Protocol of the Session on November 25, 2016

Schulpsychologie, wie im Landtagsbeschluss Drs. 7/432 vorgesehen, voranzubringen.“

Die Begründung erfolgt mündlich.

Wir fahren fort. Der Einbringer wird der Abg. Herr Diederichs sein. Sie haben das Wort, Herr Diederichs.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Abgeordnete! Ich darf mich zunächst bei der Kollegin Frau von Angern für ihre Kleine Anfrage in der Drs. 7/161 bedanken; denn seitdem wissen wir, dass die Zahl der Schulschwänzer mindestens seit dem Jahr 2014 wieder stetig angestiegen ist.

Schulverweigerung oder Schwänzen oder Schulabsentismus sind Schlagworte, hinter denen sich weit mehr verbirgt als nur die bloße Freude, dem tristen Schulalltag für ein paar Stunden zu entfliehen.

In der ersten Reaktion wird Schwänzen von Eltern und auch von manchen Lehrern zunächst einmal als Fehlverhalten bewertet. Dort meint mancher, der Schüler schwänzt aus Vergnügen und stellt damit die Autorität von Elternhaus und Schule infrage.

Seit vielen Jahren wissen wir, dass die Zahl derjenigen Schüler, die aus unterschiedlichen Gründen unserem Schulsystem den Rücken kehren, stetig ansteigt. Bekannt ist, dass in der Anonymität der Ballungsgebiete mehr geschwänzt wird als auf dem flachen Land mit dem hohen Maß an sozialer Kontrolle und dem hohen Risiko, als Schwänzer enttarnt zu werden.

Schulschwänzen scheint ein harmloses Vergehen zu sein, doch es ist etwas, was lebenslange Folgen haben kann. Die Kinder haben ein höheres Risiko, straffällig oder drogensüchtig zu werden oder lebenslang auf Hartz IV angewiesen zu sein.

In Niedersachsen ist man 2011 bereits mit drastischen Maßnahmen gegen das Fernbleiben vom Unterricht vorgegangen. Um die gestiegene Anzahl von Schulschwänzern einzudämmen, hat das Amtsgericht Hannover ein nach eigenen Angaben bundesweit einmaliges Projekt gestartet. Wenn Kinder dort mehr als 20 unentschuldigte Fehltage haben und massive Probleme in den Familien vorliegen, dann können die Jugendrichter den Eltern das Sorgerecht in schulischen Angelegenheiten entziehen.

Die Zahlen, die auf die Anfrage der Kollegin von Angern hin vorgelegt wurden, beziehen sich nur auf den tatsächlich vollstreckten Arrest. Wenn man aber weiß, was alles bis zur Vollstreckung des Beuge- oder Ersatzarrestes passieren und welche Schulschwänzerkarriere man dafür erst einmal hinlegen muss, dann wird einem klar, dass hieran nur die Spitze des Eisbergs sichtbar wird.

Aus den Medien haben wir die Zahl von rund 300 000 Fällen von registrierten Schulschwänzern bundesweit bei hoher Dunkelziffer. Es gibt aber auch eine auf Einzelerhebungen und Stichproben beruhende Schätzung des Bundministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, wonach 10 % der 12 Millionen Schüler in Deutschland den Schulbesuch über Wochen und Monate verweigern. Das wären summa summarum rund 1,2 Millionen Schulschwänzer mit unterschiedlicher Intensität. Obwohl nur ein kleiner Anteil davon wirklich zum Dauerschwänzer wird, ist Schulverweigerung ein Massenphänomen mit offenbar steigender Tendenz.

Schulverweigerung ist eine Ordnungswidrigkeit. Im Idealfall wirken Schule und Elternhaus zusammen, um das Problem zu beheben. Das ist bei Weitem aber nicht immer so. Viele Eltern erfahren die Fehlzeiten ihrer Kinder erst aus dem Zeugnis.

Wie läuft das in Sachsen-Anhalt ab? Nach schulischen Ordnungsmaßnahmen kommen zunächst Geldstrafen oder Sozialstunden. Erst wenn diese uneinbringlich sind oder nicht abgeleistet werden, kommen Beuge- oder Ersatzarrest in der Jugendarrestanstalt in Halle infrage. Hierzu sage ich eines: Schulschwänzer haben nichts in einer Anstalt zu suchen, in der Kriminelle einsitzen; sie gehören dort nicht hin.

Doch was bedeutet das in Wirklichkeit? - Dieser Beuge- und Ersatzarrest ist nichts anderes als eine staatlich sanktionierte Fortsetzung der Schulschwänzerei des Unterrichtsverweigerers. Was passiert in der Jugendarrestanstalt? - Außer Zeitvertreib nichts. Vor allem gibt es dort keinen Unterricht.

Die Mädchen und Jungen oder die Jugendlichen, die dort eingeliefert werden, verbringen ein paar Ferientage in einer anderen Umgebung, so kann man es sagen. Sie werden voll versorgt und be

treut, werden unterhalten und lernen neue Leute kennen - nicht immer die besten, wie wir wissen. Es ist wie in einem Ferienheim, nur dass diese Unterbringung grundsätzlich außerhalb der Sommer- und Weihnachtsferien, wenn es also noch wehtun würde, passiert. Es gibt hier vieles, nur nicht das Entscheidende, nämlich Unterricht. Mit anderen Worten: Dort kommen die Schulschwänzer mit allem Möglichen in Kontakt, nur nicht mit Mathe, Deutsch, Physik, Biologie usw.

Ein Großteil der hier anwesenden Abgeordneten ist wie wir ebenfalls gegen eine Arrestlösung. Deshalb schlägt die AfD-Fraktion die Einführung eines Jugendhilfeinternats vor. Bei der Zielgruppe für das von uns geforderte zentrale Jugendhilfeinternat handelte es sich im Jahr 2015 um immerhin 166 Jugendliche. Sicher ist bis jetzt nur, dass die Anzahl der Schulschwänzer für 2016 höher liegt.

Wenn wir die Tendenz der von Ihnen, Frau Kollegin von Angern, abgefragten Zahlen fortschreiben, dann wird es 2016 deutlich mehr als 200 Beugearrestfälle geben. Künftig soll diese Zielgruppe den Zwangsaufenthalt in dem von uns vorgeschlagenen Jugendhilfeinternat ableisten.

Damit das Ganze einen Erziehungscharakter erhält, sollte das Internat eine Art geschlossene Abteilung bekommen, in der aber ebenfalls Unterricht erteilt wird. Der größere Teil des Jugendhilfeinternats wird eine offene Einrichtung der Jugendhilfe sein.

Hier werden jene Schulpflichtigen untergebracht, denen unterhalb der Stufe des Beugerechts, welche eine Maßnahme der Hilfe zur Erziehung ist, wie es wörtlich in § 12 Jugendgerichtsgesetz heißt, die auf Anordnung eines Richters angewiesen wird. Das kann auch eine Reaktion auf Schulschwänzen sein, weil notorisches Schulschwänzen immer auch eine Form der Verwahrlosung ist.

Eine dritte Gruppe bilden künftig die Schulverwiesenen, die nach § 44 Abs. 4 Nr. 4 des Landesschulgesetzes auf das Jugendhilfeinternat überwiesen werden könnten. Diese Überweisung an eine Schule der gleichen Schulform ist eine Maßnahme der Schule in Zusammenarbeit mit der zuständigen Schulbehörde. Damit die Überweisung an das Jugendhilfeinternat für die Masse der Schulschwänzer möglich bleibt, wird im offenen Zweig des Jugendhilfeinternats Unterricht der Sekundarstufe 1 erteilt. Nach einer uns vorliegenden Studie der Fachhochschule Erfurt entstammt der Löwenanteil der Dauerschwänzer dieser Altersgruppe. Ergänzt werden soll die obligatorische Beschulung mit einem freiwilligen psychologischen Angebot.

Wenn wir uns die Vorschläge der Politik der letzten Jahre ansehen, dem damals noch nicht so großen Problem der Schulschwänzer beizukommen, können wir nur sagen: Das ist gescheitert.

Gescheitert sind jene, die auf Beugearrest verzichten wollten, wie auch jene, die gegen diesen Verzicht waren; denn beides setzt die Schulpflicht nicht durch. Keine Beschulung während des Arrests ist keine Lösung.

Flankierend halten wir übrigens die französische Lösung für zielführend. Unter Präsident Sarkozy wurde in Frankreich die Schulpflicht mit der Streichung des Kindergeldes erzwungen. Das kann in Deutschland nur ein Bundesgesetz. Damit lassen wir uns aber Zeit bis zum nächsten Jahr. - Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD)

Vielen Dank. Für die Landesregierung - es gibt keine Nachfragen - spricht der Minister Herr Tullner. Sie haben das Wort. Bitte.

Frau Präsidentin, vielen Dank. Das war jetzt doch dynamischer, als ich dachte. - Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Umgang mit Schulverweigerern bewegt dieses Haus in regelmäßigen Abständen. Dabei geht es meist vorwiegend um die Ultima Ratio des Jugendarrests. Häufig mangelt es in diesen Diskussionen allerdings an klaren Abgrenzungen.

Das Schulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt regelt in den §§ 36 bis 44a die Schulpflicht für Kinder und Jugendliche. Die Verantwortung für den Schulbesuch liegt bei den Sorgeberechtigten - § 43 Abs. 1. Schulpflichtverletzungen sind entsprechend § 64 Abs. 1 des Schulgesetzes eine Ordnungswidrigkeit und können mit einer Geldbuße geahndet werden - § 84 Abs. 2. Zuständige Verwaltungsbehörde sind die Landkreise und kreisfreien Städte. Das wiederum ist in Absatz 3 desselben Paragrafen dokumentiert. Zwar können Jugendarreste verhängt werden, bei der Vollstreckung derselben gegen Schulverweigerer handelt es sich aber nicht um ein Zuchtmittel, weil die Schule geschwänzt wurde, sondern um eine Ersatzmaßnahme für eine nicht gezahlte Geldbuße oder nicht erbrachte Sozialstunden.

(Zuruf von Siegfried Borgwardt, CDU)

Bereits in der letzten Legislaturperiode haben sich das damalige Kultusministerium und das damalige Justizministerium mit dieser Thematik offenbar sehr intensiv auseinandergesetzt. Daraus ergab sich die Änderung des Runderlasses - Herr Poggenburg, Runderlass, Sie haben mich vorhin gefordert, jetzt wäre einer da, Sie müssten nur zuhören - „Umgang mit Schulverweigerung“, der auch mit dem Landesschulamt und den Jugend- bzw. Schulverwaltungsämtern der Landkreise und

kreisfreien Städte abgestimmt und von meinem

Vorgänger zum 14. Januar 2015 in Kraft gesetzt wurde. Das damalige Kultusministerium hat mit dem geänderten Runderlass vom 14. Januar 2015 den bisherigen Verfahrensablauf umgestellt und der Kooperation von Schule und Jugendhilfe zwingend den Vorrang vor der Anzeige als Ordnungswidrigkeit eingeräumt.

Im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung ist nunmehr immer abzuwägen, ob tatsächlich alle Möglichkeiten der Jugendhilfe ausgeschöpft wurden, und das Ordnungswidrigkeitsverfahren darf eben nur die Ultima Ratio der Durchsetzung der Schulpflicht sein.

(Beifall bei der LINKEN - Swen Knöchel, DIE LINKE: Sehr vernünftig!)

Aber bevor der Beifall bei der LINKEN zu heftig und emotional wird - auch das gehört zur Wahrheit dazu: Wir brauchen diese Ultima Ratio, wenn wir das Thema der Schulverweigerung nicht auf die leichte Schulter nehmen wollen. Wir müssen akzeptieren, dass es eine kleine Gruppe von Schulverweigerern gibt, die wir mit Geldbußen oder Arbeitsstunden eben nicht erreichen.

Kommen wir nun zum konkreten Antrag der Fraktion der AfD: Sie schießen ein wenig oder deutlich über das Ziel hinaus, je nachdem, wie man sich dazu positioniert. Die zwangsweise Unterbringung in einem Internat ist nicht nur mit dem Schulgesetz nicht vereinbar, sie widerspricht schlicht dem Grundgesetz.

(Zustimmung von Swen Knöchel, DIE LIN- KE, Prof. Dr. Angela Kolb-Janssen, SPD, und Sebastian Striegel, GRÜNE)

Von daher können Sie auch in Berlin nicht nur Gesetze ändern, Sie müssen - wenn ich Ihrer Logik folgen darf - noch ein wenig weiter gehen und verfassungsändernde Mehrheiten im Bund organisieren - ein Vorhaben, das dann doch ein wenig übertrieben ist, wenn Sie bei dieser Positionierung gestatten.

Nach Artikel 6 des Grundgesetzes dürfen Kinder nur dann von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. Hiervon kann bei einem Schulschwänzen nicht vordergründig die Rede sein.

Noch einmal, denn Wiederholung gehört zu den pädagogischen Mitteln, auch in diesem Hohen Hause: Jugendarrest wird nicht als ein Zuchtmittel verhängt, weil die Schule geschwänzt wurde, sondern als Ersatzmaßnahme für eine nicht gezahlte Geldbuße.

Um es abschließend noch einmal klar zu sagen: Den Vorrang pädagogischer Mittel im Kampf gegen Schulverweigerung wird niemand in Zweifel ziehen, zumindest nicht in Kenia. Wir sind derzeit

in Sachsen-Anhalt mit dem Programm „Schulsozialarbeit - Schulerfolg sichern“ gut aufgestellt. Ein Grund, sich darauf auszuruhen, ist das nicht. Wir werden weiter daran arbeiten, die Schulverweigerung zu bekämpfen. Der Jugendarrest als letzte Sanktionierung ist und bleibt dabei ein Instrument. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister. Ich sehe keine Anfragen. - Somit können wir in die vereinbarte Fünfminutendebatte eintreten. Die erste Debattenrednerin ist für die SPD-Fraktion Frau Prof. Dr. KolbJanssen. Bitte, Sie haben das Wort.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Antrag der AfD ist eine Mogelpackung.

(Zurufe von der AfD)

Auf den ersten Blick scheint sie eine simple Lösung für das Problem der Schulverweigerer gefunden zu haben. Ich formuliere es einmal mit den Worten von Wilhelm Busch: „Also lautet der Beschluss, dass der Mensch was lernen muss. Nicht allein das Abc bringt den Menschen in die Höh“. Und sie liefert gleich auch die Konsequenz mit - frei nach Wilhelm Busch -: „Wenn mir aber was nicht lieb, weg damit! ist mein Prinzip.“ Wer die Schule schwänzt, kommt aufs Internat - eine freundliche Formulierung für eine geschlossene Einrichtung der Jugendhilfe, die der AfD-Antrag in der Konsequenz fordert, geschlossene Heime, wie es sie bisher in Sachsen-Anhalt aus gutem Grund nicht gibt.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU, bei der LINKEN und bei den GRÜNEN)

Abenteuerlich ist dann die vorgeschlagene Umsetzung für eine solche Lösung. Den Jugendgerichten soll die Möglichkeit eröffnet werden, bei Schulverweigerung den ständigen Internatsaufenthalt als Hilfe zur Erziehung nach § 12 JGG in Verbindung mit § 34 SGB VIII aufzuerlegen. Offensichtlich sollen damit Schulschwänzer kriminalisiert werden; denn, meine Damen und Herren, das Jugendgerichtsgesetz greift nur dann ein - das steht ganz deutlich in § 1 dieses Gesetzes -, wenn der Jugendliche eine Verfehlung begeht, die nach den allgemeinen Vorschriften mit Strafe bedroht ist.

Soweit die Gesetze entsprechend geändert werden sollen - auch das könnte man aus dem Antrag schließen -, muss ich darauf verweisen, dass es sich hierbei um Bundesgesetze handelt, für die der Landtag nicht zuständig ist.

Die AfD geht davon aus, dass Schulverweigerung eine Form der Verwahrlosung ist; so haben wir es eben gehört. Schulverweigerung kann, wie wir wissen, ganz unterschiedliche Ursachen haben. Sie entsteht durch ein Zusammenspiel unterschiedlicher Einflüsse, oft am Ende einer längeren Entwicklung. Oftmals ist es auch die Steigerung einer Mitarbeitsverweigerung, das Fernbleiben vom Unterricht und dann Schulschwänzen bezogen auf einzelne Stunden oder auch ganze Tage.