Sehr geehrte Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen, um es für die AfD nicht so spannend zu machen, aber Sie haben es schon geahnt. Ich will das Ergebnis vorwegnehmen. Es wird Sie nicht wundern, weil Sie es schon geahnt haben: Wir lehnen die Aufnahme einer Leitkulturklausel in die Thüringer Verfassung ab.
Das Thema „Leitkultur“ ist allerdings ein sehr komplexes Thema, das seit vielen Jahren, nicht erst seit der zehn Thesen von de Maizière, intensiv diskutiert wird. Allerdings hat das Thema durch den Anstieg der Flüchtlingszahlen zugegebenermaßen seit zwei Jahren auch neue Aktualität erhalten.
Auch wenn der Begriff „Leitkultur“ viel bescholten ist, dann ist er doch in unseren Augen ein Synonym für die Beschreibung eines gesellschaftlichen Wertekonsenses.
Man könnte also beim Begriff „Wertekonsens“ bleiben. Auf die Begrifflichkeit kommt es uns letztlich nicht an, zumal der Begriff „Leitkultur“ die Gefahr des absichtlichen Missverstehens in sich trägt, wie wir wahrscheinlich in anderen Redebeiträgen noch sehen werden.
Was ist denn europäischer oder auch deutscher Wertekonsens? Es sind die Werte, die in unserem Grundgesetz beschrieben sind, die aber auch über den Rechtskatalog des Grundgesetzes hinausgehen und dem Zusammenleben unserer freiheitlichen Gesellschaft zugrunde liegen. Das heißt, Leitkultur ist gelebter gegenwärtiger Wertekonsens, Demokratie, Laizismus, Menschenwürde, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Zivilgesellschaft usw.
Welcher Konsens in der Ausformung dieser Grundlage besteht, ist sicher fließend und Veränderungen unterworfen. Es sind im Grunde genommen allgemein anerkannte Verhaltensregeln und Lebensgewohnheiten, wie sie auch de Maizière beschrieben hat. Es ist letztlich dasselbe, was auch dem Begriff der Integration zugrunde liegt: Integration ist gerade nicht Multikulti ohne Grenzen, Integration ist die Einbeziehung in einen sozialen Zusammenhang, was nichts anderes ist, als die Einbeziehung und natürlich auch die Anerkennung unseres Wertekonsenses.
Wer die Gleichberechtigung von Mann und Frau für Teufelszeug hält, wer Gewaltanwendung zur Durchsetzung seines Ehrgefühls für gerechtfertigt hält, ist nicht integriert, er steht außerhalb unseres Wertekonsenses. Integration bedeutet auch Identifikation mit unseren Werten. Wie soll die Integration ansonsten stattfinden, wenn nicht in unserem Wertekonsens? In anderen Ländern ist es Systemintegration oder kulturelle Integration, aber es ist nichts anderes als die Integration in unseren Wertekonsens.
rungen verbunden, sehr wohl besteht, auch wenn man darüber streiten kann, was alles Inhalt eines solchen Konsenses ist oder, was konkret Inhalt solcher sozialen Normen ist. Mit dem letzten Begriff der sozialen Normen wird auch schon deutlich, was von einer Kodifizierung, und sei es auch nur eine allgemein verfassungsrechtliche Regelung, zu halten ist, nämlich nichts. Es handelt sich gerade nicht um rechtliche Regeln, sondern um soziale Normen. Das heißt, ihre Einhaltung kann nicht vorgeschrieben werden, sie kann aber vorgelebt werden.
Jetzt sollten sich die Damen und Herren auf der AfD-Bank angesprochen fühlen: Unsere Kultur sollte vorgelebt werden,
zum Beispiel – und da schaue ich auch bewusst hinüber – unsere Diskussionskultur, die nicht darin besteht, Redner durch Niederschreien am Reden zu hindern, oder es ist die Ächtung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ansichten.
Redner durch Niederschreien am Reden zu hindern, das ist nicht unsere Diskussionskultur, und das sollten Sie sich auch merken.
Oder es ist die Ächtung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ansichten oder gegen Vertreter anderer politischer Ansichten. Solche Werte werden nicht durch Ihren Gesetzentwurf gewährleistet, sondern nur dadurch, dass Sie sie vorleben, dass sie vorgelebt werden, wir uns selbst an diese Werte halten und deshalb deren Einhaltung auch von anderen einfordern können. Nicht das Land hat eine Leitkultur oder einen Wertekonsens zu schützen oder zu fördern, sondern jeder Einzelne hat für diese Werte einzutreten, indem er sie für sich selbst anerkennt und indem er sie anderen vorlebt. Danke schön.
Als Nächster erteile ich Abgeordneter Rothe-Beinlich von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste, ich habe meine Rede zu diesem Tagesordnungspunkt überschrieben mit: Für eine Kultur des Zusammenlebens statt leidiger Leitkulturdebatten.
Es gibt nämlich kaum ein Plenum im Thüringer Landtag, in dem die AfD nicht die Verfassung ändern will. Mit ihrer inflationären Änderungswut soll jetzt also die deutsche Leitkultur eingeführt werden. Ich bin dankbar, dass auch die CDU das nicht mitmacht.
Ich habe mich mal ein bisschen in der Historie umgeschaut: Seit 21 Jahren wird über diesen Begriff mal mehr, mal weniger gestritten. Die Diskussion nahm übrigens 1996 ihren Anfang, als der Politologe Bassam Tibi in einem Aufsatz diesen Begriff prägte und wie folgt formulierte, Zitat: „Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der kulturellen Moderne entspringen und sie heißen: Demokratie, [...] Aufklärung, Menschenrechte und Zivilgesellschaft.“ Danach allerdings wurde die Diskussion diffus. Der damalige „Zeit“-Herausgeber Theo Sommer versuchte sich an einer Debatte über Integration und Kernwerte in Deutschland, indem er meinte – ich zitiere –: „Integration bedeutet zwangsläufig ein gutes Stück Assimilation an die deutsche Leitkultur und deren Kernwerte.“
Nachdem der Begriff durch den damaligen Fraktionsvorsitzenden der CDU im Bundestag – manche erinnern sich, es war Friedrich Merz im Jahr 2000 – in die Politik eingespeist wurde, kam allerdings Polemik in die öffentlich geführte Debatte. Merz nämlich forderte Regeln für Einwanderung und Integration als freiheitlich-demokratische deutsche Leitkultur und wandte sich gleichzeitig gegen eine multikulturelle Gesellschaft. Er bezog sich hierbei ausdrücklich auf Theo Sommer, der sich dies allerdings verbat und die Bezugnahme zurückwies. Er, Sommer, habe sich nur für Integration, aber nicht gegen Zuwanderung ausgesprochen.
Aufmerksamkeit erregte insbesondere die Kritik des damaligen Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland Paul Spiegel an der Verwendung des Wortes „Leitkultur“. Er erklärte nämlich, die erste Silbe setze eine Hierarchie voraus. Der Begriff stieß dann zunehmend auf Ablehnung und wurde als Steilvorlage für die Neue Rechte bezeichnet.
Der Philosoph Jürgen Habermas schrieb – Zitat – : „In einem demokratischen Verfassungsstaat darf auch die Mehrheit den Minderheiten die eigene kulturelle Lebensform – soweit diese von der gemeinsamen politischen Kultur des Landes abweicht – nicht als sogenannte Leitkultur vorschreiben.“
Und unser grüner Bundesvorsitzender Cem Özdemir betonte: Wer unter dem Begriff „deutsche Leitkultur“ den Versuch verstehe, Menschen zu assimilieren, sozusagen um jeden Preis ihre Anpassung an hiesige Lebensverhältnisse fordere, der verkenne die gesellschaftliche interkulturelle Realität in Deutschland.
2005 forderte Bundestagspräsident Norbert Lammert die Fortsetzung der Debatte um die sogenannte Leitkultur, da die erste Debatte vorzeitig abgebrochen worden sei. Sie erinnern sich vielleicht, im Zusammenhang mit dem sogenannten Karikaturenstreit, bei dem im Februar 2006 in muslimischen Ländern mit meist gewalttätigen Protesten und Gewaltaufrufen von fanatischen Muslimen auf die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen reagiert worden war, erneuerte Lammert seine Forderung nach einer Debatte um Leitkultur. Der Streit zeige, dass reiner Verfassungspatriotismus nicht ausreiche, da jede Verfassung von kulturellen Voraussetzungen lebe, die „ja nicht vom Himmel“ fielen. Der Bundestagspräsident führte dabei auch den Begriff „europäische Leitkultur“ ein.
2007 griff der damalige CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla den Begriff erneut auf, um ihn in das Parteiprogramm zu übernehmen. Der Begriff der Leitkultur fand Eingang in die Präambel und Artikel des Bayerischen Integrationsgesetzes von 2016. SPD und Grüne haben in diesem Jahr übrigens Klage beim Bayerischen Verfassungsgerichtshof gegen dieses Gesetz erhoben.
Noch-Bundesinnenminister Thomas de Maizière schrieb im April dieses Jahres in einem Beitrag für „Bild am Sonntag“, er wolle die Debatte neu beleben und stellt zehn Thesen für deutsche Leitkultur vor, worunter er unter anderem das Händeschütteln aufführte. Der Minister wurde daraufhin von mehreren Seiten teils heftig kritisiert. Der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates Olaf Zimmermann erklärte, de Maizière habe mit seinen zehn Thesen für eine deutsche Leitkultur eine gemeinsame politische Initiative für eine kulturelle Wertedebatte verprellt. Die Journalistin Heide Oestreich verwies auf die Werte der freiheitlichen Demokratie, die gerade in der Zulassung anderer Meinungen und der Wertschätzung anderer Kulturen bestehe.
Jetzt gestatten Sie mir, auf einen Beitrag von Heribert Prantl zu verweisen. Er schrieb am 1. Mai in der „Süddeutschen“ unter der Überschrift „Warum de Maizières Leitkultur-Katalog gesellschaftsschädlich ist“, Zitat, „Leitkultur ist kein integrierender, sondern ein polarisierender Begriff, ein spaltendes Kampfwort, ein Wort der Überhebung und der Überheblichkeit; es ist ein Wort, das rechtsaußen zu Juchzern führt. [...] Es darf in diesem Land nicht darum gehen, eine Leitkultur zu propagieren, es muss darum gehen, eine Kultur des Zusammenlebens zu etablieren: Sie heißt Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechte.“
Und die AfD? Warum habe ich wohl diese bisher mit keinem Wort erwähnt? Weil sie natürlich, wie so oft üblich, auf einen Zug aufgesprungen ist, den andere möglicherweise unbeabsichtigt ins Rollen gebracht haben. Wenn jedoch die AfD von Leitkultur spricht, dann wird das Wort „Leit-“ für mich mit „d“
geschrieben. Denn Sie von der AfD führen sich als Eroberer unser aller Kultur auf. Ich sage Ihnen aber in aller Deutlichkeit: Wir lassen uns nicht vorschreiben, was unsere Kultur ist, und wir lassen uns von Ihnen schon gar nicht erobern.
Unsere Kultur ist die der Vielfalt und des Individualismus. Bei der AfD liegt der Leitkulturdebatte nichts anderes als kalkulierter Hass zugrunde; siehe Gauland und dessen Angriff auf die Integrationsbeauftragte Özoguz,
die prompt aus der Höcke-Fraktion, wie durch den Abgeordneten Rudy, Unterstützung fand. „Wir wollen ein Volk der guten Nachbarn sein und werden, im Innern und nach außen.“ Dieses Zitat von Willy Brandt sagt eigentlich alles, was für ein gutes Miteinander wichtig ist. Dabei ist es übrigens völlig egal, ob sich gute Nachbarn und Nachbarinnen die Hand geben, sich umarmen oder einfach nur Hallo, Moin, Grüß Gott oder Salam sagen. Das geht übrigens alles. Eine Leitkultur ist eine Art Verhaltensknigge für den Alltag. Das passt nicht zu einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Darum ist es wichtig, dass Dazugekommene und Alteingesessene gemeinsam ein Miteinander in Vielfalt entwickeln. Nur das führt voran. Die Thüringer Verfassung bietet dafür eine gute Grundlage. Darum besteht keinerlei Anlass, sie zu ändern. Das werden wir auch heute nicht tun. Vielen herzlichen Dank.
Als nächstem Redner der Debatte erteile ich dann erneut dem Abgeordneten Möller von der AfD-Fraktion das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Gäste! Zunächst möchte ich korrigieren: Frau Kollegin Rothe-Beinlich, wir haben in 94 Sitzungen neun verfassungsrechtliche Änderungen beantragt. Das ist ganz weit davon weg, dass wir dergleichen in jeder Sitzung einbringen würden, wie Sie das hier behaupten.
Es mag sein, dass Ihnen dieses Diskussionsthema und dieser Debattenbeitrag nicht gefällt. Das haben wir auch vernommen. Bei der SPD scheint es ähnlich gewesen zu sein. Als ich hier meine Begründungsrede gehalten habe, sind alle echten Sozis verschwunden und der Einzige, der geblieben ist, war Oskar Helmerich.
Entschuldigung, Sie habe ich natürlich vergessen. Das tut mir leid. Das nehme ich zurück. Das entzog sich sozusagen meinem Wahrnehmungsbereich.