sie das 18. Lebensjahr vollendet hat und damit volljährig ist.

Das Familiengericht kann aber auf Antrag eine Befreiung von dieser Regelung erteilen, wenn der Antragsteller oder die Antragstellerin das 16. Lebensjahr vollendet hat und der künftige Ehegatte volljährig ist. Das steht in Absatz 2 dieses Paragrafen.

Es stimmt also nicht, wie in einigen Überschriften steht, dass die Minderjährigenehe in Deutschland gesetzlich ausgeschlossen ist. Genau das ist sie nicht.

(Zuruf des Abgeordneten Petke [CDU])

- Hören Sie doch weiter zu!

Im Rahmen eines solchen Verfahrens betrachten die Familiengerichte - ich kann besser hören als sehen; deswegen kann ich Sie da gut verfolgen - die bestehenden Umstände des Einzelfalls und bewerten die Reife und Ernsthaftigkeit eines jeden Antragstellers respektive einer jeden Antragstellerin. Dabei steht das Wohl des Minderjährigen im Mittelpunkt.

Bei im Ausland geschlossenen Ehen mit minderjährigen Teilnehmern ist zu berücksichtigen,

(Zuruf von der CDU: „Teilnehmern“?)

dass die Anzahl solcher Ehen in Deutschland bis vor wenigen Jahren verschwindend gering war. Vor dem Hintergrund einer Vielzahl unbegleiteter minderjähriger Ausländerinnen und Ausländer hat sich auch die Anzahl der Minderjährigenehen in Deutschland erhöht. Bezogen auf den Bund waren nach Angaben der Bundesregierung Ende Juli 2016 insgesamt 1 475 minderjährige Ausländer mit dem Familienstand „verheiratet“ gespeichert. Bei den meisten von Ihnen, nämlich bei 1 152, handelte es sich um Mädchen. Nach den Erkenntnissen der Landesregierung sind in Brandenburg derzeit sechs Fälle von minderjährigen verheirateten Ausländerinnen bekannt.

Die meisten dieser Ehen sind bereits in den Heimatländern geschlossen worden. Da die minderjährigen Ausländerinnen nicht

die deutsche Staatsangehörigkeit haben, unterliegen die Voraussetzungen der Eheschließung für jeden Verlobten dem Recht des Staates, dem er angehört.

Sehr geehrter Herr Abgeordneter, dieser „Schwachsinn“, wie Sie es gerade bezeichnet haben, steht in Artikel 13 Abs. 1 des Einführungsgesetzbuches zum BGB, und das gilt schon ein bisschen länger, als Sie hier tätig sind.

(Beifall SPD, DIE LINKE und der Abgeordneten Nonne- macher [B90/GRÜNE] - Zuruf von der AfD)

Insofern bin ich sehr auf die textliche Ausfertigung des Konsenses gespannt, den die Große Koalition beschlossen haben soll. Denn bisher ist mir nicht bekannt, dass auf der Tagesordnung stand, das EGBGB zu ändern. Ich meine das ganz neutral. Ich bin wirklich sehr gespannt, worauf man sich da geeinigt hat.

Kollege Stohn wies schon darauf hin, dass dann, wenn eine Ehe im Ausland wirksam geschlossen wurde und der Ehepartner minderjährig ist, die Anerkennung der Ehe und die damit einhergehende Anwendung der jeweiligen ausländischen Rechtsnorm gegen Artikel 6 EGBGB und die darin geregelte öffentliche Ordnung, den ordre public, verstoßen kann. Das bedeutet für uns: Wesentlicher Prüfungsmaßstab ist das Kindeswohl und der Schutz der verfassungsrechtlich garantierten sexuellen Selbstbestimmung. Selbstverständlich ist darin eingeschlossen - da brauchen wir keine Texte der AfD - der Schutz vor Zwangs- und Vielehen.

In diesem Sinne ist auch die Landesregierung tätig. Wir prüfen bereits, welcher rechtliche Regelungsbedarf für eine bundesweite Lösung besteht. Da zitiere ich gern die Kollegin Justizministerin aus Hessen, sehr verehrte Kollegen der CDU. Sie hat heute nämlich presseöffentlich festgestellt, dass man in diesem Zusammenhang die Abschaffung der Möglichkeit, in Deutschland schon mit 16 Jahren zu heiraten, wenn es das Familiengericht im Wege der Einzelfallprüfung genehmigt, diskutieren müsse. Ansonsten würde man wieder unzulässig - aus ihrer Sicht - und unzureichend - auch das hat sie erklärt - ein Sonderausländerrecht schaffen. Sie plädiert in diesem Zusammenhang dafür, nun in Deutschland die Eheschließung mit 16 Jahren tatsächlich gesetzlich auszuschließen. Auch das haben Sie hier leider ausgeblendet.

So ist das Thema Minderjährigenehe in der kommenden Woche ein Tagesordnungspunkt der Herbst-Justizministerkonferenz, die unter dem Vorsitz von Brandenburg am 17. November 2016 stattfinden wird. Im Rahmen der Besprechung erwarten wir eine intensive länderübergreifende Diskussion über die Frage, wie in Deutschland mit Minderjährigenehen rechtlich umgegangen werden soll. Dabei sollen auch stets Zwischenergebnisse der Arbeit der Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft, die ihre Tätigkeit im September dieses Jahres aufgenommen hat, vorgestellt werden. Es wird also schon längst daran gearbeitet.

(Zuruf von der CDU)

Für die Landesregierung ist und bleibt wichtig, eine solide Tatsachengrundlage zu schaffen, um beurteilen zu können, welche tatsächlichen und rechtlichen Schritte in dieser Frage noch gegangen werden müssen.

Auf keinen Fall dürfen aber übereilte Gesetzentwürfe auf den Weg gebracht werden - da teile ich völlig die Position von Bundesjustizminister Maaß, die er bis jetzt eingenommen hat -, die die Interessen und das Wohl der minderjährigen und natürlich auch der volljährigen Frauen und den Schutz des verfassungsrechtlich garantierten sexuellen Selbstbestimmungsrechts aus dem Auge verlieren.

Auch tatsächlich trägt die Landesregierung Sorge dafür, dass die besondere psychologische und psychosoziale Betreuung der unbegleiteten minderjährigen Ausländerinnen und Ausländer - auch wenn sie verheiratet sind - sichergestellt wird.

Da ein volljähriger Ehepartner einer Minderjährigen weder personensorge- noch erziehungsberechtigt ist - deswegen ist die Sorge, dass verheiratete Minderjährige in Deutschland die Schule nicht mehr besuchen dürften, unbegründet; die volljährigen Ehepartner sind doch nicht personensorge- oder erziehungsberechtigt, die Mädchen können selbstverständlich weiterhin in Deutschland die Schulpflicht erfüllen -, sollen die verheirateten Minderjährigen möglichst im System der Kinder- und Jugendhilfe aktiv betreut werden. In den Fällen, in denen erst in der Erstaufnahme das Vorliegen einer Kinderehe festgestellt wird, soll die notwendige Betreuung grundsätzlich durch den in der Zentralen Ausländerbehörde - ZABH - ansässigen Psychosozialen Dienst sowie die Sozialarbeiter des Deutschen Roten Kreuzes gewährleistet werden.

In dem Antrag der CDU-Fraktion wird weiter gefordert, dass Daten und Informationen zu Kinderehen in Brandenburg evaluiert werden sollen. Auch hier ist die Landesregierung bereits tätig. Erlaubt sei der Hinweis auf den am 17. Dezember 2015 vom Landtag beschlossenen Entschließungsantrag „Für eine gute Unterbringung und zügige Integration von minderjährigen Flüchtlingen“, Drucksache 6/3204 - Neudruck.

Entsprechend dem dazu getroffenen Beschluss wird die Landesregierung bis Ende 2017 einen Bericht über die Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher vorlegen. Die besondere Situation unbegleiteter minderjähriger Ausländerinnen wird darin beleuchtet werden.

Da die Jugendämter in Brandenburg ihre Aufgabe ausreichend kompetent wahrnehmen, besteht derzeit für uns keine Veranlassung zur Entwicklung einer damit zusätzlichen landesweiten Strategie im Umgang mit minderjährigen Ehepartnern.

Im Übrigen werde ich Sie hinsichtlich der weiteren Ergebnisse der Bund-Länder-Arbeitsgruppe selbstverständlich hier informieren.