Protocol of the Session on March 16, 2000

Aktuelle Stunde

Thema: Gewalt an Brandenburger Schulen

Antrag der Fraktion der CDU

Das Wort erhält die Vertreterin der beantragenden Fraktion. Frau Hartfelder, bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU-Fraktion hat im Landtag Brandenburg die Aktuelle Stunde zur Gewalt an Brandenburger Schulen vorgeschlagen. Wir möchten darüber reden, ohne zu vergessen, dass die meisten Jugendlichen zielstrebig ihren Weg ins Leben gehen, die Gemeinschaft achten und sich für die Gemeinschaft einsetzen.

(Beifall bei der CDU)

Dies ist nur so weit vorgesehen, wie die Initiatoren der Projekte Wenn aber die vage erhobenen Zahlen korrekt sind, dass ca.

50 % der Schüler Gewalt erlebt oder ausgeübt haben, ist es unsere Pflicht, uns mit diesem Thema auseinander zu setzen. Es ist ein Thema, mit dem man sich nicht parteipolitisch profilieren kann, auf das es keine umfassenden Antworten gibt und für das man keine schnellen Lösuneen anbieten kann. Eine Überbewertung des Themas wäre genauso verheerend wie seine Verharmlosung,

Leider steckt die statistische Datenerfassung und Analyse noch in den Kinderschuhen. Neben zahlreichen Studien lagen mir Erhebungen aus Berlin und Daten eines Brandenburger Schutzbereichs vor. Dort wurden 2 000 jugendliche Tatverdächtige befragt.

Zwei Wege erscheinen uns bei der Befassung mit dem Phänomen „Gewalt an Schulen" wesentlich. Zum einen ist eine vorbehaltlose Offenlegung der Vorkommnisse an Schulen Voraussetzung für den ehrlichen Umgang mit dem Problem. Die Dunkelziffer der Gewaltdelikte an Schulen scheint besonders hoch zu sein. Wir können vor allem Eltern, aber auch Lehrer und Schulleiter nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, für Offenheit zusorgen, müssen ihnen aber auch gleichzeitig das Gefühl vermitteln, dass sie von der Gesellschaft weder überfordert werden noch als Nestbeschmutzer gelten. Kurzum: Lehrer brauchen das Vertrauen der Gesellschaft. dass sie ihren Erziehungsauftrag im Benehmen mit den Eltern ernst nehmen und jede Unterstützung erhalten. Sie müssen dafür aber auch etwas tun. Haben wir aber gerade in diesem Punkt in Brandenburg nicht Nachholebedarf?

Zum anderen gilt es, die Arten von Gewalt, deren Ursachen und Möglichkeiten zur Bekämpfung aufzuzeigen. Besagte Studie aus Berlin kommt zu dem Ergebnis, dass die große Gewalt aus der kleinen erwächst. Nicht umsonst sagt das Sprichwort, dass Blicke töten können. Auch Sprache, Gestik sowie Mobbing verletzen und ermutigen, „tatkräftiger" zu werden, wenn die Gemeinschaft den Übeltätern keinen Riegel vorschiebt, Grenzen nicht deutlich markiert und hei Grenzüberschreitung nicht reagiert. Wer Grenzen immer ohne Sanktionen überschreiten kann. wird ermutigt, gröbere Grenzverletzungen zu begehen. An den Schulen werden dann aus Beschimpfungen Sachbeschädigungen - 18,2 % der von mir befragten Schüler bestätigen das sowie Vandalismus und tätliche Angriffe.

!st dieser Punkt erreicht, sind die Schwierigkeiten für die Erziehenden schon kaum noch zu bewältigen. Sie stehen dem Problem oft hilflos gegenüber, besonders dann, wenn die Gewalt an der Schule kein Einzelfall bleibt, sondern anwächst, und dann, wenn aufgrund der Anonymität großer Schul komplexe Gewalt oft nicht einmal registriert wird. Verwerflich ist Gewalt vor allem deshalb, weil sie Schwächeren widerfährt und im Jugendalter häufig aus einer Gruppendynamik heraus geplant wird und erfolgt.

Kinder werden in Familiensituationen hineingeboren, in denen sie immer weniger die Chance haben, Konflikt- und Stressbewältigung zu erlernen und zu üben. Die Familiensituationen sind dabei so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Bemerkenswert ist aber an dieser Stelle, dass Arbeitslosigkeit in der Familie nicht zwangsweise zur Gewalt der Kinder rührt, wie das der eine oder andere immer wieder zu suggerieren versucht. Bei 66,7 % der befragten Kinder waren beide Eltern in Arbeit.

Aggressionen, mit den eigenen wie mit denen anderer, umzugehen. Das gelingt dann gut, wenn Kinder konsequente Erzieher erleben, wenn für sie Verlässlichkeit, gegenseitige Achtung und Aufmerksamkeit erkennbar sind und die Erzieher nicht selbst ihre Konflikte mit nonverbalen Mitteln lösen. Das heißt, die Vorbildwirkung ist hier gemeint. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, die aufdie Jugend orientierte Arbeit in den Kirchen, Vereinen, Parteien und auch an den Schulen nach dem Unterricht zu verstärken.

Angesichts der emotionalen Ungleichheit in Familien. Gruppen und Klassen ist zu fragen, inwieweit die ungleichen Konfliktebenen zwischen Kind und Erzieher so zu glätten sind, dass sich Kinder und Jugendliche im Konflikt als gleichwertige Partner sehen, damit ihnen die Angst vor der Konfliktaustragung und somit vor den damit erfahrungsgemäß im Zusammenhang zu sehenden Niederlagen genommen wird. Es ist auch zu fragen, wie oft man diese Methode anwenden sollte und wie oft sie dann auch greift.

Das Bibelwort in Tobias 4 Vers 16: „Was du nicht willst, dass man dir tu', das füg' auch keinem andern zu" scheint heute gerade bei Jugendlichen oft wenig Geltung zu haben. Das heißt, Jugendliche können heute häufig die Wirkung ihrer Gewalt auf Geschädigte nicht bewerten. Auch das besagt diese Umfrage. Dies kollidiert aber mit einer anderen Aussage, über die man nachdenken muss: dass Jugendliche oft Täter und Opfer zugleich sind. Eine Analyse dieser Aussage habe ich im Moment auch nicht parat, aber man muss darüber nachdenken.

Häufig wird behauptet, die größere Gewaltbereitschaft im Osten sei auf die Erziehung in der DDR zurückzuführen. Da ist sicher etwas dran.

(Zurufe von der PDS)

Aber als Generalaussage wäre dies absolut falsch. Denn die Hälfte der Jugendlichen sind bereits kurz vor, während oder kurz nach der Wende geboren und durch das Erziehungssystem der DDR nicht mehr geprägt. Die so genannten Wendekinder haben aber bestimmt auch ein anderes Problem, und zwar ein Problem mit der Freiheit, mit der über Nacht gewonnenen Freiheit, die einerseits eine ungeheuer positive menschliche Entwicklung möglich macht, aber auch Ausgangspunkt für Konflikte ist und natürlich auch völlig neue Bedürfnisse zur Folge hat.

(Zurufe von der PDS)

Warum sind die Genossen von der PDS-Fraktion im Augenblick so unruhig geworden? Ich bin doch gespannt auf die Antworten nachher.

(Beifall bei der CDU)

Was gesagt werden muss, muss gesagt werden, gerade auch zu diesem Thema.

(Vietze [PDS]: Ich bin sehr froh, dass Sie hier gelebt haben und trotzdem nicht gewalttätig geworden sind! - Zurufe von der SPD - Glocke des Präsidenten - Weitere Zurufe des Abgeordneten Vietze [PDS])

Was muss man tun? Kinder und Jugendliche müssen lernen, Konflikte, Stress und Aggressionen gewaltfrei zu bewältigen, Leben lernen heißt zu lernen, mit Konflikten, mit Stress und mit

und zwar verbal zu bewältigen. Das geht nur mit Erziehern - ich meine Eltern, Lehrer - und allen anderen, die selbst gewaltfrei mit Konflikten und Stress umgehen können und die befähigt sind, Fehlentwicklungen bei Jugendlichen zu korrigieren. Oder die Gesellschaft muss Moderatoren in die Erziehung einbringen.

Dabei spielt die Familie, unterstützt durch Familienberatung, eine zentrale Rolle und in zweiter Linie erst die Schulsozialarbeit. Wesentlich sind aber auch die Fortbildung von Lehrern in Psychologie und Soziologie - der Lehrer ist zwar in erster Linie Wissensvermittler, muss aber auch unbedingt moderieren können und braucht dafür Zeit, meine Damen und Herren - sowie stabile, überschaubare Gruppen. Das Nachdenken über den Klassenverband in allen Schulen und über Klassenleitersrunden sei an dieser Stelle gestattet.

Unbeobachtet in Frei- oder Ausfallstunden lässt sich leichter gegen Normen verstoßen. Schulorganisation muss kalkulierbar sein. Denn nicht geplante Bummelstunden regen zu Sachbeschädigung an. Runter mit dem Ausfall in Brandenburg, meine Damen und Herren!

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der SPD)

Druck erzeugt Gegendruck. Druck muss man aushalten.

(Zuruf von der PDS: Wer regiert denn hier?!)

Beides ist richtig. Genau wie eine Arznei. richtig dosiert, dem Kranken hilft. hilft richtig dosierter Druck dem Menschen. Druck auszuhalten muss man erlernen. Dies kann man aber nur von Menschen lernen, die die Lösung ihrer eigenen Probleme beherrschen, die menschlich Anteil nehmen, die pädagogische Arbeit nicht nur auf der Grundlage fachlicher Kompetenz leisten, sondern pädagogische Arbeit auch als Erziehungsarbeit sehen, dies so wollen und auch dazu befähigt sind.

Ich weiß, dass diese Aktuelle Stunde keine abschließenden Antworten geben wird. Die kann es niemals geben. Ich wünsche mir aber, dass Politik die Probleme lindern kann, und ich erwarte, dass der nächste Kinder- und Jugendbericht des Landes Brandenburg das Thema „Gewalt an Schulen" umfassender behandelt und dass die statistisch-empirische Arbeit zur Jugendgewalt intensiviert wird. - Schönen Dank,

(Beifall bei der CDU und vereinzelt bei der SPD)

Ich danke Ihnen. Frau Abgeordnete Hartfelder. - Das Wort erhält die Fraktion der PDS, Herr Abgeordneter Hammer.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst ein Wort zu dem Begriff "Wehrhaftigkeit der Demokratie", der zu diesem Thema gehört. Es schält sich immer mehr heraus, dass wir von der PDS auch ein anderes Menschenbild haben. Wir setzen weniger auf Staat und mehr auf Zivilcourage.

(Beifall bei der PDS - Lachen bei der SPD)

Zweitens haben wir auch ein anderes Konfliktverständnis. Das

lässt sich weder auf Familie noch auf den Staat DDR noch auf Statistik reduzieren.

Ich berichte jetzt aus meiner Praxis als Jugendsozialarbeiter. Eine Schule im Stadtteil Süd von Frankfurt (Oder) wurde der rechten Tendenzen und der Gewalt Anfang der 90er Jahre nicht mehr Herr. Für vier Monate übernahmen ein Kollege und ich die sozialarbeiterische Betreuung. Wichtigste Aufgabe: Wir richteten mit Schülerinnen und Schülern einen Schulklub in einer ehemaligen Hausmeisterwohnung ein. Es handelte sich übrigens um die schwierigsten Schülerinnen und Schüler dieser Schule. Wir betreuten den Klub täglich bis 20 Uhr.

Schon mit dem Ende unseres Engagements reduzierten sich allmählich sowohl die Angebote als auch die Öffnungszeiten. Das Konzept des Anfangs reduzierte sich allmählich auf das Niveau eines Hausaufgabenzimmers. Was denkt ein Jugendlicher, der so etwas erlebt'? - Sei laut, sonst kriegst du nichts! - Die Erfahrung ist, dass sich für Jugendliche, wenn sie ruhig sind, die Angebote in der Sozialarbeit systematisch reduzieren.

(Beifall bei der PDS)

Darüber hinaus erlaube ich mir die Schlussfolgerung: Zwei Streetworker waren in dieser Situation in der Lage, für eine Übergangszeit die Probleme zu regeln, vor denen die Lehrerschaft einer Schule komplett kapituliert hatte.

Wenn ich die Presse der letzten Wochen verfolge, dann nehme ich Jugendliche fast immer als ordnungspolitischen Störfaktor wahr. In unseren Parlamentsdebatten über Kinder und Jugendliche erscheinen sie fast ausschließlich als fiskalisches Problem,

(Beifall bei der PDS)

Das ist nicht sehr ermutigend für Menschen in einer Lebensphase, in der die wichtigsten biografischen Entscheidungen getroffen werden. Das betrifft sowohl Familie und Partnerschaft als auch Ausbildung und Beruf.

Auf Kinder und Jugendliche konzentrieren sich alle Probleme, die wir in der Erwachsenenwelt miteinander haben oder die wir selbst produzieren - auch in diesem Parlament übrigens! Im schlimmsten Fall vollstrecken sie öffentlich Urteile, die in der gesellschaftlichen Mitte gesprochen werden. Stichwort: Fremdenfeindlichkeit.

(Vereinzelt Beifall bei der PDS)

Wo liegen aber die Ressourcen der jungen Menschen? Was unterscheidet Jugendliche von heute positiv von der Jugend früherer Generationen?

Jugendliche von heute sind zunehmend - ich benutze dieses Wort bewusst - resistent gegen aufgesetzt autoritäre Erziehungsansätze. Jugendliche von heute sind zunehmend resistent gegen plakativ moralisierende Formeln. Jugendliche von heute nehmen schneller Abschied von materiell hochfliegenden Träumen als wir. Und Jugendliche von heute spüren relativ schnell, ob sie von einem Erwachsenen von oben herab oder als Partnerin oder Partner angesprochen werden.