Diesem seitens der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vielfach kritisierten Defizit – ich führe hierzu als Beleg nur beispielhaft den DGB-Index „Gute Arbeit“ von 2011 an – helfen wir mit unserem Bildungsfreistellungsgesetz nun endlich, ein Vierteljahrhundert nach Wiedergründung des Freistaats Thüringen, ab.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ein weiterer Punkt ist uns Sozialdemokraten bei unseren bisherigen Initiativen zur Bildungsfreistellung immer wichtig gewesen, und zwar die Rücksichtnahme auf die spezifische Struktur und die Belange der Thüringer Wirtschaft. Auch hierbei entspricht der vorliegende Gesetzentwurf unseren langjährigen Vorstellungen. So sind Unternehmen mit weniger als fünf Beschäftigten von den gesetzlichen Regelungen zur Bildungsfreistellung
generell ausgenommen. Das von den Wirtschaftsverbänden immer wieder gern angeführte Beispiel des kleinen Handwerksbetriebs – wir hatten das gestern Abend auch mehrfach gehört – mit drei Beschäftigten, der die Folgen eines Bildungsfreistellungsgesetzes weder organisatorisch bewältigen noch finanziell verkraften kann, trifft also überhaupt nicht auf die von der Koalition geplante Regelung zu. Zudem haben wir in dem Gesetzentwurf für größere Unternehmen einen weitreichenden Überlastungsschutz berücksichtigt. So kann jeder Arbeitgeber einen Antrag auf Bildungsfreistellung bei dringenden betrieblichen Belangen, insbesondere bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Unternehmens, ablehnen. Darüber hinaus kann Bildungsfreistellung verwehrt werden, wenn bereits ein bestimmter Prozentsatz der Beschäftigten freigestellt worden ist. Ich will Ihnen jetzt nicht wie vorhin jeden Prozentsatz einzeln vorstellen.
Das können Sie bitte im Gesetzentwurf nachlesen, der Ihnen vorliegt. Wichtiger ist mir vielmehr die Feststellung, dass Betriebe zwischen fünf und 25 Beschäftigten faktisch nicht mehr als fünf Freistellungstage im Jahr gewähren müssen und dass es bei Betrieben zwischen 26 und 50 Beschäftigten um maximal 50 Freistellungstage jährlich geht. Was bei einem ohnehin bestehenden jährlichen Urlaubsanspruch von etwa 1.300 bis 1.500 Tagen bei 50 Beschäftigten sicherlich ohne Weiteres verkraftbar ist.
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, es ist deutlich geworden, dass der Gesetzentwurf der Landesregierung den langjährigen bildungspolitischen Intentionen meiner Fraktion voll und ganz gerecht wird. Es wahrt eine kluge Balance zwischen den berechtigten Ansprüchen der Arbeitnehmer auf Bildungsfreistellung und den ebenso legitimen wirtschaftlichen Interessen der Thüringer Unternehmen. Diese Balance ist der SPD wichtig gewesen. Daher freue ich mich auf die weitere Beratung der Novelle im Bildungsausschuss. Frau Muhsal, wir können das alles im Ausschuss klären, die Frage. Danke.
Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Abgeordnete, die Grundlage für den Gesetzentwurf des Bildungsfreistellungsgesetzes ist das Übereinkommen Nr. 140 der Internationalen Arbeitsorganisation, der ILO. Die Bundesrepublik Deutschland hat
dieses Abkommen unterzeichnet und sich damit verpflichtet, die dort niedergelegten Grundsätze in der Bundesrepublik Deutschland umzusetzen. Das war, Herr Wolf, Sie haben es richtig erkannt, 1976. Die Analyse „Weiterbildung und betriebliche Arbeitskräftepolitik“, ebenfalls aus dem gleichen Jahrzehnt, nämlich aus dem Jahr 1974, nennt die Weiterbildung eine wichtige Neuentdeckung. Meine Damen und Herren Abgeordnete, besonders aus den regierungstragenden Fraktionen, die Zeiten ändern sich! 2012 nahmen bereits 56 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland an Weiterbildungen teil, wobei ihr Anteil seit 2007 um 4 Prozent gestiegen ist. Für die AfD-Fraktion sage ich: Bevor man ein 40 Jahre altes Abkommen umsetzt, sollte man darüber nachdenken, ob das Abkommen noch zeitgemäß und sinnvoll ist.
Außerdem: Gibt es denn eine Verpflichtung, das Abkommen hier in Thüringen so umzusetzen, wie Sie es vorschlagen? Ihre Gesetzesbegründung sagt: Ja. Die Bundesregierung sagt: Nein. Im Jahr 2011, auch die Anfrage haben Sie, Herr Wolf, glaube ich, gefunden, wurde von einigen Bundestagsabgeordneten und von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen genau diese Frage nämlich im Rahmen einer kleinen Anfrage im Deutschen Bundestag aufgeworfen. Die Bundesregierung sagte, dass die Mehrheit aller Bundesländer Regelungen zur bezahlten Bildungsfreistellung getroffen hat und dass außerdem zusätzliche Regelungen in den Tarifverträgen vereinbart worden seien. Damit sei die Verpflichtung erfüllt.
Herr Ministerpräsident – er schwirrt schon wieder irgendwo rum –, ich weiß nicht, ob sein Draht zu Frau Merkel so gut ist, wie ich es in der Presse immer höre; im Zweifel hätte er, wenn er sie schon nicht von Ihnen, Herr Wolf, kriegt, die Informationen vielleicht auch von Frau Merkel auf dem kurzen Dienstweg besorgen können.
Also, es besteht keine weitere Verpflichtung zur Umsetzung des Abkommens. Ist das Bildungsfreistellungsgesetz dann wenigstens sinnvoll? Auf den ersten Blick, das gebe ich ja zu, lädt die Thematik dazu ein, den sozialen Heilsbringer zu spielen und wieder mal jeden zu beglücken, der nicht rechtzeitig die Flucht antritt. Das ist ja bei manch einer Altpartei eine bewährte Taktik. Aber Sie haben sich auch darüber hinaus ein paar Gedanken dazu gemacht. In Ihrer Gesetzesbegründung lese ich, dass in anderen Bundesländern zwischen 0,37 und 1,48 Prozent der vom Anwendungsbereich des Gesetzes Betroffenen die Freistellung auch in Anspruch nimmt.
Zwischen 0,37 und 1,48 Prozent! Im Klartext heißt das: Sie erschaffen ein Bürokratiemonster, das sich ganz langsam durch Thüringen frisst, ein Bürokratiemonster, das unsere Arbeitgeber belastet, das unseren Freistaat und unsere Kommunen belastet,
wie Sie sogar verständlicherweise in den Gesetzentwurf reinschreiben, weil Sie es müssen, und das auch – das sei nur nebenbei erwähnt, denn mit den Personalmehreinstellungen in Ministerien nehmen Sie es ja nicht so genau – unser Bildungsministerium mit Mehraufwand und damit auch mit Kosten belastet.
(Zwischenruf Abg. Adams, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wenn es keiner macht, ist es kein Bürokratisierungsmonster! Was erzählen Sie denn?)
Aus grüner Sicht – nicht in Ihre, Frau König, in die grüne Sicht – kann ich das verstehen, das ist eben echte Randgruppenpolitik, das kann man der Solidargemeinschaft ruhig mal abverlangen.
Rein rational sage ich dazu: Die Thüringer Arbeitnehmer haben generell ein völlig normales Interesse an Bildung und Weiterbildung. Gesellschaftspolitische Bildung können sie in ihrer Freizeit umsetzen – auch wenn ich nicht unbedingt wie Herr Wolf der Meinung bin, dass sie zur Fußballweltmeisterschaft unbedingt freinehmen müssen –, ebenso wie sonstige kulturelle Bildung oder ihre sogenannte „ehrenamtsbezogene“ Bildung. Und beruflich werden sie doch jetzt schon von ihrem Arbeitgeber weitergebildet. Jedes Thüringer Unternehmen investiert doch jetzt schon in die Aus- und Weiterbildung seiner Mitarbeiter. Und solche Weiterbildungen verschaffen einem Arbeitnehmer in der Regel nicht nur konkrete Fähigkeiten, sondern sie bilden ihn auch in seiner Persönlichkeit weiter, sodass er selbst und auch seine Arbeit von seinem erweiterten Horizont profitiert.
Jedes Thüringer Unternehmen hat doch ein ureigenes Interesse daran, seine Mitarbeiter weiterzubilden.
Herr Tischner, Sie haben die Belastungen ja ganz gut vorgerechnet – einige jedenfalls –, die auf die Damen und Herren Unternehmer zukommen; eins haben Sie nicht erwähnt, nämlich den Mindestlohn und die Belastungen dadurch. Und mir ist nicht klar, warum die Thüringer Unternehmen schon wieder
zusätzlich zu der ganzen Bürokratie des Mindestlohns nun ein neues Bürokratiemonster nicht nur abarbeiten, sondern auch noch finanzieren sollen. Das bleibt für mich ein rot-rot-grünes Rätsel, das auch durch die Zwangsbeglückung einer Bevölkerungsgruppe,
die die Leistungen nicht mal in Anspruch nehmen will, allerhöchstens einen hauchzarten rosa Anstrich bekommt.
Die AfD-Fraktion ist für eine sachorientierte Politik, die die Interessen der Beteiligten zusammenführt. Rechtlich gesehen hat der Freistaat Thüringen keinerlei Interesse an der Umsetzung des Bildungsfreistellungsgesetzes so, wie Sie es vorschlagen. Und sachlich gibt es auch keine Begründung, warum Thüringer Unternehmen, der Freistaat und die Kommunen mit diesem Bürokratiemonster belastet werden sollen. Letztlich haben auch die potenziell Beglückten keinerlei Interesse an der Leistung.
Wir sprechen uns gegen diesen Gesetzentwurf aus. Ich würde Sie auch persönlich bitten, meine Worte noch einmal zu überdenken und vielleicht von einer Ausschussüberweisung abzusehen.
Letztendlich, Frau Ministerin Klaubert, Sie haben vorhin betont, was die Landesregierung alles getan hat, um diesen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen. Sie haben diskutiert, Sie haben darum gerungen, Sie haben das Vorhaben im Koalitionsvertrag verankert und Sie haben es innerhalb der ersten 100 Tage geschafft. Wenn dieses Bürokratiemonster Ihr Einstand für die nächsten fünf Jahre Regierungsarbeit sein soll, dann sage ich nur: Thüringen, gute Nacht!
(Zwischenruf Abg. König, DIE LINKE: Das haben wir alles schon einmal schneller ge- hört, Frau Muhsal!)
Vielen Dank, Frau Muhsal. Das Wort hat nun die Abgeordnete Rothe-Beinlich für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste, warum streiten wir hier so emotional um ein Bildungsfreistellungsgesetz? Der Zugang zu Bildung ist eine der wichtigsten Gerechtigkeitsfragen des 21. Jahrhunderts, davon sind wir überzeugt. Warum braucht es also ein Bildungsfreistellungsgesetz endlich auch in Thüringen? Ich kann Ihnen das sagen: Wir haben darauf fast 25 Jahre warten müssen, obgleich es immer wieder Vorstöße gegeben hat, ein solches Gesetz einzuführen.
Was bringt dieses Gesetz? Es bringt eben keine Gängelung und auch kein Bürokratiemonster, sondern es bringt ein Stück weit mehr Freiheit,
Freiheit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Freiheit, sich weiterzubilden, fortzubilden in Bereichen, die ihnen wichtig sind. Ich mache das mal an einem anderen Beispiel auf, warum ich es so wichtig finde, diesen Rechtsanspruch, um den es geht, zu haben, auch wenn Ihnen das vielleicht ein bisschen weit hergeholt erscheint. Ich weiß noch sehr genau, was es bedeutet, um Reisefreiheit zu kämpfen. Reisefreiheit, weil mir ein Land vorgeschrieben hat, dass ich nicht reisen kann, wohin ich will.